PROPHETISSA TEUTONICA - DIE HL. HILDEGARD VON BINGEN
von Heinrich Storm
Hildegard wurde 1098 als zehntes und letztes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim und seiner Gattin Mechtild bei Alzey im Rheinhessischen geboren. Für mittelalterliche Anschauungen stellte es nichts Außergewöhnliches dar, daß die Eltern ihr Kind schon vor der Geburt als Gottesgabe (die sog. "Oblation") zum religiösen Leben vorherbestimmten. Was jedoch bei Hildegard hinzutrat, war eine schon im frühen Kindesalter aufbrechende übernatürliche Begabung. "Von meiner Kindheit an", schreibt sie selbst später einmal, "als meine Gebeine, Nerven und Adern noch nicht erstarkt waren, erfreute ich mich dieser Gabe der Schau in meiner Seele..." Bereits mit 8 Jahren verließ Hildegard das Elternhaus für immer. Sie wurde Jutta von Sponheim übergeben, einer heiligmäßigen Frau, die mit ihr und einem weiteren Zögling zum Mönchskloster Disibodenberg an der Nahe zog, wo sie nach Ablegung der klösterlichen Gelübde bis zu ihrem Tode als Inklusin lebte. Von dieser Frau, die sich um Christi willen freiwillig von der Welt ausgeschlossen hatte, wurde Hildegard in den kommenden 3 Jahrzehnten in den Psalmengesang, die hl. Schriften und die ganze klösterliche Disziplin eingeführt. Leider erfahren wir nur sehr wenig über diese 30 langen Jahre, während der Hildegards Persönlichkeit sich entscheidend ausformte. Jedoch dürfen wir aus dem Wenigen, was uns berichtet wird, schließen, daß das von Jugend an kränkliche und schwache Mädchen an Geisteskraft und Tugend unter den Mitschülerinnen, die im Laufe der Jahre in die Klause eintraten, herausragte. "Mit Anerkennung und Freude", berichtet die früheste Lebensbeschreibung der Heiligen, "gewahrte dies ihre bereits erwähnte ehrwürdige Mutter und nahm voll Bewunderung wahr, wie aus einer Schülerin eine Lehrmeisterin wurde und eine Wegbereiterin auf den Höhenpfaden der Tugend."
Nach Juttas Tod im Jahre 1136 wurde Hildegard wie selbstverständlich ihre Nachfolgerin als Meisterin der Nonnenklause auf dem Disibodenberg. Unter ihrer umsichtigen und klugen Leitung wuchs die Nonnengemeinschaft so heran, daß sich mit der Zeit die Frage nach ihrer Verselbständigung zu einem eigenen Kloster ergab. Im Jahre 1149 beschloß Hildegard - auf eine übernatürliche Eingebung hin - an die Gründung dieses Klosters heranzugehen. Der Ort der Neugründung war ihr in ihrer Vision gezeigt worden: Der Rupertsberg bei Bingen, an der Mündung der Nahe in den Rhein. Mächtige Widerstände galt es zu überwinden, ehe an die Ausführung des Auftrags gedacht werden konnte: den der Mönche, die die Nonnen nur ungern ziehen lassen wollten und die Erlaubnis, dazu lange hinauszögerten, den anderer kirchlicher Obrigkeiten, schließlich auch den mancher Schwestern, die die vorauszusehenden Unbequemlichkeiten einer Neugründung scheuten. Doch bereits ein Jahr später konnte Hildegard mit ihren Nonnen in das neue Kloster auf dem Rupertsberg einziehen. Kaum waren dort die größten Schwierigkeiten des Anfangs, der Mangel an fast allem Lebensnotwendigem, überwunden, begann die Äbtissin den Kampf um die Stellung ihres Klosters, den sie nicht eher beendete, als ihr die volle Unabhängigkeit vom Kloster Disibodenberg zugestanden würde. Auch den Schutz eines weltlichen Vogts wies sie von sich, wohl wissend, daß bei der Verquickung weltlicher und geistlichen Belange diese nur selten gewinnen, meist aber schweren Schaden nehmen. So wurde Rupertsberg, direkt dem Mainzer Erzstift unterstellt und erlangte darüber hinaus, von Kaiser Friedrich Barbarossa eine überaus wertvolle Schutzgarantie.
