AGGIORNAMENTO VOR 65 JAHREN
zusammengestellt und kommentiert von Anton Holzer
Vor gut 65 Jahren verärgerte der Dominikanerpater Albert Maria Weiß durch seine Bücher über die "Religiöse Gefahr" und "Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart" (2 Bände) die deutsche Öffentlichkeit, insbesondere die fortschrittlichen Katholiken. In einem Kapitel mit der Überschrift:
" Worin besteht die religiöse Gefahr?"
verweist er auf die Broschüre eines Dr. G. Mayer (Stuttgart 1909) mit dem Titel:
"Der Umbildungsprozeß im religiösen Bewußtsein der Gegenwart".
Weiß referiert den Inhalt dieser Schrift wie folgt:
Der Verfasser, der selber entschieden auf dem modernen Standpunkte steht, der aber unbefangen genug ist, um manche Bedenken dagegen zu würdigen, sieht in dem gedachten Umbildungsprozesse die wichtigste Tatsache der Gegenwart. Zunächst, sagt er, vollzieht sich diese Umbildung nur im Protestantismus, in diesem aber nach seiner Gesamtheit. In der katholischen Kirche gewahre man vorerst nur Schwankungen, geistige Nachwirkungen von Strömungen im Protestantismus. Dort aber gehe jene Umbildung bereits so weit, daß der neue Glaube eine Volksreligion zu werden drohe oder verspreche.
Vor allem liege die Kraft dieser Umbildung darin, daß der neue Glaube undogmatischer sei als der alte. Von der Kirche sei man zu Paulus, von Paulus zu Jesus zurückgegangen, jedesmal mit bedeutender Erleichterung des dogmatischen Ballastes, aber dafür mit Erweiterung der Anhängerschaft. Denn selig will jeder werden. Je leichter das gemacht wird, desto willkommener ist es. Darum sei es ein Verdienst des neuen Glaubens, uns von dem schwerfälligen Apparat des alten Kirchenglaubens befreit, und, ganz entgegen dem alten Glauben, lediglich auf unser persönliches unmittelbares Verhältnis zu Gott hingewiesen zu haben.
Darüber lasse sich nun freilich kein Zweifel hegen, daß dies alles das Wesen des Christentums verletzt, und zwar nicht bloß im Glauben, sondern selbst in der Moral. Allein es sei jetzt einmal "ausgesprochene Tendenz, eine Versöhnung zwischen Christentum und moderner Kultur anzubahnen". Zu diesem Zweck sei als oberstes und entscheidendes Tribunal die Wissenschaft aufgestellt worden. Diese habe es mit sich gebracht, daß eine Generation heranwachse, deren Gedankenwelt nicht bloß der dogmatisch-kirchlichen fremd sei, sondern selbst mit der Religion des Neuen Testamentes wenig mehr gemein habe. Das alles wäre freilich wenig geeignet, das Volk im Großen zu gewinnen. Aber die "moderne Theologie" verstehe es schon, die alten Worte und Formeln so anzuwenden, daß die Massen in ihrer religiösen Urteilslosigkeit mitgezogen werden, weil sie sich durch den alten Ausdruck täuschen lassen. Wo aber dieser nicht mehr in den Vordergrund gestellt, sondern die moderne Ausdrucksweise beliebt werde, dort sei erst der Erfolg vollständig, denn gerade dies fördere die Überzeugung, daß derlei theologische Gelehrsamkeit wertlos sei, und daß es lediglich auf den subjektiven Glauben, den inneren unmittelbaren Verkehr mit Gott ankomme, und daß es keines "Umweges durch die kirchliche Dogmatik" bedürfe.
Dazu treten aber nun von außen her Bundesgenossen in Menge herbei: die neue Philosophie, die allen Glauben an die Geltung religiöser Spekulation erschüttert, die Naturwissenschaft, die jedes religiöse Werturteil umstößt, der Entwicklungsgedanke, die drohendste Gefahr von dieser Seite, die Religionsgeschichte, das willkommene Werkzeug, um das Christentum aufzulösen, die moderne Psychologie, durch die alles angeblich Übernatürliche als rein persönlicher Naturzustand erklärt wird, die moderne Literatur, die einen Charakter an sich trägt, daß sie für Indien und China ebenso paßt wie für das christliche Deutschland, die soziale Bewegung, die den Geist auf das Äußerliche lenkt und die sittlichen Forderungen des Christentums als unerträglich fahlen läßt, der zunehmende Wohlstand und der gewaltige Kulturfortschritt, wodurch der Mensch dem nackten Utilitarismus ausgeliefert, mit dem größten Selbstgefühl und mit materialistischer Denkweise erfüllt und einem Kosmopolitismus zugeführt wird, vor dem religiöse und konfessionelle Schranken nicht mehr bestehen können.
