DIE ERSCHEINUNGSFORMEN
von
Leon Bloy
Die herkömmlichste aller Illusionen ist es, zu glauben, man sei
wirklich das, was man zu sein scheint, und diese weitverbreitete
Illusion wird das ganze Leben lang durch den hartnäckigen Betrug aller
unserer Sinne bestärkt. Nicht weniger als der Tod wird nötig sein, um
uns zu zeigen, daß wir uns immer getäuscht haben. Im gleichen
Augenblick, da unser völlig unbekanntes eigentliches Ich offenbar wird,
werden unbegreifliche Abgründe vor unseren wahren Augen enthüllt
werden, Abgründe in uns und außerhalb von uns. Menschen, Dinge,
Ereignisse werden uns endlich kundgetan, und jeder wird die Behauptung
jenes Mystikers als wahr erkennen können, daß seit dem Sündenfall das
ganze Menschengeschlecht in tiefen Schlaf gesunken ist. Erstaunlicher
Schlaf der Geschlechter, der seiner Natur nach von grenzenlos
unzusammenhängenden und formlosen Träumen begleitet ist. Wir sind
Schlafende voll halb verlöschter Bilder des verlorenen Paradieses,
blinde Bettler an der Schwelle eines erhabenen Palastes, dessen Pforte
verschlossen ist. Nicht allein, daß wir uns gegenseitig nicht zu sehen
vermögen, es ist uns auch unmöglich, unseren unmittelbaren Nachbarn
nach dem Klang seiner Stimme zu erkennen.
Hier ist dein Bruder, ist uns gesagt worden. Ach, Herr, wie soll ich
ihn in dieser ununterscheidbaren Menge erkennen, und wie soll ich
wissen, ob er mir gleicht? Er ist doch nach deinem Bildnis gemacht,
ebenso wie ich selbst, und ich kenne nicht einmal mein eigenes Gesicht.
Möge es dir gefallen, erst mich aufzuwecken, ich habe nichts als meine
Träume, und sie sind zuweilen entsetzlich. Um wieviel schwerer ist es
für mich, die Dinge ins Klare zu bringen! lch glaube an die
Wirklichkei-ten dessen, was dinglich, sinnlich, handgreiflich, fühlbar
ist wie das Eisen und unbestreitbar wie das Wasser eines Flusses, und
doch versichert mir eine innere Stimme, die aus der Tiefe kommt, daß es
nur Zeichen sind, daß mein Leib selbst nur eine Erscheinungs form ist,
und daß alles, was mich umgibt, rätselhafte Erscheinungsform ist. Wir
sind belehrt worden, daß Gott seinen Leib als Speise und sein Blut zum
Trinken nur unter den Erscheinungsformen der Eucharistie gibt. Warum
sollte er uns auch nur das kleinste Stückchen seiner Schöpfung in einer
weniger verhüllten Art überlassen? Wäh-rend die Menschen sich nur in
den Gesichten ihres Schlafes unruhig betätigen, schafft Gott, der
allein fähig ist zur schöpferischen Tat, wirklich etwas. Er schreibt
seine eigene Offenbarung in der Erscheinungsform von Ereignissen dieser
Welt, und darum ist das, was man Geschichte nennt, so völlig
unbegreifbar...
Es ist schon zu einem Gemeinplatz geworden, zu sagen, das Wunder sei
die Wiederherstellung der Ordnung. Es gibt indessen kein anderes
Mittel, den Fortbestand der Erscheinungsformen aufzuzei-gen! Alle Welt
glaubte, daß jener Bettler lahm geboren war. Petrus spricht zu ihm:
"Silber und Gold habe ich nicht, was ich aber habe, das gebe ich dir."
(Apg. 3,6) Sogleich ist der Sieche vollkommen geheilt. Was hatte denn
der Apostelfürst zu geben, und was fehlte jenem Unglücklichen? Das
einzig Notwendige, das irdische Paradies. Petrus hatte seit dem
Hahnenruf der Passahnacht nicht aufgehört zu wachen, und der Bettler
vor der Schönen Pforte war tief eingeschlafen. Petrus hatte zunächst
mit einer unwiderstehlichen Autorität zu ihm gesprochen: "Sieh mich
an!" (Apg. 3,4) und der Schläfer öffnete halb die Augen und nahm
zum erstenmal die ungefallene Schöpfung des Uranfangs wahr, die
übernatürlichen Hügel des Paradieses, die unendlich reinen Quellen, die
heilbergenden Pflanzen, die unbeschreiblichen Alleen dieser Stätte der
Unschuld. All dies in dem Gesicht und in den Augen des
Menschenfischers, den Jesus erwählt hatte. Mehr war nicht nötig, um
unverzüglich die mangel-hafte Erscheinungsform vergehen zu lassen und
die völlige Gesundheit wiederherzustellen, das eigentliche Leben für
einen Unglücklichen, der nichts Besseres kannte als die lllusion eines
Stückes Brot zu erbetteln von ebenso Unglücklichen, welche die Illusion
hatten, etwas zu besitzen. Es ist sogar berichtet worden, daß der
Schatten des Petrus heilte. Wir haben heute seinen 260. Nachfolger. Man
weiß nicht, ob er einen Schatten hat oder ob er selbst nur ein Schatten
ist. Von irgendeinem Wunder ist jedenfalls nicht die Rede, und sein
Gesicht erweckt bei niemandem die entfernteste Er-innerung an das
verlorene Paradies. Er ist der einzige unter den Stellvertretern des
Gottessohnes, der, urbi et orbi, die NEUTRALITÄT unseres Herrn Jesus
Christus proklamiert hat. Er ist eine Er-scheinungsform des Papstes,
die etwas sichtbarer vielleicht und sicherlich erschreckender ist als
die Erscheinungsformen der Kaiser, der Könige oder der Republiken, die
sich an der Roten Pforte der Apokalypse drängen, die ganz weit sich
öffnen wird zu den Greueln der Hölle.
(aus "Dans les Ténèbres", zitiert nach: "Leon Bloy - Der
beständig Zeuge Gottes" hrsg. von Raissa Maritain, Salzburg 1955, S.
371 ff.) |