PRINZIPIEN MITTELALTERLICHER PAPSTABSETZUNGEN
von Michael Wildfeuer
Der Satz, daß man dem Papst als dem Stellvertreter Christi auf Erden gehorchen müsse, gehört zu den Grundwahrheiten des katholischen Glaubens und wird (bzw. wurde) von jedem katholischen Schulkind gelernt. Er ist auch ganz richtig, hat aber nur unter der Voraussetzung Sinn, daß ich weiß, wer Papst ist. Dazu ist eine besondere Erkenntnisleistung notwendig, von der sich die Katholiken meist allzu leichtsinnig dispensieren. So sagte mir neulich ein älterer, sehr frommer Mann sinngemäß folgendes: "Wir haben uns daran gewöhnt, gute und sichere Päpste (1) zu haben, und haben vergessen, daß es auch schon ganz andere Zeiten in der Kirche gegeben hat," - Zeiten, in denen es nicht ohne weiteres klar war, ob ein rechtmäßiger Papst regiert oder ob Sedisvakanz herrscht, oder (im Falle mehrerer schismatischer Prätendenten) welcher der legitime Pontifex ist.
Dies zu erkennen, ist nur aus dem Geist Jesu Christi, d.h. aus der Erkenntnis der Wahrheit selbst möglich. Denn der Papst hat seine Autorität nicht aus sich, sondern aus der Wahrheit. Sie allein ist und gewährt Rechtfertigung, und was sie nicht rechtfertigt, kann keine Gültigkeit haben. Deshalb sind auch alle päpstlichen Dekrete an der Wahrheit zu messen.
Der vorliegende Aufsatz (den ich in 1. Linie nicht für unsere Zeitschrift schrieb, sondern als Seminararbeit machen mußte) soll die Frage klären, welches die Prinzipien mittelalterlicher (2) Papstabsetzungen sind und in welchem Verhältnis die dabei verwendeten, z. T. schaudererregenden Methoden - die katholische Kirche wird hier für jeden, der nicht genau hinschaut und streng unterscheidet, zum Stein des Anstoßes - zum katholischen Glauben und zu ihrem Anspruch die allein wahre Kirche zu sein, stehen.
Mitlaufende geht aus dieser Arbeit hervor, daß auch die Gläubigen früherer Zeiten selbständig denken mußten, oft nur unter Anstrengung die Legitimität eines Inhabers der Cathedra Petri erkennen konnten und in nicht wenigen Fällen gehalten waren, sie abzustreiten und deshalb eine Papstabsetzung durchzuführen. Deshalb wird diese Arbeit (mit einigen Änderungen) hier veröffentlicht.
Die Frage nach den Prinzipien mittelalterlicher Papstabsetzungen hat zwei Seiten: Es muß nämlich zuerst geklärt werden, was unter dem scheinbar so einfachen Begriff der Papstabsetzung überhaupt zu verstehen ist. Dies ist eine kirchenrechtlich-systematische Frage. Nach welchen Prinzipien dagegen eine Papstabsetzung speziell im Mittelalter stattgefunden hat, also eine historisch-faktische Erörterung, bildet den zweiten Teil. In einem dritten Teil wird schließlich der aus diesen beiden Sichten sich ergebende Gegensatz gelöst.
Mit der Frage, was überhaupt unter einer Papstabsetzung zu verstehen ist, sind wir schon mitten in der Schwierigkeit der ganzen Sache: Der Papst ist das sichtbare Oberhaupt der katholischen Kirche, als solches ist er notwendig ihr oberster Richter. Daraus folgt, daß er von niemand gerichtet, also auch von keinem menschlichen Gericht abgesetzt werden kann. Dies bestätigt folgende Formel, die uns als 'Symmachianische Fälschung' am Beginn des 6. Jahrhunderts erstmals begegnet: "Prima sedes a nemine judicatur." ("Der oberste Stuhl wird von niemandem gerichtet.") (Wohlgemerkt, dieser Grundsatz ist aus dem Begriff 'Papst' gefolgert. Die Fälschung besteht nicht im Inhalt, sondern darin, daß der Ursprung dieser Formel - irrtümlich oder betrügerischerweise - einem Konzil von Sinuessa des Jahres 303 und einer Constitutio Silvesters I. zugeschrieben wird. Doch ist deswegen ihr Inhalt nicht falsch, wie ein einfaches Beispiel zeigt: Auch wenn ich die Entdeckung des Pythagoreischen Lehrsatzes Mozart zuschriebe, so würde dies doch nichts an der Richtigkeit dieses Lehrsatzes ändern.)