Die starke Beanspruchung durch die äußere Sicherung und den Ausbau ihrer klösterlichen Familie, die erst 1165 nach der Gründung des Filialklosters Eibingen bei Rüdesheim ein Ende fand, hielt Hildegard nicht davon ab, ihren vordringlichen Pflichten als Vorsteherin und Mutter ihrer Gemeinschaft mit größter Hingabe nachzukommen. "Ihren Geist richtete sie", wie der Verfasser der frühesten Vita schreibt, "wie einen gespannten Bogen auf jegliche Zucht. Sie leitete die Ihrigen, ohne zu erschlaffen, bald mit milder, bald mit strenger Autorität." Der Mönch Wibert von Gembloux gibt uns in einem Brief ein ebenso anschauliches wie anziehendes Bild des Geistes, der in Hildegards klösterlicher Familie herrschte: "Es ist wunderbar, diesen Wettstreit mitanzusehen Die Mutter umfängt ihre Töchter mit derartiger Liebe, und die Töchter unterwerfen sich der Mutter mit soviel Ehrfurcht, daß man kaum entscheiden kann, ob hier Mutter oder Töchter den Sieg davontragen."
In all diesen Jahrzehnten hatte die visionäre Begabung Hildegards, ihr "Lebendiges Licht", wie sie es nannte, nicht nachgelassen. Jedoch "aus weiblicher Scheu, aus Furcht vor dem Gerede der Leute, und dem verwegenen Urteil der Menschen", um ihre eigenen Worte zu benutzen, zögerte sie lange mit der Niederschrift, aber mehr noch mit der Veröffentlichung ihrer Gedichte. Ein Brief an Bernhard von Clairvaux aus dem Jahre 1147 den der hl. Abt mit einer freundschaftlichen Ermutigung beantwortete, zeugt von ihrer Unsicherheit und Angst, aber auch von dem Bewußtsein, daß sie ihre innere Schau der Welt mitteilen müßte. Bernhard von Clairvaux war es dann wiederum, der auf einer Trier Synode im gleichen Jahr, als auch die Sache der rheinischen Seherin durch den Mainzer Erzbischof zur Sprache kam, den anwesenden Papst Eugen III. aufforderte, "er möge es nicht dulden, daß ein solch hellstrahelndes Licht vom Schweigen überdeckt werde, er solle vielmehr eine solche Begnadung, die der Herr in seiner Zeit offenbaren wolle, durch seine Autorität bestätigen." Diesem Wunsch kam der Papst voll und ganz nach. Vor den versammelten Kirchenfürsten las er selbst Auszüge aus Hildegards Schriften vor, deren göttlichen, übernatürlichen Ursprung er durch seine Autorität bestätigte. Dieses Ereignis bedeutete eine Wende im Leben der Äbtissin. Aus der Stille ihres Klosters und eines kleinen Kreises derer, die ihre ungewöhnliche Begnadung bereits erkannt hatten, trat sie nun mit ihrer Botschaft heraus, um sie Klerus und Volk, Königen und Päpsten entgegen zu rufen. In den kommenden Jahrzehnten wuchs sie heran zu dem, was ihr den Ehrennamen einer "Prophetissa teutonica" Prophetin Deutschlands, eintrug. Der Strom der ratsuchenden und bittenden Menschen vor den Klosterpforten des Rupertsberges riß nicht mehr ab: "Von allen Seiten strömten Menschen, Männer und Frauen, zu Hildegard, denen sie mit Gottes Gnade reiche, ihrem Leben angepaßte Ermahnungen gab." Hildegards öffentliches Wirken ging jedoch noch wesentlich weiter: Zwischen 1160 und 1170 unternahm die schon betagte Frau vier große Reisen in alle Himmelsrichtungen des Reiches. "Vom göttlichen Geist nicht nur angetrieben, sondern genötigt", wie der Chronist schreibt, "tat sie Klerus und Volk den Willen Gottes kund". In den Städten Köln und Trier hielt sie, eine ungebildete Klosterfrau, vor Tausenden von Zuhörern flammende Bußpredigten; ein Vorgang, der im gesamten Mittelalter nicht seinesgleichen hat. "Ihr habt keine Augen", rief die Scherin dem Klerus von Köln zu, wo die Häresie der Katharer auf fruchtbaren Boden gefallen war, "wenn eure Werke den Menschen nicht leuchten im Feuer des Hl. Geistes. (...) Ihr laßt euch durch jeden dahinfliegenden weltlichen Namen nahelegen. Bald seid ihr Soldaten, bald Knechte, bald Possenreißer. Mit eurem leeren Getue verscheucht ihr bestenfalls einige Fliegen".
