DER CHRIST IN DER ZEIT
von
Graham Greene
Die Frage "Gehört der Christ der Welt?" hört sich beinahe an wie jene
andere: "Gehört der Gefangene seinem Gefängnis?" Sicher besteht die
Gefahr für die geistige Verfassung des Gefangenen weniger in der Haft
selbst als in der Gewöhnung an die Haft. In einem Gefängnis, in dem man
sich wohl fühlt, weil Blumen in der Zelle stehen und die Ernährung gut
ist, wo man auf den Sportplätzen Tennis spielen kann, und wo der
Direktor gütig und gebildet ist, – in solch einem Gefängnis wird die
Moral des Gefangenen am ehesten untergraben. Wieviel günstiger ist in
dieser Hinsicht das Schicksal der Katholiken in der Gegenwart: das
Problem des Christen in dieser Welt ist einfacher geworden. Wir wissen
ganz genau, woran wir sind. Im Zeitalter von Belsen besteht keinerlei
Gefahr, daß wir uns mit unserm Gefängnis aussöhnen. Es ist, als ließe
der ewige Feind die Maske fallen, so wie ein Duellant seinen
Schutzmantel sinken läßt, weil er in satanischem Dünkel glaubt, der
Endkampf sei nahe. (Aber es ist nicht das erste Mal, daß er es glaubt,
und der Vermessene hat sich noch immer getäuscht.) Wenn die Welt uns zu
fesseln vermag, so nur dank ihrer trügerischen, aber unleugbaren
Lockungen der irdischen Liebe, des Ehrgeizes und des Hasses.
Es ist leicht, sie zu durchschauen, sogar im Augenblick des Falles. Wir
sündigen, und wir bereuen. Nicht wie unsere Väter werden wir versucht,
einer weltlichen Religion zu folgen, einer Religion, die ihren
Materialismus hinter christlichem Gewande verbarg und die sich sogar im
Herz der Kirchen versteckte, um sie zu verraten. Der große englische
Kardinal Newman, der heute noch eindringlicher als zu seinen Lebzeiten
zu den englischen Katholiken zu sprechen scheint, erkannte schon vor
seiner Konversion die Gefahren dieser weltlichen, gebildeten und von
allem Aberglauben losgelösten Religion. Folgendermaßen beschreibt er
ihre Gläubigen – Sie erinnern sich wohl, daß sie sich für ebenso gute
Christen hielten wie irgendein demütiger Landpfarrer, der wie der
Pfarrer von Ars sein Priester-amt ausübte -: "Ihre Vision des Reiches
Christi deckt sich mehr oder weniger mit der Eleganz und dem
Raffinement der Zivilisation, und jedes neue Anzeichen von Wohlstand,
jedes staatliche Hygiene-Gesetz und jede vom Staat zu Gunsten des
öffentlichen Wohles unternommene Tat erschien ihnen wie ein Zeichen für
die Ankunft ihres Heilandes. Nur darauf bedacht, ihr Ziel zu erreichen,
haben sie sich wenig um die angewandten Methoden bekümmert. Sie haben
Männer unterstützt, die öffentlich antichristliche Prinzipien
vertraten, und mit ihnen zusammengearbeitet. Sie haben alles, was sie
als Reformen und Verbesserungen der herrschenden Zustände ansahen,
bejaht und verteidigt, selbst wenn sie bei der Durchführung dieser
Reformen Ungerechtigkeiten begehen mußten... Sie haben die Wahrheit dem
Opportunismus geopfert."
Und an einer anderen schönen Stelle spricht der Kardinal seine
Überzeugung aus, daß es unserem Lande zum Vorteil gereichen würde,
"wenn es in seiner Religion noch viel abergläubischer, bigotter,
finsterer und fanatischer wäre". Seit der Zeit der Verfolgungen, die in
den zwanziger Jahren in Mexiko begannen, Europa 1933 erreichten und
heute hinter dem Eisernen Vorhang ihren Fortgang nehmen, sind wir
jedoch nicht mehr so leicht bereit, an diese weltliche Religion oder an
die "Welt der Sicherheit, der Freude, des schönen Scheins und
Wohlwollens" zu glauben. Ihr Dogma war zu schwach, um einem Umschwung
standzuhalten, der wie eine grosse Häresie wirkte, und in den Stürmen
unsrer Zeit ging sie unter wie ein Schiff, das ein Leck hat. Wir sind
wieder dort angelangt, wo Newman uns haben wollte: in einer Welt der
Wunder, wo Kinder Visionen haben und Steinbilder sich bewegen können,
wo die Rosen auf einem Altar ein halbes Jahr lang nicht verwelken, und
eine Bäuerin in Kanada jede Woche die Zeichen der Passion erleidet.
