WURZEL, STAMM UND KRONE
von H.H. Dr.theol. Otto Katzer
V.
Die Regelung des Verhältnisses des Menschen zu Gott ist so alt wie der Mensch selbst. Wir haben schon betont, daß wie im Paradies, so auch nach der Vertreibung, bereits von den ersten Menschen Opfer Gott gebracht wurden, wie verschieden nun auch der Zweck war. Immer sollte es, wenn es auch nicht immer war, in der ersten Reihe ein Dank- und Lobopfer zuerst sein. Um in die außerbiblische Welt, die vorpatriarchalische, einen Einblick zu gewinnen, wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem merkwürdigen Volk der Sumerer zu. Wie Alfred Jeremias schreibt, ist hier der Prophet "Künder des göttlichen Willens und Schauer der Erlösung im äonischen Geschehen. Er ist älter als Priester und König. Der sumerische Priesterkönig (eine Parallele haben wir bei Melchisedech, Bem. d. Verf.) fühlt sich in erster Linie als Prophet. Gudea heißt: der Berufene. Die äonische Schau befähigt den Propheten, das Schicksal als Ganzes zu schauen und Ja zum ganzen unteilbaren Geschehen zu sagen. Er ist Heilsprophet. Seine Tragik liegt darin, daß er als Unheilsprophet erscheinen muß, solange er im Unheil, in der Drehung der Fluchzeit, die notwendige Stufe zur Erlösung sehen muß..... Für ihn darf es nur ein Ziel geben: das Herabkommen des Königtums Gottes auf die Erde. Innerhalb des äonischen Verlaufs kann das unter Umständen für ihn bedeuten: das Schwert zu bringen an Stelle des Friedens. Der sumerische Priesterkönig, der sich als 'der große Mensch' verantwortlich weiß für die Ordnung der Welt, wie der chinesische Urkaiser, sollte nicht nur Prophet, sondern von Haus aus auch Priester sein." (1)
Dies alles ist unbedingt notwendig zu wissen, wenn wir die Gestalt Melchisedechs wie auch die ganze Geschichte des Alten Testamentes richtig einschätzen wollen.
Den Sumerern war es ganz klar, daß der "Sündenfall" eine Störung in die ganze Schöpfung gebracht hat, "daß dem polarischen Wege Gottes ein zweiter Weg entgegentritt, der umgekehrt, antipolarische läuft. Daher geht der äonische Lauf, der Weltordnung bringen soll, durch den Wechsel von Licht und Finsternis, durch Fluchzeit zur Segenszeit. Es wird auf den Erlöser gewartet, der die antipolarische Drehung abstellt und durch Überwindung der Trübung dem lichten Wege Gottes ungehinderte Bahn gibt.
Diese Lehre bringt der große Mythos (der Sumerer) zur Anschauung. Er ist eine originale Geistesschöpfung allerersten Ranges. Aus der exzentrischen reinen Geistes-welt kommt von der Urmutter-Madonna der Heiland, in dem Gott und Mensch eins sind. Das himmlische Geschehen läuft in einer logischen Motivreihe, die gleichsam die Dogmen der Lehre zur Anschauung bringt, indem die am Himmel geschauten Vorgänge als Heilsoffenbarung angesehen werden:
1. Das Erlöserkind wird von der Madonna geheimnisvoll geboren. 2. Sein Kommen wird durch kosmische Zeichen und jubilierende Prophetien erläutert. 3. In der Kindheit des Heilands spiegelt sich das kommende Heilbringer-Geschick. Das Kind wird verfolgt und geborgen. 4. Im Mysterienalter steigt der Heilbringer hervor, durch kosmische Weisheit sich kundgebend. 5. Der Heiland kämpft wider die antipolarische Macht und siegt und leidet und stirbt (fährt in die Unterwelt). 6. Der Siegende oder Leidende und Auferstehende feiert seinen Triumph: Er erhält die Leitung der neuen Welt im neuen Äon; er empfängt den 'neuen Namen'; er feiert himmlische Hochzeit." (2)
Der ganze Alte Orient war voll von Erwartung eines Erlösers, wenn auch seine Gestalt nicht immer jene Reinheit aufweist, wie wir sie bei den Sumerern relativ antreffen. Immer und immer wieder wird bei außerordentlichen Personen die Frage gestellt worden sein, die Johannes der Täufer aus dem Kerker durch seine Jünger an den Herrn richtete: "Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir einen anderen erwarten?" (Luk 11, 2-3)