Durch ihren ausgedehnten Briefverkehr wurde sie Ratgeberin und Mahnerin von Königen und Päpsten. Sie scheute sich nicht, Kaiser Friedrich Barbarossa, der ihr wohlgesonnen sonnen war, mit schneidender Schärfe zu warnen, als er nicht davon abließ, Gegenpäpste aufzustellen und sie zu stützen: "Der da ist, spricht: Die Widerspenstigkeit zerstöre Ich, und den Widerstand derer, die Mir trotzen, zermalme Ich durch Mich selbst. Wehe, wehe diesem bösen Tun der Frevler, die mich verachten. Das höre, König, wenn du leben willst. Sonst wird mein Schwert dich durchbohren". Selbst vor dem Papstthron machte die kühne Nonne nicht halt. So ermahnte sie zum Beispiel Papst Anastasius IV. 1153 wegen seiner Nachgiebigkeit: "Höre also, o Mensch, den, der die scharfe Unterscheidung überaus liebt. Hat er doch ein starkes Werkzeug der Geradheit eingesetzt, das wider das Böse kämpfen soll. Das tust du aber nicht, wenn du das Böse, welches das Gute ersticken will, nicht mit der Wurzel ausrottest."
Woher nahm Hildegard die Kraft zu dieser unerhörten Kühnheit des öffentlichen Auftretens? Weder aus ihrer schwachen, kränklichen, körperlichen noch aus ihrer zurückhaltenden, scheuen, fast ängstlichen seelischen Natur. Die Seherin wurde im Innersten getragen, ja getrieben vom unaufhörlichen Ruf des Allmächtigen. Folgte sie diesem nicht oder suchte seine Forderung aus Ängstlichkeit hinauszuschieben, verließen sie alle körperlichen Kräfte. Mehrmals lag sie auf diese Weise kraftlos, dem Tode nahe, auf ihrem Lager, bis sie sich wieder zum Gehorsam dem inneren Ruf gegenüber entschlossen hatte, um dann ebenso plötzlich zu gesunden, wie sie erkrankt war. Oft bezeichnet sich Hildegard selbst als eine Posaune Gottes, oder als eine Feder, die der Wind emporträgt. An einer anderen Stelle beschreibt sie ihren Auftrag mit den Worten: "Er aber, der ohne Minderung groß ist, hat jetzt ein kleines Zelt berührt, damit es Wunder schaue, unbekante Buchstaben bilde und eine unbekannte Sprache erklingen läßt." Das Bewußtsein ihrer eigenen Unfähigkeit ist so stark wie ihre Bestimmtheit, wenn es um den Auftrag Gottes geht. "Gott wirkt, was Er will, zur Ehre Seines Namens und nicht zur Ehre des erdhaften Geschöpfes. Ich aber bin ständig von zitternder Furcht erfüllt. Denn keine Sicherheit irgendeines Könnens erblicke ich in mir. Doch strecke ich meine Hände zu Gott empor, daß ich von Ihm gehalten werde wie eine Feder, die ohne jedes Gewicht nach Kräften sich vom Wind dahinwehen läßt." Der gleiche Gegensatz von persönlicher Nichtigkeit und göttlicher Autorität findet sich am Anfang eines Briefes an Papst Eugen III.: "Das armselige Geschöpf zittert, daß es mit tönenden Worten zu einem so großen Lehrer spricht. Doch, o milder Vater, der Hochbetagte, der herrliche Streiter ist es, der dies spricht."