Wie ist dann aber überhaupt eine Papstabsetzung möglich? Vernehmen wir dazu den Theologieprofessor F. Kober: "In der bisherigen Darstellung ist uns überall der Grundsatz begegnet, daß nur Derjenige befugt sei, das Amt zu entziehen, welcher dasselbe ursprünglich verliehen hat. ... (Dieses) Prinzip findet auch auf den Papst direkte Anwendung und die Frage, wer berechtigt sei, ihn seines Amtes zu entkleiden, ist nach dem erwähnten, für alle Kirchendiener gleichmäßig geltenden Grundsatz zu entscheiden. Bei der Besetzung des heiligen Stuhles bestimmen die Wähler bloß die Person , welche nunmehr die höchste Würde der Christenheit tragen soll, das Amt selbst aber wird dem Gewählten von Gott übertragen, mithin kann ihm dasselbe kein Mensch, sondern nur Gott wieder entziehen." (3) Es ist evident, daß eine Person nur solange Papst sein kann, als sie die Bedingungen erfüllt, die dieses Amt mit sich bringt. Insbesondere muß sie selbst katholisch sein, denn ein Nicht-Katholik (etwa ein Häretiker) ist nicht Glied der Kirche, a fortiori nicht deren Oberhaupt. Eine Person also, die die Voraussetzungen für das Papstamt schon vor der Wahl nicht erfüllt hat, ist nie in Wahrheit, sondern nur scheinbar Papst geworden, oder sie hat zwar die Voraussetzungen erfüllt und ist rechtmäßig Papst geworden, ist aber im Lauf ihres Pontifikates, etwa durch Irrglauben, aus der Kirche ausgeschieden, so ist sie damit in Wahrheit, d. h. vor und von Gott, der päpstlichen Würde enthoben, d. h. abgesetzt, wenn auch vor den Menschen der falsche Schein noch bestehen mag. (Wie das Gebet Jesu für Petrus - "Ich habe für dich gebetet, daß dein Glaube nicht wanke" - zu verstehen und mit der menschlichen Freiheit, in Sünde (auch in die Sünde der Häresie) fallen zu können zu vereinbaren sei, und ob es vielleicht - entgegen meiner bisherigen Annahme - bedeutet, daß eine Person, einmal rechtmäßig Papst geworden, nicht mehr vom rechten Glauben abweichen könne, ob also vielleicht der genannte 2. Fall als unmöglich ausgeschlossen werden muß, ist mir nicht klar und muß weiter untersucht werden.)
Will die katholische Kirche aber die wahre Kirche sein, was sie seit ihrem Bestehen für sich in Anspruch genommen hat, dann muß sie diesen Trug aufdecken und beseitigen, d. h. sie muß den Scheinpapst als einen solchen erkennen, ihn seines Scheines entkleiden und sich von ihm trennen, und dies heißt wiederum, sie muß ihn absetzen. (4) Hören wir dazu wieder F. Kober: "Wenn der Inhaber des hl. Stuhles in Häresie verfallen sollte, so hat er sich selbst aus der Mitgliedschaft der Kirche ausgeschlossen, kann also auch nicht ihr Oberhaupt sein. Der Ausspruch des Concils, daß der Häretiker sein Amt verwirkt habe, ist keine Deposition, sondern nur die Erklärung, der Tatbestand der Häresie liege vor, der Papst habe sich selbst aus der Kirche ausgeschlossen und seiner erhabenen Würde beraubt." (5) Was Kober hier vom häretischen Papst sagt, gilt einsichtigerweise von jedem, der die Papstbedingungen nicht erfüllt. Eine Papstabsetzung durch ein Konzil ist also eine Deklaration dessen, daß eine Person des Petrusamtes enthoben ist, da sie die Bedingungen dieses Amtes nicht (bzw. nicht mehr) erfüllt, sie ist aber nicht diese Enthebung selbst. In diesem Sinn ist auch der Zusatz "nisi deprehendatur a fide devius", ("außer wenn er als vom Glauben abweichend erkannt wird"), der "die ganze Geschichte des Rechtssatzes 'Prima sedes a nemine judicatur' ('Der oberste Stuhl wird von niemandem gerichtet' - Anm. d. Verf.) begleitet hat" (6) zu verstehen. Damit ist allgemein-kirchenrechtlich der Grund angegeben, warum ein Papst abgesetzt wird.
