Auf der hoffnungslosen Suche nach Ehrfurcht
von Magdalena S. Gmehling
Der große und leider sehr zu Unrecht vergessene Feuilletonist Sigismund von Radecki erzählt in seinem Band "Die Reise ins Herz" eine seltsam anrührende Geschichte.
Der von Tragik umwitterte russische Kaiser Nikolai I. hatte eine bemerkenswerte Gewohnheit. Er fuhr allein mit seinem Kutscher durch die Straßen von Petersburg, ließ beliebig anhalten und suchte das Gespräch mit Untertanen. Als er eines Tages wieder über die Newabrücke fährt, kommt ihm eine trübselige und schäbige Fuhre entgegen. Ein angeheiterter Sanitätssoldat befördert mit einem Knochenbündel von Pferd einen roh gezimmerten ungestrichenen Sarg. Auf die Frage des Kaisers meldet der erschrockene Soldat, er fahre eben einen unbekannten lnfanterieoffizier, der in Polen gekämpft habe und hier im Hospital gestorben sei, zum Friedhof. Weder. hätte der Verstorbene Angehörige gehabt, noch habe er irgendein Vermögen hinterlassen. Hingelegt und gestorben, das ist alles. "Fahr zu", sagt der Kaiser, "aber fahr im Schritt". Der Angetrunkene gehorcht und nach einiger Zeit beschleicht ihn ein merkwürdiges Gefühl. Scheu dreht er sich um. Da sieht er Seine Majestät, den Kaiser von Russland, mit silbernem Helm und langem Radmantel ganz allein hinter dem traurigen Gefährt schreiten.
Doch dann geschieht es. Die Schutzleute und die Militärs stehen stamm, die Passanten nehmen die Mützen ab vor dem Sarg, keine Equipage überholt mehr und schließlich, als habe der Holzsarg Kraft gewonnen, zieht eine Riesenmenge den Newski Prospekt hinunter...
Warum erinnere ich an diese Geschichte? Nun, sie lenkt in einer vom emotionalen Kältetod und Zynismus geprägten Zeit, den Sinn auf abhanden Gekommenes. Die Römer nannten diese Haltung pietas, die Engländer reverence, im Französischen sprach man von pieté und im Italienischen von pieta, von der Frömmigkeit, der Ehrfurcht, der Rücksichtnahme und Achtsamkeit des Herzens. Die schwesterlichste der Seelen, Antigone, Tochter des Ödipus, erscheint vor unserm geistigen Auge. Entgegen dem Verbot König Krèons bestattet sie den Bruder Polyneikes und büßt mit dem eigenen Tod. "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da". Eine leuchtende Reihe namenloser Christen scheint im Dunkel der Geschichte auf. Die Tapferen bargen Leiber grausam gemordeter Glaubensbrüder unter Gefahr des eigenen Lebens und bestatteten sie ehrfurchtsvoll. Margaret Roper, Tochter des Lordkanzlers von England, Thomas Morus, brachte den auf der Themsebrücke zur Schau gestellten Kopf ihres Vaters, als kostbare Reliquie heimlich in den Besitz der Familie. Nicht nur dem Tode, sondern auch dem Leben, dem Wort, dem Bild, selbst der Erinnerung, erwies man pietätvoll Verehrung gelegentlich um einen hohen Preis.
Schrecklich dagegen der verrohte Bürger des 21. Jahrhunderts, dem Tabubruch ein willkommener Zeitvertreib und Menschenwürde ein Fremdwort ist. Von allen Zwängen, von jeglicher Scham, von Rücksichtnahme und Anstand "befreit", gilt dieser Psychopath mittlerweile als salonfähig, ja in seinen Ansichten als richtungweisend. Verbalblasphemien bereits in Kinderfilmen, orgiastische Sudeleien sich prostituierender Afterkünstier an blutigen Kadavern, unverkennbar gotteslästerlichen Avancen, mystagogisch verbrämt, öffentliche Leichenfledderei getarnt als Arbeitsplatzbeschaffung, all das wendet sich an ein Millionenpublikum von Voyeuren. Ein gewisser Anatom plant die Nachäffung der Geburt Christi und jene des hl. Abendmahles mit plastinierten Leichen. Der Nervenkitzel, den scheinbar folgenlose Verunehrungen erzeugen, die potenzierten Schweinereien, fallen zwar auf die Produzenten zurück, weisen aber anklagend auch auf den obszönen Betrachter. Exzesse münden in eine Befriedigung die nach neuen Geilheiten giert. Nachdem alle sexuellen Tabus verschwunden sind und jegliche Perversität nur noch ein müdes Lächeln hervorruft, geht man daran die Kreatur buchstäblich auszuweiden. Mit kluger Raffinesse haben Medien die Hemmschwelle sukzessive tiefer gesetzt. Das Reiz-Reaktionsschema funktioniert prächtig. Je grauenhafter das Verbrechen, desto lauter die gespielte Empörung.
Die Grundhaltung ist klar: Der Mensch ist, was er isst, Embryos sind amorphe Zellhaufen, Tote werden verewigt in widerlichen Kristallen, verstreut über Länder und Meere, in Leichenfabriken lästerlich konserviert. All das suggeriert unserer agnostischen Gesellschaft Vernutzbarkeit als Evangelium. Garniert mit Feigenblättern der Toleranz, diktiert die moralische Anarchie fröhlich die Marschrichtung.