Es gehört zum Eigenartigen der Sehergabe Hildegards, daß ihre innere Schau sie nicht nur vorübergehend heimsucht, sondern ihr ständiger Begleiter von Kind an ist. Die übernatürliche Schau ist nicht an die Entrücktheit einer Ekstase oder eines anderen außergewöhnlichen Bewußtseinszustandes gebunden, sie ist ein unabtrennbarer Teil ihres Wesens. In einem berühmten Brief an Wibert von Gembloux hat Hildegard überaus klar die Art ihres Schauens beschrieben: "Meine Seele steigt, wie Gott will, in dieser Schau bis in die Höhe des Firmaments... (...) Ich sehe aber nicht mit den äußeren Augen und höre es nicht mit den äußeren Ohren, auch nehme ich es nicht mit den Gedanken meines Herzens wahr noch durch irgendeine Vermittlung meiner fünf Sinne. Ich sehe sie vielmehr einzig in meiner Seele, so daß ich niemals die Bewußtlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag und bei Nacht. (...) Das Licht, das ich schaue, ist nicht an den Raum gebunden. Es ist viel viel lichter als eine Wolke, die die Sonne in sich trägt. (...) Es wird als der "Schatten des Lebendigen Lichtes" bezeichnet. Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf. In diesem Lichte sehe ich zuweilen ein anderes Licht, das mir das "Lebendige Licht" genannt wird. Wann und wie ich es sehe, kann ich nicht sagen. Aber solange ich es schaue, wird alle Traurigkeit und alle Angst von mir genommen, so daß ich mich wie ein einfaches junges Mädchen fühle und nicht wie eine alte Frau."
Über der überragenden prophetischen Schau Hildegards sollen nicht die anderen Geistesgaben der großen Äbtissin unerwähnt bleiben, die der Dichtkunst (sie verfaßte eine ganze Reibe liturgischer Gesänge!), vor allem aber die der Heilkunst. Von Jugend an hatte Hildegard ein starkes Interesse für Formen und Aufbau der Natur. Die Erfahrungen, die sie im Laufe der Jahre durch die Beobachtung von Pflanzen und Tieren, aber auch des menschlichen Leibes und seiner Erkrankungen gesammelt hatte, faßte sie in ihren Werken "Physica" und "Causae et Curae" (Ursachen und Heilung) zusammen, die zu den bedeutendsten natur- und heilkundlichen Schriften des Mittelalters gezählt werden. Für ihre Schau der Natur ist charakteristisch, daß sie niemals die Einzelerscheinung, die Pflanze, das Tier oder den menschlichen Leib bloß für sich sieht, ohne den Bezug zum seelischen Leben und zur Gesamtschöpfung Betracht zu ziehen. Alles Natürliche, so wie jedes Individuum, ist letztlich einbezogen in den universalen Heilsplan Gottes.
Die Heilkundigkeit Hildegards brachte es mit sich, daß viele Kranke oft mit letzter Hoffnung, den Weg zum Rupertsberg nahmen oder dorthin gebracht wurden. Manchmal vollbrachte dann auch die übernatürliche Begnadung der heiligmäßigen Äbtissin das, was mit natürlichen Mitteln nicht mehr möglich war. Die "Vita" zählt eine ganze Reihe von Heilungswundern durch Hildegard auf, darunter auch einige, die die wunderbare seelische Heilung eines Menschen; seine Bekehrung, unter irrem Einfluß zum Inhalt haben. Sichtbar lag Gottes Hand auf diesem seinem auserwählten Gefäß.