Zu den Prinzipien der Papstabsetzung gehört aber nicht nur der Grund, sondern auch die Antwort auf die Frage, von wem und auf welche Verfahrensweise ein Papst abgesetzt werden muß. Dies läßt sich nach dem Gesagten leicht zeigen: Es leuchtet unmittelbar ein, daß eine so bestimmte Papstabsetzung nur durch Glieder der Kirche, also durch eine Versammlung von Rechtgläubigen durchgeführt werden kann, da Nicht-Rechtgläubige eben als solche über Orthodoxie und Legitimität ein falsches Bild haben. Wie eine derartige Versammlung bei einer Papstabsetzung zu verfahren hat, liegt auf der Hand: Erstens muß sie zweifelsfrei feststellen, ob und aus welchen Gründen der angeklagte Papst in Wahrheit nicht (mehr) Oberhaupt der Kirche ist und zweitens hat sie dies öffentlich zu proklamieren. Soviel ist vom Kirchenrecht aus zur Papstabsetzung überhaupt zu sagen.
Blickt man nun mit diesem kirchenrechtlichen Begriff von Papstdeposition, der sich aus dem Begriff 'Papst' konsequent auf diese Weise ergibt, auf die von Zimmermann dargebotenen Ereignisse der Papstgeschichte, so ist man zunächst völlig verwirrt und meint, daß die 34 von ihm behandelten Papstabsetzungen, wie sie sich konkret in der Geschichte ereignet haben, mit dem Kirchenrecht so gut wie nichts gemeinsam haben (jedenfalls zum großen Teil).
Doch zeigt sich einer näheren Prüfung der von Zimmermann geschilderten Vorgänge bald, daß hier ein ganz anderer Begriff von Papstabsetzung zugrunde liegt. Zimmermann betrachtet sie nicht von der rechtlichen, sondern nur von der historisch-faktischen Seite, wie er selbst in der Einleitung sagt: "Sie (die folgenden Studien) wollen als historische Arbeit verstanden werden und beschräken sich bewußt auf eine quellenmäßige Darstellung des historischen Tatbestandes...") Da er leider nicht definiert, was er unter Papstabsetzung versteht, kann ich dies nur aus den Ereignissen die er unter diesen Begriff subsumiert, rückerschließen. Nach dem eben gebrachten Zitat und aufgrund dieser Rückerschließung ergibt sich, daß er unter dem Begriff 'Papst' nicht nur Personen faßt, die in Wahrheit das Petrusamt innehaben, sondern auch solche, die sich mit einem mehr oder minderen gelungenen Schein als Päpste ausgeben oder ausgeben lassen, ohne es in Wirklichkeit zu sein. Dementsprechend faßt er Papstabsetzung in einem allerweitesten Sinn und begreift darunter jedwede - rechtmäßige wie unrechtmäßige - Aberkennung des Pontifikates und jedwede - moralische wie faktische (physische, gewaltsame) , zeitweilige wie endgültige Entfernung eines legitimen oder illegitimen (wirklichen oder nur vorgeblichen) Papstes aus dem Pontifikat. (8) Darunter fällt also nicht nur die - gerechtfertigte oder ungerechtfertigte - Verurteilung durch ein Gericht, sondern auch die gewaltsame Vertreibung oder Ermordung eines Papstes; denn auch dadurch wird ein - wirkliches oder scheinbares - Pontifikat beendet.
Da wir in diesem Abschnitt mit Zimmermann die Sache nur historisch und damit empirisch betrachten, sind auch die Prinzipien nur empirisch eruiert. Wie oben im ersten Abschnitt erörtere ich sie nach den zwei Fragen:
1) Aus welchen Gründen wurde ein Papst abgesetzt? 2) Von wem und auf welche Weise wurde die Deposition durchgeführt?
Ad 1): Am häufigsten und als schwerstwiegende Gründe werden genannt: Häresie, Simonie und Invasio.
Häretisch ist, wer vom rechten Glauben abweicht. Simonist ist, wer mittels Geld ein geistliches Amt, hier das Petrusamt, erkauft. Invasor ist, wer aus unredlichen Gründen und mit unredlichen Mitteln nach der Papstwürde strebt.