Mit dieser Gestalt eines solchen Erlösers war nun auch Abraham und seine Gemeinde vertraut. "Höher als alle 'sumerischen' und 'eranischen' Reformationen steht die Schauung der israelitisch-prophetischen Religionsgemeinde. Sie wollte nicht Volksreligion, sondern Weltreligion sein. Abraham galt ihr als 'Vater der Gläubigen'. Abraham war nach seiner geistigen Heimat nicht semitischer Babylonier, sondern Sumerer. Seine Heimat Ur in Chaldäa gehörte, wie die ... Ausgrabungen erwiesen haben, zu den südbabylonischen Städten, in denen sich eine sumerische Renaissance am längsten erhalten hat. Die religiöse Gemeinde der Abrahamsleute erhob sich über alle andern Reformationen durch die absolute Sicherheit, in der sie auf Grund von Geschichtserfahrung von Gott redet und die Erwartung einer Königsherrschaft Gottes, die nicht nur Naturfrieden, sondern Seelenfrieden und Welterneuerung bringt. Über die israelitisch-prophetische Welt führt der wurzelhaft von Sumer ausgehende Weg zu Christus und seiner neuen Wirklichkeit. In der Christuswirklichkeit kristallisiert sich das kosmisch-äonische Geschehen." (3)
Die bereits dem Vater Abrahams von Gott anvertraute Mission bekam nach seinem Tode einen konkreten Ausdruck in der von Abraham gegründeten Gesellschaft. Seine und ihre Aufgabe, die Aufgabe der Kirche des Alten Testamentes, war: Den Glauben an einen wahren Gott inmitten einer dem Polytheismus immer mehr verfallenden Gesellschaft aufrechtzuerhalten, nach diesem Glauben zu leben, wie sehr auch die moralische Verkommenheit der Umwelt fortgeschritten sein möchte, und zuletzt sich und die Umwelt auf das Kommen des Erlösers vorzubereiten. Wir sehen, daß die Kirche des Neuen Testamentes dieselbe Aufgabe hat, und wie schwer es ist, sie zu erfüllen, verspüren wir leider nur zu sehr. In einer dem Atheismus bereits verfallenen Welt, die obendrein sich zu einem moralischen Sumpf gestaltet hat, soll der Christ seinen Glauben retten mit seinen vom Geiste Gottes getragenen Sitten die Umwelt veredeln und sich auf das Kommen des Erlösers bei der hl. Messe, der hl. Kommunion, im Augenblicke des Todes und zuletzt beim Weltgericht vorbereiten.
Es ist eine Irreführung, wenn angenommen wird, die Kirche Abrahams sei ein völkisches, ethnologisches Gebilde gewesen. Ganz entschieden das Gegenteil. Die Familie Abrahams sollte zwar das Rückgrat dieses wunderbaren Körpers bilden, der zu seiner vollkommensten Blüte in der Kirche des Neuen Testamentes sich gestalten sollte, seine Glieder jedoch bildeten, wie sie auch weiter bilden, alle, die entschlossen waren und sind, mit Gottes Hilfe die geistige Erneuerung bei sich und anderen zu erwirken. Die Beschneidung war ein rein religiöser Akt (Gen 17,11). Die schon den Sumerern bekannte Skizze der kommenden Erlösung, welche für Abraham von Gott noch mehr konkretisiert wurde, ging als ein kostbares Palladium vom Vater auf den Sohn über, und so sehen wir wie Isaak es an Jakob überreicht, wie es in Ägypten untertaucht, nach beinahe fünf hundert Jahren wieder auf Anordnung Gottes von der Hand Moses emporgehoben wurde, um endlich nach erlebnisreichen Jahren am Kalvarienberg aufgepflanzt zu werden.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein zu schildern, wie es zur Trennung der Geister gekommen war, und wie bei der Mehrheit der Familie Abrahams, der geistigen, zuletzt das völkische Element das geistige verschattete, wie wir es leider heute bei der Kirche des Neuen Testamentes erneut erleben müssen, und es zur Bildung eines ethnologischen Körpers gekommen war, einer Nation, die aber, eben weil dies gegen die Anordnung und Absicht Gottes war, nur ihre Herren wechselte, bis zuletzt sich ihrer und der Hauptstadt Jerusalem die Römer bemächtigten. Infolgedessen wurde auch das Bild des Erlösers allmählich entstellt und verzerrt. Der Welterlöser aus der Herrschaft der Sünde sollte zu einem politischen Nationalbefreier werden, dessen Hauptaufgabe das Abschütteln der römischen Oberherrschaft war, und die Gründung einer Weltherrschaft. Allerdings war die Zahl derer, von denen der Heiland sagen konnte: "Seht, ein wahrer Israelit, an dem kein Falsch ist." (Joh 1,47) äußerst gering, wie wir es ja bei der Trennung der Geister am Kalvarienberg plastisch vor den Augen haben.
