JESU LEHRTÄTIGKEIT
von Reinhard Lauth
Wenn wir die Evangelien lesen, erfahren wir durch den Bericht der Evangelisten von der Lehrtätigkeit Jesu. Dabei fällt dem aufmerksamen Leser auf, daß der Herr sich sehr verschiedener Weisen bedient hat, zu lehren. Die bedeutendste Weise war zweifellos diejenige durch sein Handeln. Besonders der Evangelist Marcus hat diese Lehrweise ganz in den Vordergrund seines Berichts gestellt, während die anderen Evangelisten die Lehrtätigkeit durch die Rede mehr zur Geltung kommen lassen. Wir wollen uns heute nur mit dieser letzteren beschäftigen.
Das erregende Problem hinter der Lehrtätigkeit Jesu ist die Frage, wie das vollkommene göttliche Wissen in Jesus sich in die Sprache der Menschen fassen ließ. Wer von der Theologie der letzten 200 Jahre herkommt, müßte eigentlich erwarten, daß Jesus eine ausgefeilte Theologie vorgetragen habe, sagen wir etwa von der Art, wie der hl. Apostel Paulus im Römerbrief. Und wahrscheinlich rechnen die meisten heutigen Theologen es Jesus zum Nachteil an, daß er das nicht getan hat. Schon die Evangelien müssen diese Leute enttäuschen, sie sind keine theologischen Traktate, sondern im Wesentlichen geschichtliche Berichte. Freilich steht hinter diesen eine hohe Theologie; aber sie kommt hier nur indirekt zum Ausdruck durch die Art und Weise, wie und was von Jesus und in welcher Zusammenstellung dieses berichtet wird. Sie folgen dabei nicht strikt der zeitlichen Aufeinanderfolge der Ereignisse, sondern stellen typische und entscheidende Vorkommnisse und Reden zusammen, die nur locker dem rein zeitlichen Ablauf der Ereignisse zugeordnet sind. Wenn der hl. Evangelist Lucas zu Anfang seines Berichts sagt; daß er katexes (in der rechten Ordnung) alles aufzähle, so ist damit nicht die strikte Dominanz der rein zeitlichen Abfolge gemeint, sondern eine geordnete Zusammenstellung von Berichten, durch die das Wesentliche der Erscheinung Jesu faßbar wird.
Für die Lehre Jesu sind die Evangelisten nach demselben Prinzip verfahren: sie geben typische Lehrstücke Jesu, nur lose in der zeitlichen Reihenfolge, oft mehr nach dem Gesichtspunkt angeordnet, daß dadurch ein Ganzes der Lehre oder wesentlicher Lehrteile sichtbar wird. So hat Matthäus die Unterweisung der Jünger in der Bergpredigt zusammengezogen; so bringt er in zwei ziemlich geschlossenen Abschnitten Jesu Gleichnisreden vor dem Volk in Galiläa und in der entscheidenden Woche vor der Passion im Tempel zu Jerusalem. Johannes bringt in den Kapiteln 5 und 7-11 die Streitgespräche Jesu mit den Juden, vor allem den Gesetzeslehrern und Pharisäern in Jerusalem.
Insgesamt fällt in die Augen, das der Herr sich, je nachdem, an wen er sich wandte, sehr verschiedener Lehrweisen bedient hat. Theologisch im Sinne der damaligen Schulen war seine Rede nirgends; er kam ja auch nicht wie die Saduzäer oder die Pharisäer, z.B. der hl. Paulus, aus der Schule eines bestimmten Gesetzeslehrer. Vielmehr hatte er nicht studiert (Joh. VII,15); er war nur eines Handwerkers Sohn (Matth. XIII,54), so daß man sich immer wieder wunderte, wieso er gebildet war. Schon als Jesus mit zwölf Jahren die Altersreife erlangte, die erforderlich war, um die Schrift in der Synagoge vorlesen zu dürfen, waren die Doktoren im Tempel höchst erstaunt über die Beurteilungskraft, die sich in der Beantwortung ihrer Fragen zeigte. Viele Juden und Gebildete unter diesen wollten eine solche nicht aus der Schule kommende Gelehrsamkeit nicht wahrhaben oder glaubten, ihre Mangelhaftigkeit dadurch aufdecken zu können, daß sie Jesus durch schwierige Fragen in die Verlegenheit brächten, keine oder keine vernünftige Antwort mehr zu wissen. Sie erlitten aber damit Schiffbruch, zumal in der letzten Woche in Jerusalem, wo die Gebildeten der verschiedenen Parteiungen diesen Versuch noch einmal großangelegt und planmäßig unternahmen.