Auf wen einer dieser Gründe zutraf, galt in jedem Fall für absetzungswürdig. Meist aber wurden noch weitere, erschwerende oder präzisierende Gründe vorgebracht:
Nichtbeachtung der kanonischen Vorschriften bei der Wahl Begehen eines Sakrilegs Nequitia (Nichtsnutzigkeit, Liederlichkeit) Ambito (Ehrgeiz) Adulterium (Dies lag vor, wenn ein Bischof seine Diözese, die ihm gleichsam wie eine Ehefrau für sein ganzes Leben anvertraut war, verließ, um den Papstthron zu erstreben.) Periuriurm (Damit konnte der Treubruch eines Invasors gegenüber einem noch lebenden Papst oder auch der Verrat bisher in der Kirche gepflogener guter Gebräuche gemeint sein.)
Soweit die religiösen Gründe, die bei mittelalterlichen Papstabsetzungsprozessen genannt wurden, ich sage bewußt, genannt wurden; denn nicht in jedem Fall wurde die Deposition wirklich wegen der angegebenen Gründe vollzogen, vielmehr kam es in dieser Epoche auch vor, daß diese Gründe einem unliebsamen Papst nur unterschoben wurden, er aber in Wirklichkeit aus ganz anderen (nicht-religiösen) Gründen (auf seiten der Absetzenden) des Pontifikats beraubt wurde.
Damit komme ich zu einer zweiten Gruppe von Gründen, die für diese Zeit besonders kennzeichnend sind, nämlich die persönlichen und machtpolitischen Gründe. Da der Papst seit der Pippinischen Schenkung (756) auch weltlicher Machthaber war, bestand die große Gefahr, daß er in rein weltliche Händel hineingerissen, und daß seine wahre, die geistliche Aufgabe vergessen wurde.
Die nicht-religiösen Gründe der Absetzenden bestanden darin, daß dem römischen Volk ein bestimmter Papst nicht paßte, etwa weil er zu kaiserlich gesinnt war, oder daß eine römische Adelpartei ihren Kandidaten auf den Papstthron bringen wollte und deshalb ihren Gegner kurzerhand vertrieb oder gar ermordete. Die Hintergründe sind dabei Streben nach Macht oder Unabhängigkeit.
Nach den Absetzungsgründen gehe ich nun zu der Frage über: Von wem und auf welche Weise wurden Papstabsetzungen (immer noch im allerallgemeinsten, Zimmermannschen Sinn genommen) in der behandelten Epoche durchgeführt?
Dabei fällt ein wesentlicher Unterscheidungsgrund in die Augen: Es gibt Depositionen mit und ohne gerichtliches Verfahren.
In der ersten Klasse, die ich zunächst betrachte, finden sich auch Fälle, bei denen nicht nur ein, sondern mehrere Prozesse stattfanden. Diese Wiederholungen hatten entweder den Zweck, das bereits bestehende (evt. bloß vorläufige) Urteil zu bestätigen oder es außer Kraft zu setzen und das gegenteilige aufzustellen, in einem Fall (bei Formosus) sogar das gegenteilige Urteil nochmals zu revidieren und zum ersten Urteil zurückzukehren.
Zustande kam ein derartiger Prozeß nie ohne weltliche Hilfe, sei es durch ein langobardisches Heer oder durch den römischen Adel oder durch den fränkischen oder deutschen König oder Kaiser. Wenn auch die Gerichtsversammlung nur durch den weltlichen Arm ermöglicht und in die Wege geleitet wurde, so hatte doch die Synode, die den Prozeß durchführte , durchaus geistlichen Charakter. Dies geht sowohl aus der Zusammensetzung der Synodenteilnehmer wie auch aus dem Tagungsort und der Verfahrensweise klar hervor.
