Die Irrtümer des Johannes Rothkranz
von
Christian Jerrentrup
Johannes Rothkranz hat sich in einem Beitrag in der Zeitschrift "Kyrie
eleison" (Januar-März 2003, S. 79-128) auch zum Thema "Fichtes
freimaurerische Aufklärungsphilosophie" geäußert (ebd., S. 83-93). Ich
sehe mich gezwungen, einige der darin enthaltenen historischen Fehler
zu korrigieren, und erlaube mir am Schluß eine Anmerkung zur
philosophischen Systematik.
I. HISTORISCH
a) Fichte und die Freimaurerei
Rothkranz behauptet:
"Fichte [ist] bereits nach kurzer Zeit aus der Loge wieder ausgetreten.
[...] [E]r war als deutscher Patriot lediglich mit dem politischen
Internationalismus der Maurerei nicht einverstanden" (ebd., S. 88).
Rothkranz gibt für diesen Grund von Fichtes Logenaustritt keine Quellen
an.
Richtig ist:
Fichte trat am 4. Juli 1800 aus der Loge aus ("J.G.
Fichte-Gesamtausgabe" der Bayerischen Akademie der Wissenschaften,
hrsg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt
1962 ff., III, 4, S. 271). Der Grund läßt sich eindeutig benennen:
"Fichte [hatte] späterhin versucht [...], die Wissenschaftslehre in die
Logen einzuführen, und [war] darüber mit ihnen zerfallen" ("J.G. Fichte
im Gespräch", hrsg. von Erich Fuchs, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978 ff.,
Band 4, S. 337 f.) – Fichte wollte die Loge zum Werkzeug der
Wissenschaftslehre machen, was die Vernichtung der Idee der
Freimaurerei zur Folge gehabt hätte. Die Loge durchschaute das sofort:
"Feßler hob nun sein Haupt empor und zeigte den Abgrund, an den
Fichte's Wissenschaftslehre die Brüder hätte führen können."
("Gespräch", Band 6.2, S. 527). Die Folge ist bekannt: "[Bruder Fichte]
band [die Maurerschürze] ab, steckte sie in die Tasche, und – kam nie
wieder in eine [Loge]" (ebd.) – Rothkranzens Begründung eines
"politischen Internationalismus" als Grund für Fichtes Logenaustritt
erweist sich als pure Fabelei!
b) Fichte und der Atheismus
Rothkranz behauptet:
"[Man suchte Fichte] in Jena offiziell wegen 'Atheismus' (!!!) zu
belangen". (ebd., S. 89). – "In dieser Hinsicht ist das Fichte' sche
System wesentlich atheistisch." (Stöckl, Lehrbuch der Geschichte der
Philosophie, Mainz 1870, von Rothkranz zustimmend zitiert, ebd., S. 92).
Richtig ist:
Fichte hatte in seiner Schrift "Über den Grund unseres Glaubens an eine
göttliche Weltregierung" im Herbst 1798 in völliger Übereinstimmung mit
der christlichen Lehre Gottes reine Geistigkeit gegen das empiristische
Gottesbild verteidigt, das Gott zu einer besonderen (obersten) Substanz
– und damit zu einem Teil der Natur – macht. Einen solchen "Gott" gebe
es nicht ("unmöglich, und widersprechend", Akad.-Ausg. I, 5, S. 356).
An der Existenz des transzendenten Gottes besteht hingegen kein
Zweifel: "Es ist daher ein Misverständnis, zu sagen: es sey
zweifelhaft, ob ein Gott sey, oder nicht. Es ist gar nicht zweifelhaft,
sondern das gewisseste, was es gibt, ja der Grund aller anderen
Gewißheit." (ebd., S. 355 f.). Das ist das klassische Argument des hl.
Anselm in neuer Formulierung. Dieser Gott erschließt sich auch nicht
durch "Demonstrationen" (ebd., S. 348), sondern durch das kategorische
Sollen ("moralische WeltOrdnung", ebd., S. 354). Für Empiristen, die
nur "Materie" und "Natur" kennen, ist diese Einsicht schlechterdings
nicht nachvollziehbar. So behauptete die im November 1798 anonym
erschienene Schrift "Schreiben eines Vaters an seinen studierenden Sohn
über den Fichtischen und Forbergschen Atheismus" (Akad.-Ausg. I, 6, S.
121-138), Fichte sei Atheist (ebd., S. 129). Die Schrift täuscht vor,
die Beschuldigung stamme aus dem evangelisch-theologischen Milieu. In
Wirklichkeit geht sie auf den Kreis um den Berliner Aufklärer und
Illumina-ten Friedrich Nicolai zurück, ist höchstwahrscheinlich von ihm
selber verfaßt (ebd., S. 15-24). In Weimar wurde in der Folge die
Entlassung Fichtes aus dem Lehramt vor allem von den Illuminaten Goethe
und Voigt aktiv vorangetrieben und durch Herzog Karl August – ebenfalls
Illuminat – am 29. März 1799 verfügt ("Gespräch", Band 2, S. 62 ff.).
Der unberechtigte Atheismusvorwurf hielt sich jedoch mit unglaublicher
Hartnäckigkeit. Das "Geschrey Fichte sey ein Atheist war allgemein, ich
glaube daß es noch itzt Menschen giebt die auf diesen Glauben sterben"
(Marie Johanne Fichte, Fichtes Gattin, im Jahre 1817, über Frühjahr
1799, ebd., S. 17). "Die Beschuldigung des Atheismus gegen ihn war
bewußt vorgeschoben." ("Appellation an das Publikum. Dokumente zum
Atheismusstreit", hrsg. von Werner Röhr, Leipzig 1987, S. 494). "Mit
dem historisch eingebürgerten Namen 'Atheismusstreit' ist diese
Auseinandersetzung einseitig und ungenau bezeichnet, in einer Weise,
die ihr Wesen verdeckt und die der verfolgenden Reaktion nur genehm
sein konnte" (ebd., S. 491). Unter "Reaktion" sind genau die o.g.