Jesus hatte sein Wissen aus seiner göttlichen Natur, nicht von Menschen, nicht einmal von den inspirierten Verfassern der heiligen Schrift und ihren Interpreten. Das zeigt sich darin, daß er nicht wie die Doktoren und Gesetzeslehrer sprach, sondern begleitet von Zeichen seiner Herrlichkeit und übernatürlichen Taten. Dem Anspruch, Gottes Sohn und als solcher das Licht und das Leben zu sein, entsprachen Beweise wie die Blindenheilungen und Totenerweckungen. Aber auch abgesehen davon wird bezeugt, daß seine Rede in sich von einer Gewalt und Herrlichkeit war, wie bei keinem Menschen. Als die Hohenpriester die von ihnen zu Beauftragten, Jesus zu verhaften, fragen: "Warum habt ihr ihn nicht abgeführt?" antworten diese: "Noch niemals hat ein Mensch so wie dieser Mensch gesprochen". Vor der Gewalt dieses Wortes wichen die Juden, die Jesus steinigen wollten, die Soldaten, die ihn verhaften sollten, und die Amtsträger, die ihn zur Rede zu stellen versuchten, immer wieder zurück. Die Verhaftung Jesu gelang im Tempel, wo sie am allerleichtesten hätte geschehen können, eben deshalb nicht. Der hl. Petrus hat diese Worte Jesu "Worte des ewigen Lebens" genannt.
In welcher Form hat Jesus nun gesprochen? Hier lassen sich vier große Gruppen verhältnismäßig leicht isolieren. Zu den Volksscharen in Galiläa hat Jesus in einer bestimmten Art von Gleichnissen (parabolae) geredet, einfache Erzählungen, durch die etwas Tieferliegendes bedeutet wurde. In einer anderen Art von Gleichnissen, rhythmisierten Sprüchen (maschal), wie sie vor allem im Johannesevangelium wiedergegeben sind, spricht Jesus vor den mit religiösen Problemen Vertrauten (Jüngern wie Juden) in der Weise alttestamentlicher Propheten gleichnishaft von Seiner Natur und Sendung, den Jüngern und vor allem den Aposteln gegenüber spricht er offen, ohne Andeutungen von sich, seiner Aufgabe, den göttlichen Geboten, ihrer Sendung, den kommenden Dingen u.s.w.; endlich erörtert er Fragen theologisch mit den jüdischen Gesetzeslehrern und Doktoren.
Die Gleichnisse, in denen Jesus zum einfachen Volke redete, sind uns zwar meist aus den Evangelien wohlbekannt, sie sind aber oft gar nicht leicht zu verstehen. Vor allem aber verkennen wir fast durchweg, daß Jesus sie ja dem Volke ohne ihre Erklärung vortrug. Die Auflösung gab er nur den Jüngern, wenn sie deren noch besonders bedurften. Die Evangelien geben drei Gründe an, warum Jesus in Gleichnissen gesprochen hat. Der erste ist, daß er damit eine Vorhersage des Psalmisten (Ps. LXXVIII,2) erfüllt habe. Natürlich ist damit nicht nur gemeint, daß die Prophetie auch in Erfüllung gegangen ist, sondern auch, daß Jesus in der Weise der Propheten gesprochen habe, die auf die von Gott kommenden Gedanken ihres Herzens lauschten und ihr Ohr dem maschal (Gleichnis) zuwandten, das ihnen zugesprochen wurde. (Ps. IL, 2-5.) Jesus spricht demzufolge das göttliche Wort. Daher wohl auch die Rhythmisierung vieler Aussagen, d.h. die Fassung in einer gehobenen, geheiligten Sprache. Der zweite Grund ist, daß dieses göttliche Wort zu Menschen gesprochen wird, die in ihrer Herzensverhärtung (-verfettung sagt wörtlich die hl. Schrift) nicht fähig und gewillt sind, das göttliche Wort in seinem unverhüllten Glanze aufzunehmen. Sie hören geistig nicht, wenn sie physisch hören. Der Psalm IL sagt, daß die Menschen in Wohlfahrt und Ehren unverständig sind wie das Vieh; sie sind von törichter Zuversicht erfüllt, daß es ihnen ständig wohlergehen wird, während sie auf den Untergang zugehen und der scheol (Hölle) ihrer harrt. Zugleich ist es gefährlich, offen zu ihnen zu sprechen, denn sie nehmen es übel auf. Dies ist ein zusätzlicher Grund für den Propheten, verschlüsselt zu reden. Der dritte Grund, den das Evangelium für die Benutzung der Gleichnisrede nennt, ist, daß das einfache Volk zum Teil geistig nicht fähig war, die religiöse Wahrheit ohne Gleichnis zu verstehen (hier ist gemeint: auch unverschuldet). Jesus habe deshalb ihnen das göttliche Wort verkündet, "soweit sie es verstehen konnten". (Marc. IV, 53.) Wir wollen hier die Verwendung einer gehobenen Sprache mit zum Teil dem ganz einfachen Volke unverständlichen Worten und Ausdrucksweisen nicht weiter verfolgen, da Jesus sich ihrer in den Evangelien kaum gegenüber dem Volk bedient. Wie aber hat man sich den Gebrauch und die Überhöhung der in alltäglicher Sprache vorgetragenen Gleichnisse zu denken?
