DER LEIDENDE GERECHTE
von H.H. Prof. Severin Grill SOCist
In den Prophezeihungen des Alten Testamentes werden uns ergreifende Leidensgestalten vorgeführt: Der Martyrer Ps 21, 17: "Sie haben meine Hände und Füsse durchbohrt, und es jammern alle meine Gebeine". Der leidende Gottesknecht Is 53,5: "Er ist verwundet um unserer Missetaten willen, zerschlagen um unserer Sünden willen." Der ausgerottete Gesalbte Dn 9,27: "Nach zweiundsechzig Wochen wird der Gesalbte ausgerottet werden." Die christlichen Exegeten haben alle diese Stellen einstimmig auf Christus bezogen, der die Menschheit durch sein Leiden und Sterben erlöst hat. So sagt der hl. Irenäus: "Durch diese Schilderungen wird verkündet, daß Christus gepeinigt worden ist, wie auch David sagt: ich habe gelitten. David ist aber niemals gefoltert worden, Christus aber wohl, als der Befehl zur Kreuzigung erging (Erweis der apostolischen Verkündigung). Chrysostomus: Christus hat nicht wegen einer eigenen Sünde gelitten, denn er war schuldlos, aber er wurde für die Übel der Welt zur Sühne hingegeben. (Quod Christus sit Deus, Cp, 4). Der hl. Bernhard sagt: "Christus war ein Morgen- und Abendopfer. Ein Morgenopfer, als ihn Maria und Josef bald nach seiner Geburt im Tempel darbrachten. Ein Abendopfer als er sich selbst in der Fülle des Lebens am Kreuz darbrachte (Sermo 3 in Purif. B. Mariae. Pl 183,370).
Diese Auslegung der Leidensstellen von Christi Leiden und Sterben ist von protestantischen Exegeten in Zweifel gezogen worden. Während der konservativ gläubige E.W. Hengstenberg in seiner "Christologie des Alten Testamentes" (I,2. Berlin 1929. S. 321-364) noch an der christologischen Deutung festhielt und die Einwände widerlegt, die gegen die Christusbeziehung erhoben werden, nehmen heutige protestantische und leider auch katholische Exegeten eine zweifelnde Haltung an. Vom Ps. 21 erklärt H. Gunkel: "Die messianische Erklärung des 21. Psalmes ist endgültig dahingefallen, seitdem man erkannt hat, daß die Psalmen überhaupt keine Weissagungen enthalten, und daß die Idee eines leidenden Messias dem Alten Testament auch sonst fremd ist" (Die Psalmen. S. 94). "Diese Idee widerspricht aller christlichen Überlieferung, und es gibt auch jüdische Theologcn, die einen leidenden Messias von einem triumphierenden unterscheiden" (J. Brierre. Les propheties messianiques dans la litterature juive. Paris 1933. S. 44-46). Ebenso will man den Gottesknechtliedern alle Christusbeziehung absprechen: "Was von den Gottesknechtliedern zu halten sei, entbehrt noch jeder Sicherheit" (S. Herrmann: Probleme alttestamentlicher Hermeneutik. 1960. S. 354).
Das ist falsch und ein Verstoß gegen die wahre Wissenschaft, weil die Beziehung auf Christus und die Kirche (Christus totus quoad caput et Corpus) alle Schwierigkeiten löst, wenn man sich vor Augen hält, daß der Begriff "Gottesknecht" bald individuell eine Person, bald kollektiv eine Gemeinschaft bedeutet, und weil es unwissenschaftlich ist, die Zeugnisse der alten Theologen einfach zu ignorieren. H. Gressmann schrieb im Preussischen Jahrbuch 1917, S. 190: "So uneins die Forscher sind über die rätselhafte Gestalt, die hier verkündet wird, so eins sind sie dafür, daß Jesus nicht gemeint sein kann"... Der Gottesknecht muß vielmehr eine geheimnisvolle Größe sein, eine Gestalt des Glaubens und der Phantasie, kein realer Mensch mit Fleisch und Blut, geschweige denn, das armselige Volk" (Der Messias, 1929. S. 306). Auch an der Leidensgestalt Dn 9726, dem ausgerotteten Gesalbten, wollen die freisinnigen Exegeten keine Christusbeziehung gelten lassen. Sie denken wieder (da das Buch Daniel aus der Hebräerzeit stamme) an den getöteten Hohepriester Onias III. Leider verhalten sich auch katholische Exegeten der Neuzeit sehr reserviert (Nötscher, Daniel 1953. S. 49) oder nehmen Onias III als den Ausgerotteten an und stellen es frei, ihn als Vorbild Christi zu betrachten (Göttsberger). Der Durchbohrte bei Zach. 12,10 darf nicht Christus sein. So sagt Marti: "Es handelt sieh um die Tötung eines Unschuldigen, und zwar sind es Regierung und Volk, die sich des Justizmordes schuldig gemacht haben. Wer der Märtyrer ist, fragt sich... Rubikam wird nicht Unrecht haben, wenn er auf dem Hohepriester Onias hinweist, der das Haupt der strenggläubigen Partei war, aber im Jahre 170 v. Chr. abgesetzt wurde und im Jahre 170 durch gedungene Mörderhand gefallen ist." (Dodekaprophton 1904. S. 447).
Gegenüber solchen Aufstellungen sagen wir: Der Märtyrer Ps. 21, der leidende Gottesknecht Is 53, der ausgerottete Gesalbte Dn 9,26 und der Durchbohrte und Beklagte Zach 12,10-14 sind ein und derselbe, der Erlöser Jesus Christus, der uns durch sein Leiden und Sterben erlöst hat. Von einem leidenden Erlöser spricht übrigens auch die Vergleichende Religionsgeschichte, die uns Gestalten vorführt, die durch Leiden erlösen wie Tamuz, Horus, Attis, Adonis, Balder u.s.w. (A. Jeremias, Die außerbiblische Erlösererwartung in den östlichen Religionen, 1938). Gläubige Katholiken müssen gegen eine unchristlich gewordene Exegese protestieren, die auf unsere jungen Theologen losgelassen wird, und die den Glauben nicht aufbaut, sondern in Zweifel zieht und zerstört.
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