Natürlich dürfen wir uns nicht der Täuschung ergeben, Hildegards Weg zur persönlichen Heiligkeit sei durch ihre übernatürliche Begnadung von vornherein vorgezeichnet gewesen. Dieser Weg führte weder am Kreuz noch an den Versuchungen vorbei, die ohnehin im Maße der Begnadung wachsen und nicht abnehmen. Eine schwere, lebenslange Prüfung für Hildegard bedeutete ihre Kränklichkeit. Von ihren schweren Leiden, deren längste drei Jahre anhielt, sagte sie selbst einmal: "Wären die quälenden Schmerzen die ich an meinem Leibe erlitt, nicht von Gott gekommen, ich hätte nicht länger zu leben vermochte." Tiefer noch trafen sie ungerechte und undankbare Behandlung durch Mitmenschen, vor allem, wenn es sich um ihre geistlichen Töchter handelte. In einem Brief muß sie betrübt berichten: "Einige sahen mich mit finsteren Blicken an, sprachen insgeheim böse von mir und sagten, sie könnten das unausstehliche Gerede über die reguläre Disziplin, mit der ich sie zügeln wolle, nicht mehr ertragen." Eine der größten Enttäuschungen ihres Lebens bedeutete es, als ihre geistliche Tochter, Freundin und Vertraute Richardis von Stade, eine hochbegabte, fromme Ordensfrau, sie gegen ihren Willen verließ, um das Amt einer Äbtissin im Erzbistum Bremen anzutreten. In einem Brief an die endgültig von ihr Getrennte läßt sie ihrem Schmerz freien Lauf: "Weh mir Mutter, weh mir Tochter? Warum hast du mich wie eine Waise zurückgelassen? Ich habe den Adel deiner Sitten geliebt, deine Weisheit und deine Keuschheit, deine Seele und dein ganzes Leben... Nun sollen alle mit mir klagen, die aus Gottes Liebe in ihrem Herzen und Gemüt Liebe zu einem Menschen trugen, wie ich sie zu dir gehabt..." Der Schmerz wird jedoch für Hildegard Anlaß, auch den letzten Rest irdisch verhafteter, selbstsüchtiger Liebe abzustreifen: "Der Mensch soll Ihn, den Hohen, Lebendigen schauen ohne irgendeine Umschattung der Liebe und ohne die schwache Zuverlässigkeit, wie sie die luftige Feuchtigkeit der Erde nur für kurze Zeit bietet."
So steht Hildegard in den letzten Jahrzehnten ihres irdischen Lebens vor uns als ein durch körperliches und seelisches Leiden geläuterter Mensch, eine glänzende Fassung für den Edelstein der aus ihr hervorleuchtenden übernatürlichen Gaben, eine wahrhaft ehrfurchtgebietende Greisin. So, wie sie uns von Wibert von Gembloux beschrieben wird: "Sie aber, die Mutter und Führerin dieses Kreuzzuges gegen die Laster, tritt alle Selbstüberhebung, die aus der Bewunderung so vieler erwachsen könnte, durch Demut und Ernst nieder. In Liebe bemüht sie sich um alle, gibt jedem, der sie darum bittet, guten Rat, löst die schwierigsten Fragen, die man ihr vorlegt. Stets ist sie damit beschäftigt, entweder zu schreiben oder ihre Mitschwestern zu unterrichten oder Sünder und Unglückliche zu trösten, die zu ihr kommen. Wenngleich die Last des Alters und vieler Krankheiten sie beschweren, bleibt sie stark in der Übung aller Tugenden."
Und doch bleibt eine letzte Prüfung der schon heiligmäßigen Frau nicht erspart: Ausgerechnet über sie, die begeisterte Sängerin des Gotteslobes, und über ihr Kloster wird das Interdikt verhängt, das das Verbot jedes öffentlichen Gottesdienstes beinhaltete. Hildegard hatte einen Gebannten, der aber in seiner letzten Stunde gebeichtet und kommuniziert hatte, in der geweihten Erde des Klosterfriedhofes bestatten lassen, was einen Verstoß gegen den Buchstaben deskirchlichen Gesetzes bedeutete. In dem nun folgenden Kampf mit den Mainzer Prälaten um Buchstaben oder Geist des Kirchengesetzes ging Hildegard um keinen Preis ab von dem, was ihr am Glauben orientiertes Gewissen ihr vorschrieb. Erst nach mehr als einem Jahr wurde durch päpstliche Intervention die harte Kirchenstrafe aufgehoben. Bereits ein halbes Jahr später fand die letzte große Sehnsucht der heiligen Äbtissin Erfüllung. Hildegard von Bingen wurde abberufen in die Herrlichkeit der Ewigen Heimat. Sie starb im gesegneten Alter von 81 Jahren, am 17. September des Jahres 1179.
Literatur:
Das Leben der hl. Hildegard von Bingen, hrsg. v. Aldegundis Führkötter in "Heilige der ungeteilten Christenheit" (Düsseldorf 1968). Monika zu Eltz, (Freiburg 1963). Hildegard von Bingen, Briefwechsel, (Salzburg 1965).
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