Wenn wir uns überlegen, daß Jesus die Gleichnisse vor dem Volke nicht ausgelegt hat, so erscheinen sie weitgehend als einfache Erzählungen aus dem täglichen Leben, teils ohne bestimmten Bezug auf ein historisches Vorkommnis, selten auf ein solches anspielend oder es sogar ziemlich offensichtlich bezeichnend. Klar war stets durch den zuvor offen vorgebrachten Anspruch, die Erlösung zu verkünden und zur Umkehr aufzurufen, daß sie einen religiösen, das Heil betreffenden Sinn haben mußten. Aber das kommt in den Gleichnissen als solchen oft direkt gar nicht zum Ausdruck. Das vorgetragene Gleichnis verbirgt diesen Sinn, aber nicht völlig; denn jeder weiß, daß der religiöse Lehrer es im Zusammenhang seines Auftrags an die Gläubigen verwendet. Es muß also eine weitergehende Bedeutung haben, die sich nicht darin erschöpfen kann, daß etwa wirkliche historische Vorkommnisse oder Verhältnisse des täglichen Lebens gemeint sind. Der Hörer, dem es um diese Bedeutung geht, der das Wort als Wort des Heils zu verstehen sucht, und das ist, "der Ohren hat, um zu hören", wird auf diese Bedeutung ausgehen. Es muß im übertragenen Sinne dasselbe sein, was in der Parabel erzählt wird und was religiös wirklich geschieht.
Aber wodurch wird dieser tiefere Sinn klar? Jesus gab - von den Jüngern abgesehen - den Hörern durch Aufklärung keine weitere Hilfe zu ihrem Verständnis. Es konnte also nur der Geist Gottes sein, der in den Hörern, die den Sinn verstehen wollten, die hintergründige Bedeutung des Gleichnisses erschloß. (Nur in Ausnahmefällen sind die Gleichnisse so angelegt, daß ihr Sinn auch durch rein menschlichen Scharfsinn erraten werden kann (Matth. XXI, 45/46).)
Wenn man die geistige Entwicklung der damaligen Menschheit in Betracht zieht - und diese kann als etwa das genaue Mittelmaß möglicher geistiger Entwicklung in der Menschheit überhaupt angesehen werden -, so waren es Geschichten des täglichen Lebens (nicht etwa Märchen oder Legenden), die die Leute interessierten, weil sie etwas behandelten, das auch sie in ihrem alltäglichen Leben beschäftigte. Hinzu kam der Anreiz, daß der religiöse Lehrer ihnen da etwas sagen konnte, das sie selbst noch nicht bemerkt hatten und für das Problem von besonderer Bedeutung sein mochte - wiederum zunächst noch rein im weltlichen Sinne. Die Frage: wie muß man eine solche Begebenheit ansehen, konnte vielleicht eine Lösung finden.
Zugleich wußten die Hörer aber auch, daß dahinter etwas ganz anderes plötzlich anklingen und Ausdruck finden konnte, nämlich ein unmittelbares göttliches Geschehen. Wenn sie recht zuhörten, konnte ihnen in dieser Rücksicht etwas sie Erschütterndes und Erhebendes aufgehen. Dabei mußte es nicht nur der im Gleichnis liegende Sinn sein, durch den das geschah, sondern es konnte auch die Weise sein, wie die Geschichte vorgetragen wurde. Wenn zwei dasselbe sagen, ist es noch lange nicht dasselbe, sagt ein Sprichwort. Wir erfahren ausdrücklich, daß Jesus in einer Weise sprechen konnte, wie kein anderer Mensch; und schon diese Weise zu sprechen allein konnte die innere Wende bewirken und das Gemüt der himmlischen Wahrheit eröffnen."
