Betrachtungen über das Gebet
von
Evagrius Ponticus (+390)
Du wirst nicht das vollendete Gebet erhalten, wenn du belastet bist mit
stofflichen Dingen und unruhig durch ständige Sorgen; denn das Gebet
verlangt frei sein von jedem Gedanken. Es ist dir unmöglich, in Fesseln
zu laufen. Der Geist, der Leidenschaften unterworfen ist, wird nie die
Höhe des Gebetes erreichen. Er wird durch leidenschaftliche Regungen
hin- und hergezogen und erlangt nicht die unerschütterliche Ruhe. Wenn
Gottes Engel uns zu Hilfe kommt, verjagt er mit einem Worte alle
feindlichen Einflüsse und zündet dem Verstande ein Licht an, das nicht
er lischt.
Die 24 Ältesten der Geheimen Offenbarung halten Schalen mit duftendem
Weihrauch - das Gebet der Heiligen - in ihren Händen. Unter den Schalen
verstehen wir die Freundschaft mit Gott, die vollkommene geistige Liebe
zu ihm, in welcher sich ja das Gebet im Geiste und in der Wahrheit
auswirkt. Wenn du glaubst, im Gebet über deine Sünden keine Tränen
vergießen zu müssen, so bedenke, daß du dich weit von Gott entfernst.
Willst du mit ihm für immer verbunden sein, so vergieße heiße Zähren.
Wenn du recht betest, wirst du innere Sicherheit erfahren.Die Engel
werden dich be-suchen wie einst den Propheten Daniel und dir lichtvolle
Einsicht bringen in alles Geschehen. Betest du leidenschaftslos und
unkörperlich, im Geiste und in tiefem Frieden, dann bist du wie ein
Adler, der sich in die weiten Lufträume erhebt.
Das Psalmengebet dämpft die Leidenschaften und beruhigt die Ungeduld
des Körpers. Im Gebete betätigt sich die ureigene Tätigkeit des
Verstandes. Das Gebet ist jene
Tätigkeit, die in der Erhabenheit des schauenden Verstandes gründet,
oder mit anderen Worten, seine höchste und vollkommenste Leistung.
Das Psalmengebet läßt mancherlei Weisheit verkosten. Das Gebet ist die
Pforte zur körperlosen göttlichen Einheitsschau. Hast du das
Gottesgeschenk des Gebetes und des Psalmengesanges noch nicht erhalten,
bleibe starkmütig im Bitten darum, und du wirst es empfangen. Sei
gerüstet wie ein mutiger Kämpfer. Erzittere nicht, wenn du auch
plötzlich eine Erscheinung vor dir siehst. Laß dich nicht erschüttern,
wenn ein gezücktes Schwert über dir blitzt oder eine brennende Fackel
deinem Auge entgegenbrennt. Bleibe tapfer beim Anblick eines
unförmlichen feindlichen Spukes. Stehe fest, bezeuge deinen Mut, und du
wirst deine Feinde besiegen. Wer die Prüfungen besteht, der erntet
Freude. Wer das Unangenehme erträgt, wird auch das Angenehme
beherrschen.
Gib acht, daß dich die höllischen Geister durch keinerlei Erscheinungen
erschüttern. Hast du jedoch solche, dann bete zu Gott, er möge dich
erleuchten, ob sie von ihm kommen. Kommen sie nicht von ihm, dann
verjage sofort den Verführer. Sei entschlossen und dulde nicht die
Höllenhunde in deiner Nähe, wenn du inbrünstig zu Gott beten willst.
Durch Gottes unsichtbare Hilfe werden alle fliehen. In der
Zeit der Versuchung nimm deine Zuflucht zu kurzen, aber feurigen
Gebeten.
Die Nahrung des Körpers ist das Brot, die der Seele die Tugend, die des
schauenden Verstandes das geistige Gebet. Beherrsche während des
Gebetes jeden körperlichen Reiz. Laß dir nicht durch das Krabbeln einer
Laus oder durch das Beißen eines Flohes, noch durch einen Fliegen- oder
Mückenstich das hohe Gut des Gebetes rauben.
Von einem Bruder haben wir gehört, daß sich während seines Gebetes eine
Viper um seinen Fuß ringelte. Doch er ließ deshalb die Arme nicht
sinken, bis sein gewohntes Gebet beendet war, und er nahm keinen
Schaden, weil er Gott mehr liebte als sich selbst.
Beherrsche deine Augen und erhebe sie nicht während des Gebetes.
Verleugne deinen Körper, und du lebst im schauenden Geiste. Ein anderer
Gottesmann, der erfüllt von Liebe zu Gott und ein eifriger Beter war,
traf auf seinem Wege durch die Wüste zwei Engel. Sie nahmen ihn in die
Mitte und begleiteten ihn; er aber schenkte ihnen keinen Blick, um
nicht das höhere Gut zu verlieren. Er erinnerte sich an das
Apostelwort: "Nicht Engel, noch Herrschaften, noch Gewalten können uns
trennen von der Liebe Christi" (Röm. 8,38).
Du verlangst danach, das Angesicht des Vaters zu schauen, der im Himmel
ist. Darum suche zur Zeit deines Gebetes unter keinen Umständen nach
einem Gedankenbild. Sehne dich nicht danach, mit deinen Augen die Engel
zu sehen, die himmlischen Fürsten oder Christus, damit du nicht den
Wolf für den Hirten hältst und nicht die teuflischen Geister als
Freunde begrüßest.
(aus "Kleine Philokalie - Belehrungen der Mönchsväter
der Ostkirche über das Gebet" Einsiedeln 1956, S. 41 ff. - Evagrius war
Schüler des hl. Basilius und des hl. Greogor von Nazianz; die letzten
20 Jahre seines Lebens verbrachte er als Einsiedler in der sketischen
Wüste in Unterägypten)
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