Den Vorsitz führte in der Regel ein Geistlicher, ein Papst oder Gegenpapst ein Erzbischof oder sonst ein kirchlicher Würdenträger. Wohl gibt es auch einige wenige Fälle, wo ein weltlicher Machthaber die Verhandlungen leitete, so etwa Karl d. Gr. beim Prozeß über die Integrität Leos III., oder Otto d. Gr. bei der Absetzung Johannes' XII. im Jahr 963. Doch handelte hier der Herrscher in seiner geistlichen Funktion (Schutz von Papst und Kirche), die er ja als Patricius Romanorum zu seinen weltlichen Pflichten hinzu übernommen hatte. Als übrige Synodenteilnehmer treten hoher und niederer Klerus auf. Bei bedeutenden Prozessen kommen Bischöfe, nicht nur aus der nächsten Umgebung Roms, sondern auch aus Norditalien, dem Franken- und dem Deutschen Reich und zeigen damit an, daß es nicht bloß um eine Angelegenheit der Stadt Roms, sondern um die ganze Kirche geht. Es erscheinen Presbyter, Äbte, Mönche und Diakone. Der niedere Klerus ist gewöhnlich aus Rom; er ist deshalb vertreten, weil er bei der Papstwahl maßgebend beteiligt ist. Aus demselben Grund findet sich auch römischer Adel und römisches Volk ein, das bei der Papstwahl ein Zustimmungsrecht hat. Bei großen Synoden ist der weltliche Potentat, sofern er nicht selbst anwesend ist, durch Gesandte vertreten.
Wie gesagt, betont auch der Tagungsort den geistlichen Charakter. "Da das Konzil als gottesdienstliche Veranstaltung galt, tagte es gewöhnlich im sakralen Raum, das heißt in einer Kirche. Gleichsam vor Gottes Angesicht sollte die etwa nötig gewordene Depositionssentenz ausgesprochen und vollzogen werden." (9) Der ausgesuchte Raum sollte zugleich einem anderen Gedanken Ausdruck verleihen: "Hin und wieder scheint bei der Wahl des Tagungsortes endlich die Erinnerung maßgebend gewesen zu sein, daß nach alter kirchlicher Rechtsüberzeugung eine Schuld dort untersucht und gesühnt werden sollte, wo sie begangen worden war." (9)
Der Gottesdienstcharakter der Versammlung wird schließlich auch durch den Prozeßablauf sichtbar: In einer liturgischen Feier wird eingangs um Erleuchtung durch den Hl. Geist gefleht und dann in feierlichem Zug die Hl. Schrift eingeholt. "Endlich verkündet die Eingangsformel der Synodalakten der Nachwelt, daß man im Namen Gottes, 'in nomine sanctae et individuae Trinitatis, Patris et Filii et Spiritus Sancti', getagt habe, nicht menschliche Weisheit, sondern göttlicher Rat und höhere Inspiration für die Urteilsfindung erbeten wurde und bei ihr maßgebend war." (10)
Diese auf Gott ausgerichtete Haltung zeigt sich auch in der Beschlußfassung. Sie kommt nicht durch demokratische Mehrheitsabstimmung zustande, sondern das Gerichtsurteil bietet sich dar als wahre Erkenntnis, als Urteil Gottes, das in seinem Namen von der Versammlung ausgesprochen und deshalb in Einstimmigkeit abgegeben wird. (11)
Neben der herrschenden Rechtsüberzeugung sei auch noch das Wesentliche des äußeren Prozeßablaufes kurz skizziert:
Die Anklage, die schriftlich sein mußte und im sog. 'Libellus accusatorius' fixiert war, wurde von einem oder mehreren offiziellen Klägern ("probator", oder "testis ligitimus") vorgebracht (12), sei es nun von einem Papst oder von mehreren Geistlichen, sei es von einem Laien, wie etwa von Kaiser Otto I. im Prozeß gegen Johannes XII. Darauf folgte eine ausreichende Untersuchung der Schuld des angeklagten Papstes. Dazu wurde, falls der Angeklagte - entweder weil er nicht erscheinen wollte, oder weil er schon tot war - nicht zugegen war, ein offizieller Verteidiger bestellt.
War schließlich das Urteil gefunden, so wurde es nicht nur verkündet, sondern vielfach öffentlich in einer sichtbaren Handlung vollstreckt, d. h. der Verurteilte wurde seines Amtes - wortwörtlich - entkleidet. Er mußte im vollen Ornat der Pontifikatsgewänder antreten und dann Stück für Stück ablegen oder sich abnahmen lassen. "Die Aufeinanderfolge der einzelnen Depositionsakte geschah anscheinend mit gutem Bedacht in umgekehrter Reihenfolge der bei der Papstweihe üblichen Investitur, so daß die besonderen päpstlichen Würdezeichen, Pallium und Ferula, zuerst preisgegeben werden mußten." (13) "Zusammenfassend kann daher gesagt werden, daß die Depositio actualis demnach in der Form einer Devestitur und Dethronisation als Umkehr der Investitur und Inthronisation erscheint." (14) Der so seiner Würde Beraubte wurde dann oft dem Gespött des Volkes preisgegeben. Schließlich wurden die Verurteilten in einem Kerker oder Kloster inhaftiert.