Von allen wurde ein König erwartet, wie auch in Christus ein König kommen sollte, doch die meisten sahen und sehen Sein Reich in dieser Welt. Wenige konnten und können mit Nahanael sagen: "Meister, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel." (Joh 49). Die meisten möchten in ihm am liebsten den Präsidenten der Vereinigten Staaten der Welt sehen, und haben für Seine Worte: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh 18,36) überhaupt kein Verständnis.
Wohl keine Menschengruppe auf Erden hat die Gestalt ihres vermutlichen Erlösers so märchenhaft ausgestaltet, wie das Volk Israel. Nach dem bereits Gesagten dürfte es klar sein, daß der verschiedenen Einstellung entsprechend auch die so sehr, aber aus verschiedenen Gründen, ersehnte Gestalt ausgeschmückt wurde. Das völkische Element, wie innig, ja nicht selten verzweifelt, sich das "Marana tha! - Herr, komme" doch schon hören ließ, müssen wir hier übergehn.
Durch die Einwirkung des Heiligen Geistes wurde die bereits den Sumerern in erstaunlicher Klarheit bekannte Skizze des Erlösers, bei den Patriarchen und Propheten und durch sie bei der Familie Gottes präzisiert, so daß die Antwort, welche Jesus der Gesandschaft des Johannes gab, eine untrügliche Bestätigung der Erwartungen der Zeiten geben mußte. "Jesus antwortete innen: 'Geht hin und kündet Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf, Armen wird die frohe Botschaft verkündigt. Wohl dem, der an mir keinen Anstoß nimmt!" (Matth 11,4-6)
Um aber tiefer in die Geisteswelt einzudringen, müssen wir noch einmal nach Sumer zurück. "Der Sumerer betet, 'das Angesicht niedergebeugt', in der Erwartung, daß die Gottheit 'das Angesicht auf ihn richten wird'. Das Gebet ist wesentlich Bittgebet. Es ist wertlos, solange es nur 'Betteln' bedeutet, zur Erfüllung des Eigenwillens. Der religiöse Wert des Gebetes steigert sich innerhalb der Weltreligion in dem Maße, indem die Erkenntnis aufsteigt, daß der 'Weg Gottes' gut ist, daß sein Wille zu Ehren kommen muß. 'Der blöde Mensch weiß den Weg Gottes nicht', sagt der sumerische Beter. Wer den Weg Gottes versteht, weiß, daß er im äonischen Lauf, 'der das Böse von der Erde vertreiben soll', zur Rettung kommt. Aus der erfahrenen Errettung kommt der Dank. Ein Bußpsalm der sumerischen Beter hat das Stichwort: 'Ich will preisen den Herrn der Weisheit' und sagt gegen Ende: '(Ihr Menschen) soviele ihr seid, lobet Marduk.'
Das Opfer ist nach einer sumerischen Auffassung, die nicht auf der Bahn der höchsten Lehre steht, ein Speisen der Gottheit. Im Sinne der höchsten Lehre, will es den Weg unmittelbar zu Gott hin verschaffen, durch Sühnebegehren im Blut, durch radikale Verminderung des Infizierten. Das vollkommenste Opfer liegt im freiwilligen Tode für die anderen.
Das sakramentale Mahl ist Gemeinschaftsmahl mit der Gottheit und zugleich Gemeinschaftsmahl der die Gottheit verehrenden Menschen. Essen (und Trinken) beim sakramentalen Mahle ist Ernährung mit Gott selbst. Alle magischen Vorstellungen, die mit dem Mahle verbunden werden, sind Abkehr von der alten Lehre. Die 360 Brote beim sumerischen Tempelritus werden die gleiche Bedeutung gehabt haben, wie die israelitischen 'Brote des Angesichts' ('Schaubrote'). Der Essende 'schmeckt' die Gottheit, indem er sie zugleich 'schaut'. 'Sie schauten Gott, indem sie aßen und tranken' (2 Mos 24,11). Das heilige Mahl ist also nicht Geist in Stoff verwandelnde Magie, sondern Geist im Stoffe darstellendes Symbol, und sein Ziel ist nicht die letzte Verkörperung, sondern die erste Schauung." (4) Im Volke Gottes ging diese religiöse Einstellung noch weiter. Das Essen als solches wird bereits immer zum religiösen Akt. Seine Formel lautet: Die im Dienste Gottes verbrauchte Energie soll durch die in der Speise (vornehmlich im Brote) erhaltene Energie Gottes für den weiteren Gottesdienst ersetzt werden! Dies können wir leicht aus den vor dem Speisen an Gott gerichteten Segnungen und Gebeten herauslesen. So wird über dem Brot folgendes Gebet verrichtet: 'Gelobt seiest Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der hervorbringt Brot aus der Erde'. Ähnlich lautet der Segensspruch über den Wein: 'Gelobt seiest Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, Schöpfer der Frucht des Weinstockes'.