Seien wir ehrlich, wer rafft sich denn zu einem innerlichen Gebet, geschweige denn einem sühnenden Opfer auf, wenn er von Kinderleichen in Kühlschränken, von Gequälten und Missbrauchten, von Kannibalismus und Folter hört? Allenfalls wird der Ruf laut, der Staat solle sich nicht mehr der Political Correctness beugen und die Freiheit der "Kunst" überdenken. Sarkastisch möchte man hinzufügen vor allem die "Kunst der vollen Kassen".
Die Welt brennt und wer noch nicht erkannt hat, dass uns als einzige Waffe jene des totalen Boykotts zur Verfügung steht, ist dem barbarischen liberalen Menschenbild hoffnungslos verfallen. Nicht die lindernden Dosen tugendhafter Ratschläge jener, die mit den Mächten dieser Welt paktieren, werden uns retten, sondern das Nein, die Verweigerung. Vor meinem geistigen Auge erscheinen zwei Gestalten. Jene des Mahatma Gandhi, des Mannes, dem es gelang dreihundert Millionen Menschen zu erwecken, ein Weltreich zu erschüttern und die größte seelische Bewegung der letzten zwei Jahrtausende auszulösen. Seine Botschaft lautet schlicht: "Wir müssen uns aufopfern". Die zweite Gestalt stammt aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. . Um das Jahr 490 ist Magnus Aurelius Cassiodorus, ein Zeitgenosse des Boethius, geboren. Sein Leben fällt in die Zeit des Ostgotenkönigs Theoderich.
Man lese aufmerksam das kleine Werk des Cassiodor "Vom Adel des Menschen". Die beseelte und tief christliche Gedankenführung ist allzeit gültig. Es heißt dort:
"Herr Jesus Christus, du hast dich für uns niedergebeugt und wolltest Mensch werden, laß in uns nicht zugrunde gehen, was du voll Erbarmen annehmen wolltest. (...) Du weißt, wie todbringend die schlüpfrige Schlange heranschleicht, wie sie mit kriechenden Schuppen nach und nach den ganzen Leib aufreizt; damit man ihr Kommen nicht bemerke, (...) und noch immer verfolgt sie die Zeitgebundenen, die sie durch schlimme Einkreisungen zu Sterblichen gemacht hat. Sie aber verfängt sich selber, indem sie andere irregeleitet. Zu keiner Endzeit verdient sie, sich zu bekehren, da sie wegen Verführung aller verdammt werden muss. Darum soll es für den Bösen keine Möglichkeit geben, damit nicht das Verhängnis überhand nehme, keine Herrschaft soll er über uns ausüben, der sich nie bewährt hat."
Was ist diesen weisen Worten hinzuzufügen?
Weiterführende Literatur:
Cassiodor: Vom Adel des Menschen. Johannesverlag Einsiedeln. 1965.
***
'Fastenzeit': "Auch Jesus wäre ein Autofaster"
Es gibt Krisen, bei denen man auf eine so schiefe Bahn kommt, daß jeder Rettungsversuch die Katastrophe nur näherbringt. Sind die 'Kirchen', die sich langsam leeren, in dieser Lage? Zwar hat sich das durch Thomas Kapielski ausgestreute Gerücht von einem kirchlichen Motorradbeauftragten in Berlin (bislang) nicht bestätigt, aber jedermann weiß, daß es die reine Wahrheit sein könnte. Kürzlich sahen wir in einem Schul-Religionsbuch Entwürfe für Heidelberger Kirchenfenster, die, als "Diskussionsanregung", versteht sich, jeweils ein Verkehrsschild in farbigem Glas vorstellten. Aber nun ist die Fastenzeit angebrochen, und da haben sich die Kirchen in Rheinland-Pfalz etwas Neues ausgedacht: das Autofasten. Kein Witz, sondern Realsatire in bester Tradition der "Neuen Frankfurter Schule": Die Fastenzeit, so liest man in dem Aufruf des Bistums Trier, "war für Christinnen und Christen schon immer ein besonderer Anlaß, über den eigenen Lebensstil nachzudenken und bewußter zu leben." Empfohlen wird dem Autofaster vom 20. Februar bis zum 20. März die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. "Auch Jesus wäre ein Autofaster", sagt das Bistum.
Leider fehlt der Zentralrat der Muslime in Deutschland, der in Form eines Auto-Ramadan (Fahren nur nach Sonnenuntergang, dann aber mit Karacho) mit von der Partie sein sollte, wenn ihm denn an der Integration und am interkonfessionellen Dialog wirklich etwas liegt. "Viele Autofasterinnen und Autofaster" könnten, so das Bistum, bezeugen, daß die Nutzung von Bus und Bahn Spaß macht, weil sie für Kommunikation sorgt. Vielleicht als Ergänzung noch ein Aschenkreuz auf die Frontscheibe? Fasten könnte für die Kirchenoberen natürlich auch heißen, vom 20.Februar bis zum 20.März einmal abstinent von der Genußdroge Zeitgeist zu leben. Aber das wird nichts, und so bleibt nur der Tag-traum unsrer bösen Seele: Sturm auf den Trierer Bischofssitz als Zangenangriff, links kommandiert von Voltaire, rechts von den Truppen des Opus Dei und vom Traditionalisten-Erzbischof Lefèbvre.
Und jetzt wieder zurück ins reale Leben: Im nächsten Religionsbahnhof haben Sie Anschluß an die feministische Liturgie.
L.J. |