Man darf sich aber auf keinen Fall vorstellen, daß die Papstabsetzungen, bei denen ein ordentliches Gerichtsverfahren stattgefunden hat, immer ordentlich verlaufen sind. Nicht selten wurde der Betroffene vor oder nach dem Prozeß (bzw. den Prozessen) überfallen, mißhandelt, verstümmelt oder gar getötet und war also der Willkür gewisser Rebellen oder Terrorbanden ausgeliefert.
Daher unterscheiden sich mehrere Depositionen mit gerichtlichem Verfahren in ihren Auswirkungen kaum von solchen ohne gerichtliches Verfahren, bei denen also von vornherein sogar auf den Versuch einer Rechtssprechung und den Anspruch auf Rechtmäßigkeit verzichtet wurde, und die einen großen Teil zu dem traurigen Ruhm des behandelten Zeitabschnittes beigetragen haben. Da ich im gegenwärtigen Abschnitt Papstabsetzung im allerumfassendsten Sinn nehme, gehören auch alle die Vorgänge, durch die ein Papst faktisch und ohne Urteil an der Ausübung seines rechtmäßig bekleideten oder nur angemaßten Amtes hindern, hierher. Und das sind nicht wenige. Die Verfahrensprinzipien dieser tumultuarischen Art von Papstabsetzung lassen sich in wenigen Worten angeben: Sie bestehen in brutaler Gewalt. Die Inhaber der Cathedra Petri wurden vom römischen Adel oder Volk oder von irgendwelchen Rebellen aus ihrem Sitz vertrieben, sie wurden mißhandelt, gefoltert und eingekerkert, sie wurden erdrosselt, erwürgt, vergiftet oder sonstwie ermordet.
Ich habe im ersten Abschnitt die Prinzipien der Papstabsetzung rein deduktiv in kirchenrechtlicher Sicht aus dem Begriff 'Papst' entfaltet und im zweiten Abschnitt nach einem anderen, empirisch aufgefundenen Begriff von Papstabsetzung die Prinzipien mittelalterlicher Papstabsetzungen in rein historisch-faktischer Sicht umrissen. Daß sich die Prinzipien beider Sichten nicht decken, bedarf keines weiteren Wortes. Damit erhebt sich nun die Frage, ob sich diese Gegensätze vereinigen lassen? Oder mit anderen Worten: Welches nun die wahren Prinzipien mittelalterlicher Papstabsetzungen sind?
Es ist klar, daß die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche nicht da ist, wo bloß der Anspruch auf katholischen Glauben und katholisches Leben erhoben wird, sondern nur da, wo dieser Anspruch erhoben und erfüllt wird, d. h. daß wo das Gute wirklich gewollt und getan wird. Bezogen auf die Papstabsetzungen heißt das: Von den behandelten Ereignissen haben in Wahrheit nur die als Papstabsetzungen im eigentlichen Sinn (als Akte der wahren Kirche) zu gelten, bei denen nach Recht und Wahrheit entschieden und gehandelt worden ist, d. h. die im 1. Teil entwickelten kirchenrechtlich-systematischen Prinzipien angewendet worden sind. Alles andere, wo bloß der Anspruch auf Recht und Wahrheit erhoben, aber nicht erfüllt wird (a fortiori natürlich alles das, wo nicht einmal dieser Anspruch erhoben, sondern bloß brutale Gewalt angewendet wird), kann ex definitione nicht der wahren Kirche zugerechnet, also auch nicht als wahre Papstabsetzung begriffen werden.
Daraus ergibt sich, daß die Prinzipien mittelalterlicher Papstabsetzung keine anderen sind als die unwandelbaren Prinzipien der Papstabsetzung überhaupt, und alle Vorgänge, die nicht nach diesen Prinzipien erfolgt sind, eben nur scheinbar Papstabsetzungen, in Wirklichkeit aber nur pseudorechtliche Machenschaften oder Gewalttaten sind.
Nach diesem Kriterium zerfallen die betrachteten Ereignisse für mich in drei Gruppen:
1) (rechtmäßige) Papstabsetzungen. Ein Musterbeispiel dafür ist der Depositionsprozeß Konstantins (II.) im Frühjahr 769 unter Stephan III. (Nicht zu diesem Prozeß gehören freilich die Gewalttaten, die von unzufriedenen Verbrechern an Konstantin verübt wurden.)