Ich möchte an dieser Stelle eine Erzählung von dem Begründer der chassidischen Bewegung in Osteuropa, Israel Ben Elieser, den man den Baal.Schem-Tow nannte, bringen, weil sie diese Art des Vortrags sehr gut schildert.
"Als Rabbi Jaakob Jossef noch Raw in Szarygrod und dem chassidischen Weg sehr abhold war, kam einst in seine Stadt an einem Sommermorgen, um die Zeit, da man das Vieh auf die Weide trieb, ein Mann, den niemand kannte, und stellte sich mit seinem Wagen auf den Marktplatz. Den ersten, den er eine Kuh führen sah, rief er an und begann ihm eine Geschichte zu erzählen, und sie gefiel ihrem Hörer so gut, daß er sich nicht losmachen konnte. Ein zweiter griff im Vorbeigehen ein paar Worte auf, wollte weiter und vermochte es nicht, blieb stehen und lauschte. Bald war eine Schar um den Erzähler versammelt, und die wuchs noch stetig. Mitten drin stand der Bethausdiener, der auf dem Wege gewesen war, das Bethaus zu öffnen; denn um acht Uhr pflegte darin im Sommer der Raw zu beten, und rechtzeitig vorher, gegen sieben Uhr, mußte es geöffnet werden. Um acht kam der Raw ans Bethaus und fand es geschlossen und da er von genaunehmerischem und aufbrausendem Gemüt war, zog er im Zorn aus, den Diener zu suchen. Schon aber stand der vor ihm; denn der Baalschem - er war der Erzähler - hatte ihm einen Wink gegeben, von dannen zu gehen, und er war gelaufen, das Bethaus zu öffnen. Der Raw fuhr ihn böse an und fragte, warum er seine Pflicht versäumt habe und warum die Männer fehlten, die sonst um diese Zeit schon da seien. Der Diener erzählte, wie er, so seien auch alle, die auf dem Weg zum Bethaus waren, von der großen Geschichte des Erzählers unwiderstehlich angezogen worden. Der zornige Raw war genötigt, das Morgengebet allein zu sprechen, dann aber befahl er dem Diener, sich auf den Markt zu begeben und den fremden Mann zu holen. 'Den werd' ich verprügeln lassen!' schrie er. Indessen hatte der Baalschen seine Erzählung beendet und war in die Herberge gegangen. Dort fand ihn der Bethausdiener und richtete seinen Auftrag aus.
Der Baalschem kam sogleich, seine Pfeife rauchend, und trat so vor den Raw. 'Was fällt dir ein', schrie der ihm entgegen, 'die Leute vom Beten abzuhalten!' 'Rabbi', antwortete der Baalschem gelassen, 'es frommt Euch nicht, aufzubrausen. Laßt mich Euch lieber eine Geschichte erzählen.' 'Was fällt dir ein!' wollte der Raw ihn anschreien, dabei aber sah er ihn zum erstenmal richtig an. Er sah zwar gleich wieder weg; aber das Wort war ihm in der Kehle steckengeblieben. Schon hatte der Baalsche zu erzählen begonnen, und der Raw mußte nun lauschch wie alle.
'Ich bin einmal mit drei Pferden über Land gefahren', erzählte der Baalschem, 'einem Roten, einem Scheck und einem Schimmel. Und alle drei haben sie nicht wiehern können. Da ist mir ein Bauer entgegengekommen, der hat mir zugerufen: 'Halt die Zügel locker!' So habe ich die Zügel gelockert. Und da haben sie alle drei zu wiehern angefangen.' Der Raw schwieg betroffen. 'Drei', wiederholte der Baalschem, 'Roter, Scheck, Schimmel, wiehern nicht, Bauer weiß Bescheid, Zügel lockern, wiehern auf!' Der Raw schwieg gesenkten Hauptes. 'Bauer gibt guten Rat', sagte der Baalschem, 'versteht Ihr?' 'Ich verstehe, Rabbi', antwortete der Raw und brach in Tränen aus. Er weinte und weinte und merkte, er hatte bis heute nicht verstanden, was das heißt: ein Mensch kann weinen. 'Man muß dich erheben', sagte der Baalschem." (aus: M. Buber, Die Erzählung der Chassidim, Zürich 1949, Seite 138 ff.)