Vor wenigen Monaten noch hatte ich Gelegenheit, in einer kleinen
franziskanischen Kirche in Italien um halb sechs Uhr früh die Messe zu
hören, und, als ein Ärmel zurückglitt, die schreckliche schwar-ze Wunde
der Stigmata zu sehen, mit denen Pater Pio seit einem Viertel
Jahrhundert an den Händen und Füssen und an der Seite gezeichnet ist.
Und im Dämmerlicht dieser sehr frühen Morgenstunde erinnerte ich mich
an ein anderes Bild, dessen Zeuge ich früher gewesen. Es war im Jahre
I938, während der Karwoche, am Ende der Christenverfolgungen in Mexiko;
ich befand mich in einer Stadt des Tschiapas, die den Namen des großen
Indianer-Missionars Las Casas trägt. Kein Priester hatte das Recht,
eine Kirche zu betreten, alle Messen wurden heimlich in Privathäusern
gelesen; aber am Karfreitag kamen die Indianer – kleine, von ungeheuren
Traglasten gebeugte Gestalten – von den Bergen herunter und strömten in
Scharen in die Kirche. Seit zehn Jahren hatten sie keine Messe mehr
gehört, sie verstanden kaum Spanisch, und von Kenntnis des Lateins
konnte natürlich keine Rede sein. Sie bemühten sich, die Zeremonie der
Messe in ihren von Dorf zu Dorf verschiedenen, geheimen Dialekten
wiederzugeben.
Es ist klar, daß es in den jetzigen Zeiten ausgesprochen überflüssig
geworden ist, unsere Gedanken noch für einen Kampf zwischen der Welt
und den Katholiken aufzubieten. Wir brauchen nicht mehr vor der Welt zu
bangen, wie auch die Furcht vor dem Feind schwindet, sobald er sich
entlarvt hat. (Am Tage, als Hitler zu den Waffen griff, atmeten wir
erleichtert auf und hörten uns nicht länger seine Radiobotschaften an.)
Auch heute braucht man nur eine Tageszeitung in die Hand zu nehmen, um
sich gewissenhafter seiner Religion zuzuwenden, und diejenigen, die
gleich mir arme, unvollkom-mene Katholiken sind und oft im Begriffe
stehen, zu straucheln, vernehmen aus dem Zeitgeschehen den unablässigen
Aufruf, treu zu sein.
Wir, die wir zu unserm heiligen Schutzpatron Thomas beten, haben wie er
die Wundmale gesehen. Und wenn wir uns, wie Bossuet sagt, fast mit
Schaudern erkannt haben, so spüren wir jetzt doch, daß wir vielleicht
nicht ein ganzes Leben lang mit uns allein leben müssen. Anstatt uns
Geschenke zu machen, schickt die Welt sich an, uns wegzunehmen, was wir
mehr als unsern Glauben zu lieben vermeinten. In einer Zusammenkunft
wie der heutigen sind wir uns ganz bewußt, daß eine unsrer künftigen
Begegnungen vielleicht noch auf Erden, jedoch unter Umständen in aller
Heimlichkeit stattfinden kann.
Aber um noch einmal Newman zu zitieren: "Bis dahin ist es unsere sehr
einfache Aufgabe, die Stellungen, die wir auf dem Schlachtfelde
innehaben, zu befestigen und zu halten und jede Furcht vor der Zukunft
zu überwinden." Im Augenblick, wo der Krieg offen erklärt wird, endet
die Spannung zwischen den Christen und der Welt. Wenn der
Geschichtsschreibung ein Fortleben beschieden sein sollte, dann wird
diese Epoche zweifellos als Beginn eines zweiten "Finsteren Zeitalters"
bezeichnet werden, und jene Übergangszeit von Sankt Augustin zu Sankt
Bernhard wird eher als eine Epoche des Lichtes erscheinen. Was wird vom
"Zeitalter des Lichtes", seiner aufgeklärten Wissenschaft und
Philosophie einmal übrig bleiben außer seiner makellosen, lähmenden
Prosa? Nein, nicht während des sogenannten "Finsteren Zeitalters" haben
wir Anlaß, für unsere Religion zu fürchten. Unsere Feinde sind
zahlreicher als wir, aber sie werden an Zahl übertroffen durch unsre
Toten, denen die Kirche mehr noch als uns gehört. Unsere Toten können
sie weder töten noch verderben, und selbst ihre Toten sind jetzt auf
unserer Seite.
(aus: Graham Grene: "Vom Paradox des Christentums" Zürich 1952, S. 27-32)
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