Unsere so "fortschrittliche Zeit hat allerdings schon längst die richtige Einstellung zum Speisen verloren, und mehr denn zum Sinneskitzel als zur wirklichen Ernährung gestalten sich seine Mahle. Man lebt nämlich, um zu essen, ißt aber nicht um zu leben, noch weniger für Gott. Mit den Folgen hat nun die medizinische Wissenschaft ihre Arbeit. Daß die unrichtige Einstellung nun Ursache vieler, wenn nicht der meisten Schwierigkeiten auf diesem Gebiet ist, wollen wir nicht begreifen.
Etwas mehr Aufmerksamkeit müssen wir dem Gottesdienst am Sabbath widmen, wie ja das ganze Leben eines wahren Israeliten Gottesdienst sein soll. Auf einem mit weißem Tuch gedeckten Tisch, auf dem wenigstens zwei Leuchter sind, werden zwei Brote gelegt und ein Kelch mit Wein gestellt. Die Brote werden mit einer Serviette zugedeckt. Schön ist die Symbolik. Es wird angenommen, daß das Manna, welches die Brote vertreten, oben und unten mit Tau bedeckt war, deshalb die zwei weißen Tücher. Zwei Brote sind am Samstag, weil am sechsten Tag (Freitag) zweimal so viel Manna gesammelt werden mußte.
Bedenken wir nun die Vorbereitung auf das Mahl bei den meisten mündigen Übermenschen, ob sie nun katholisch sind oder nicht. Ähnlich den Tieren im Stalle - man ärgere sich bitte nicht über diesen Vergleich - stürzen sie sich gierig auf den Futtertrog. Wie herrlich klingt dagegen das Vorbereitungsgebet bei den Kindern Israels des Alten Testamentes. Die Kinder Gottes wollen in himmlischer Gesellschaft speisen: "Gegrüßet seid ihr, ihr Engel, die ihr dienet, ihr Engel des Höchsten, der da regieret, als ein König aller Könige, des heiligen gebenedeiten Gottes". Dies wird dreimal gesagt. Dann wird weitergebetet: "In eurem Ankommen (werdet uns zum) Friede, ihr Engel des Friedens, ihr Engel des Höchsten, der da regiere", als ein König aller Könige, des heiligen gebenedeiten Gottes. (Auch dies dreimal) Segnet mich zum Frieden, ihr Engel des Friedens, ihr Engel des Höchsten, der da regieret als ein König aller Könige, des heiligen gebenedeiten Gottes. (Abermals dreimal) In eurem Ausgehen (werdet uns) Frieden, ihr Engel des Friedens, ihr Engel des Höchsten, der da regieret als ein König aller Könige, des heiligen gebenedeiten Gottes." (5)
Beim Segen über das Brot, wo das eine über das andere gelegt wird, hebt der Hausvater das eine in die Höhe und macht ein Zeichen über das andere, legt darauf die Hände über die zwei Brote, spricht den Segen und teilt alsdann davon aus. Unsere ungeduldige Zeit, die nicht genug schnell zum Speisen kommen kann, wird vielleicht die Symbolik, welche wir anführen wollen, als etwas überspitzt betrachten. Dem denkenden Menschen wird hier aber sehr viel Stoff zum Nachdenken geboten. Die zwei über das Brot gelegten Hände mit dem kleinen Messer, mit welchem ein Zeichen über das Brot gemacht wird, geben zusammen den Namen Gottes. "Die zwei Hände erinnern an die zwei 'He' die Form der langen Brote das 'Waw', das kleine Messer das 'Jod', was zusammen die Buchstaben des Namens Gottes ausmacht, der gepriesen sei in Ewigkeit." (6) Was tun vor dem Essen wir? Ist es auch für uns ein Gottesdienst, wie das ganze Leben ein Opferleben sein soll?
(Fortsetsung folgt.)
Anmerkungen: (1) Alfred Jeremias, Der alte Orient, 32,1,1932, S. 249 Hinrich, Leipzig. (2) op. cit. 20. (3) op. cit. 21-22. (4) op. cit. 29. (5) Aufrichtig Deutsch redender Hebräer, Bodenschatz, Bamberg, 1756, II, 145 ff. (6) op. cit. 148.
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