2) unrechtmäßige 'Papstabsetzungen'. Dazu gehören die erwähnten Gewalttaten und Grausamkeiten, ferner alle jene Prozesse, wo ein Papst aus nicht zutreffenden Gründen 'abgesetzt' wird, wie z. B. Alexander II. durch die von dem Gegenpapst Honorius (II.) abgehaltene Synode von Parma (1063). 3) strittige, unentschiedene Prozesse. Bei diesen ist das vorliegende Quellenmaterial so dürftig, daß der wahre Sachverhalt nicht mehr eruiert werden kann, oder es sind Grenzfälle, bei denen die prinzipielle Frage noch nicht entschieden ist. So ist z. B. heute über die Rechtmäßigkeit der Absetzung Johannes XII. durch Otto I. im Jahre 963 von der Kirche selbst noch nicht entschieden. (15)
Eine exakte, aufgrund der einsichtig entfalteten Prinzipien und anhand der Quellen durchgeführte Untersuchung darüber, in welchen Fällen eine Papstabsetzung im eigentlichen Sinn vorliegt, böte wohl Stoff für ein dickes Buch und kann von mir nicht geleistet werden. Aus dem Gesagten müßte aber soviel klar geworden sein, daß Katholischsein nicht heißt - und auch früher nicht geheißen hat - daß man gedankenlos schluckt, was aus Rom kommt, sondern daß zur rechten Ausübung des Glaubens auch selbständiges Urteilen aus Einsicht gehört.
Anmerkungen:
(1) Gemeint waren die Pontifikate bis zu Pius XII. (2) Ich betrachte hier nicht das ganze Mittelalter, sondern - zusammen mit Harald Zimmermann Papstabsetzungen des Mittelalters, 1968), auf den ich mich im historischen Teil hauptsächlich stütze, da es sonst an einschlägiger Literatur fast nichts gibt - nur die 300 Jahre von der Mitte des 8. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts. (3) F. Kober, Deposition und Degradation nach Grundsätzen des kirchlichen Rechts, 1867, S. 549 f. (4) Über die hier verwendeten zwei Bedeutungen des Terminus 'abgesetzt werden' (das 1. Mal in der Bedeutung 'in Wahrheit des Amtes enthoben werden' das 2. Mal in der Bedeutung 'des Amtes für enthoben deklariert werden') vgl. meinen Artikel 'Ein scheinbarer Widerspruch', EINSICHT 1/6 (Sept. 1971) , S. 26 f. (5) Kober, Dep. u. Degr. , S. 585. (6) Zimmermann, Papstabsetzungen des Mittelalters, S. 169. (7) Zimmermann, Papstabsetzungen des Mittelalters, S. 2 (8) Dieser (faktisch-historische) Begriff ergibt sich - wie gesagt - aus den beiden angegebenen Gründen. Daß Zimmermann auch die andere (rein kirchenrechtl.-system.) Seite ahnt, ohne sie freilich deutlich und begrifflich scharf herauszuarbeiten, ergibt sich aus einer kurzen Anmerkung, die der Vollständigkeit halber erwähnt sei (S. 205): "Wenn der Historiker daher nach oberflächlicher Betrachtung der mittelalterlichen Papstgeschichte vor einer Fülle von Gewalttaten gegen das Papsttum zu stehen meint und es ihm zunächst schwer wird, diese Tatsache mit dem geschriebenen Recht in Einklang zu bringen, so könnte ihm überspitzt geantwortet werden, daß es eigentlich überhaupt keine Papstdepositionen gegeben hat, weil man eben nicht legitime Inhaber der Prima sedes, sondern bloß Pseudopäpste zu richten meinte." (9) Zimmermann, S. 192 f. (10) Zimmermann, S. 193 f. (11) Zimmermann, S. 192. (12) Zimmermann, S. 180 f. (13) Zimmermann, S. 201. (14) Zimmermann, S. 203. (15) Zimmermann, S. 271 f.
NACHTRAG Prof. Lauth verdanke ich folgenden terminologischen Hinweis: Es wird bei Versammlungen, die die Gesamtkirche betreffen, streng unterschieden zwischen Synode = Vorsammlung, die vom Papst einberufen wird, und Conventus = Versammlung, die nicht vom Papst einberufen wird (etwa zum Gericht über einen Papst oder zur Absetzung eines (Schein-)Papstes).
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