Illuminatenkreise zu verstehen. Aus dem "Schreiben eines Vaters ..."
haben dann alle Autoren der historischen Kompendien, Enzyklopädien und
populären Einführungen abgeschrieben und nachgeplappert. Die
Fichte-Forschung hat die Sache in der Akademie-Ausgabe endgültig
richtiggestellt – für den, der sich informieren will. Alle anderen –
z.B. Johannes Rothkranz – betreiben weiterhin Illuminatenpropaganda.
c) Fichte chronologisch
Rothkranz behauptet:
"Auch daß er seine skeptizistische Philosophie nach dem Austritt aus
der Loge sogar noch weiter radikalisierte, so daß man ihn in Jena
offiziell wegen 'Atheismus' (!!!) zu belangen suchte, woraufhin er
schleunigst nach Berlin flüchten mußte, hat uns Dr. Heller noch nie
enthüllt" (ebd., S. 88 f.)
Richtig ist:
Fichte trat am 4. Juli 1800 in Berlin aus der Loge aus (Akad.-Ausg.
III, 4, S. 271), die Atheismusanklage gegen den noch in Jena weilenden
Fichte wurde am 27. Dezember 1798 erhoben ("Gespräch", Bd. 6.1, S.
316), die Übersiedlung Fichtes von Jena nach Berlin begann am 3. Juli
1799 (Akad.-Ausg. III, 3, S. 390). – Also nach seinem Logenaustritt in
Berlin im Juli 1800 wird Fichte in Jena 1798 angeklagt (!), um dann von
dort nach Berlin überzusiedeln (!!). – Arbeitet Rothkranz in einer
beschützenden Werkstätte?
II. ZUR PHILOSOPHISCHEN SYSTEMATIK
Wenn Philosophiehistoriker des 19. oder 20. Jahrhunderts in Unkenntnis
des genauen Sachverhalts behaupten, das "Fichte'sche System [sei]
wesentlich atheistisch" (Stöckl, zit.nach Rothkranz, ebd., S. 92) –
dann Friede ihrer Asche. Wenn Rothkranz diesen Unfug im Jahre 2003
immer noch daherplappert, ist er unentschuldbar, weil er sich
informieren könnte und es trotzdem nicht tut: informieren in der großen
Fichte-Akademie-Ausgabe und den Begleitpublikationen, in den
systematischen Schriften von Gueroult, Lauth, Pareyson und Widmann, den
Monograhien von Janke, den Einführungen von Baumanns und Jacobs, den
Festschriften und Tagungsberichten, den Fichte-Studien und nicht
zuletzt den instruktiven Einleitungen der Meiner-Ausgaben der
Philosophischen Bibliothek.
Was für eine Philosophie man wähle, hängt eben davon ab, was für ein
Mensch man charakterlich ist. Den Menschen Rothkranz und seine
Gewissenlosigkeit in punkto "Fichte" haben wir bereits kennengelernt.
Eine Kritik dessen, was er als "Fichte'sche Philosophie" dem Leser
zumutet, erübrigt sich. Der ernsthafte Leser kann sich bei o.g. Autoren
zuverlässig informieren. Rothkranz kann man nur raten, sich in
seine "zeitlos gültige aristotelisch-thomistische Philosophie" (S. 83)
zu vertiefen und im übrigen von Fichte und der Wissenschaftslehre die
Finger zu lassen.
Unbekanntes aus dem Fichte-Nachlaß
– Magister Johannes zum Abschluß seiner Freimaurer-Aufklärungs-Studien gewidmet –
"Dieser Mann hatte durch ein seltenes Naturspiel die bekannte Oefnung
nicht da, wo sie andere haben, sondern im Gesichte, gerade an der
Stelle, wo bei den gewöhnlichen Menschen der Mund ist, auch konnte ein
gewöhnlicher Kenner, ausgenommen in dem Falle, da sie sich eröfnete
oder schloß, diese Oefnung für einen wirklichen Mund halten. Dabei war
dieser Mann beinahe sein ganzes Leben hindurch mit einem hartnäkigem
Durchlaufe, und orgiösem Stuhlgange behaftet, so daß er auch jetzo,
nachdem alle übrigen sich erleichtert hatten, noch immer fortfuhr, eine
ungeheure Menge von Anekdoten auf die sich gestaltende und
zusammenziehende Masse zu verrichten. Plözlich erblikte dieser in ihr
die Gestalt einer Oefnung, die er für seines seeligen Freundes wiederum
belebten Mund hielt, und hörte aus derselben Töne hervorgehen, die er
als die Worte vernahm: laßt uns nun die Denkfreiheit weiter verbreiten.
Entzükt fiel er darüber her, und wuchs in einem langen Kusse, und in
einer untrennbaren Umarmung fest damit zusammen. Es war allerdings des
seeligen Gestalt, ganz so, wie sie bei seinem Erdenleben gewesen, die
sich immer deutlicher entwikelte, aber er war verkehrt erwacht, und es
war keinesweges der vordere Mund, den der Freund so inbrünstig küßte. —
Indessen dehnten und rekten sich die zwei fest umschlungnen Heroen aus
über das ganze Land, die Umrisse ihrer Glieder verschwanden, so wie sie
selbst, und es blieb an ihrer Stelle bloß eine liebliche Aufklärung
übrig." (Akad.-Ausg. II, 5, S. 451) |