Höchstwahrscheinlich griffen diese Weise der Erzählung und ihr durchblickender symbolischer Sinn zugleich in die Seele des Vernehmenden ein, wenn dieser sich dem göttlichen Worte aufschloß. Dabei ist zu beachten, daß Jesus eine ganz ungewöhnliche Art der Vergleichung wählt. Fast immer wird sonst zum Vergleich mit dem Höchsten das auch im natürlichen Sinne Außerordentliche zum Vergleich gewählt, z.B. die Rose unter den Blumen, weil sie die schönste ist, die Purpurfarbe als die kostbarste und erhabenste u.s.w.. Jesus verfährt genau umgekehrt er wählt die einfachsten Dinge des Lebens zum Vergleich, die Drachme, die Arbeit im Weinberg, das gefüllte Fischnetz, den täglichen Dienst der Knechte, die wachsende Saat, den Sauerteig u.s.w.. In den einfachen Dingen und Vorkommnissen liegt, wenn man sie nur richtig sieht, eine unvergleichlich erhabenere Kraft und Hoheit als in den besonderen, insofern sie das Allerelementarste, alles Tragende und Erhaltende, täglich das Leben Erneuernde darstellen: unser tägliches Brot. Jesus bezeichnet dieses Brot im Vaterunser bei Matthäus als supersubstantialis. Die kostbaren Dinge sind nur dazu da, die außergewöhnlichen Höhepunkte dieses von den einfachen Dingen getragenen Lebens an der ihnen zukommenden Stelle zu symbolisieren: die kostbare Perle, der plötzlich im Acker entdeckte Schatz, der Wein beim Festmahle, die Hochzeit und dergleichen. So hat in diesen Gleichnissen alles seinen richtigen Ort, und das irdische Geschehen ist ein Schauspiel (comedia) des himmlischen und göttlichen Lebens (vita divina).
In der Verwendung dieser Gleichnisse liegt eine sehr wesentliche Lehre auch für uns in unserer heutigen Situation. Die Menschen in ihrer Verstricktheit in die Dinge dieses Lebens und dieser Zeit sind nicht fähig, den Glanz des göttlichen Wortes wahrzunehmen. Er würde sie blenden - oder noch besser gesagt, er hätte eine Frequenz, die über die Schwelle des von ihnen Perzipierbaren hinausläge. Sie müssen von Einsichten in Dinge dieser Wirklichkeit und über solche Einsichten zur religiösen Wahrheit in ihrer unverhüllten Sichtbarkeit erst hingeführt werden. Immer muß dazu das scheinbar nur mit dieser Wirklichkeit sich Befassende so sein, daß es aus sich über sich hinaus gerade in jene religiöse Wirklichkeit verweist und leitet. Die scheinbar gar nicht die Religion betreffende wissenschaftliche Wahrheit z.B., die vorgetragen oder dargelegt wird, dient dieser Wegleitung, desgleichen etwa ein Kunstwerk, ein historischer Rapport, eine moralische Unterweisung, die scheinbar gar keine religiöse Bedeutung haben.
Jesus hat von sich gesagt, daß er sowohl der Weg als auch die Wahrheit und das Leben sei. Die wirkliche Wahrheit über die Dinge der geschaffenen Welt kann in dieser Weise zugleich der Weg zur Wahrheit der göttlichen Dinge sein und ineins damit die Wahrheit dieser göttlichen Dinge selbst. Unsere Aufgabe als Christgläubige (Christi fideles) ist es, in solcher Weise die Wahrheit in den Dingen dieser Welt zu sagen, daß es der Weg zur Wahrheit in den Dingen der Gotteswirklichkeit und diese Gotteswirklichkeit selber in verhüllter Präsenz ist - verhüllt nicht um es zu bleiben, sondern um unverhüllt erkannt zu werden. Wem dies Einfachste und scheinbar Unauffällige, scheinbar bloß Weltliche nicht zu gering ist, sondern der es in seinem rechten Gewicht darstellt, der enthüllt ein Stück Schöpfung und darin ein Stück der Erscheinung des Absoluten.
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aus: "Nachfolge Christi" Erstes Buch, 18. Kapitel, 1: "DEN HEILIGEN VÄTERN NACHLEBEN -. Schaue auf das lebendige Beispiel der heiligen Väter, woraus wahre Vollkommenheit und Gottseligkeit leuchtet. So wirst du erkennen, wie unbedeutend, was wir tun, ja beinahe nichts. Ach, was ist unser Leben im Vergleich mit dem ihrigen! Die Heiligen und Freunde Christi dienten dem Herrn trotz Hunger und Durst, trotz Kälte und Blöße, in Arbeit und Mühe, in Wachen und Fasten, in Beten und frommen Betrachtungen, in vielfacher Verfolgung und Schmach."
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