Denn das trete, sagt der Verfasser, um von vielen minder bedeutsamen Dingen abzusehen, als eine der hauptsächlichsten Folgen dieser Umbildung hervor, daß sie eine "den Gegensatz zwischen den Konfessionen und Religionen aufhebende oder ausgleichende Wirkung" habe. (1)
Diese Thesen kommentiert Weiß:
Man müßte keine Vorstellung von dem ansteckenden Einfluß der modernen Ideen haben, man müßte außer acht lassen, welche Mittel ihnen zur Verbreitung zu Gebote stehen durch die Übermacht der Presse und durch die Popularisierung ihrer Ergebnisse, man müßte die Augen schließen vor den Tatsachen, die sich täglich zu Tausenden aufdrängen, wenn man in Abrede stellen wollte, daß hier eine große Gefahr besteht und Gefahr für alle ohne Ausnahme, die größte Gefahr für jene, die sich für sicher vor jeder Gefahr halten. Glaubten wir an die religiöse Gefahr und richteten wir unser Verhalten dementsprechend ein, dann schenkte`uns Gott gewiß den Geist der Wachsamkeit gegen jede, auch die kleinste Ablenkung von der Treue gegen unsere religiöse Aufgabe, einen stets steigenden Eifer für die Reinheit des Glaubens und des christlichen Lebens, und den engsten Zusammenschluß unter uns zur gemeinsamen Abwehr des Übels. So aber, da wir uns schon verletzt fühlen, falls uns jemand mahnt, die Gefahr nicht gering zu schätzen, setzen wir an die Stelle der Vorsicht die Gleichgültigkeit, wo nicht vollends das Spiel mit der Gefahr, an die Stelle des Eifers Lauheit oder Kälte gegenüber jenen Gütern, für die unsere Väter freudig ihr Blut hingegeben haben, und an die Stelle des Zusammenhaltens jene traurige Spaltung, die all unsere Tätigkeit zuletzt wieder lahmlegt und den Gegnern nicht wenig die Zuversicht mehrt. Sollte uns dieses dreifache Übel nicht berechtigen zu der Überzeugung, daß die ohnehin schon große Gefahr noch bedenklicher wird gerade durch die bedauerliche Geringschätzung der Gefahr?
Und läge darin doch bloß eine Geringschätzung der Gefahr, sei es für uns sei es für andere! So aber führt die Gleichgültigkeit gegen die Gefahr fast unvermeidlich zur Gleichgültigkeit gegen die Sache selbst, d.h. zur Fahrlosigkeit, ja zur Teilnahmslosigkeit gegenüber den von der modernen Zeitströmung angefochtenen Wahrheiten selber und gegenüber den aus ihnen hervorgehenden christlichen Lebensregeln und kirchlichen Einrichtungen. ...
Stellen wir uns, weil eben von den Märtyrern die Rede war, die Glaubenshelden aus ihrer Mitte vor Augen. Würden diese, wenn sie heute unter uns lebten, die Gefahr wohl auch so gering schätzen wie wir? Johannes, der Lieblingsjünger, wollte nicht eine Stunde unter einem Dach mit Cerinth gemeinsam sein. Wir aber reden uns auf die Politik, auf das Erwerbsleben, zumal auf die Liebe aus, um unsere Kälte gegen den Glauben zu beschönigen. Auf was aber würden wir uns ausreden, wenn uns heute die gleiche Wahl zwischen dem siedenden Öl oder dem Rücktritt vom Glauben gestellt würde? Wahrscheinlich würden wir uns nicht zur glatten Verleugnung des Glaubens verstehen. Wir hätten es auch kaum nötig. Denn erst müßten wir so viele und so lange Untersuchungen darüber anstellen, was denn zu Glauben gehöre und ob es auch eigentlich nötig sei, für diesen, für jenen, für den dritten und den hundertsten Glaubenssatz zu sterben, daß darüber wir und die Richter längst tot wären, ehe es zu einer Entscheidung gekommen wäre. Nein, die Stimmung, in der wir uns heute befinden, ist nicht geeignet, Märtyrer zu erzeugen. Wenn wir aber gestehen müssen, daß wir nicht imstande wären, als Märtyrer zu sterben für den Glauben, für den ganzen Glauben mit allen seinen Grundsätzen, so wie sie die Kirche lehrt, so wie sie die Christenheit stets heilig gehalten hat, haben wir damit nicht auch selber zugegeben, daß wir zum mindesten am Glauben Schaden gelitten haben?
Übrigens, was bedarf es denn langer Folgerungen oder Voraussetzungen, wo die Tatsachen selber deutlich genug sprechen?
Zu Anfang konnten wir mit gutem Gewissen sagen, daß es uns nicht im Sinne liege, den Glauben selber preiszugeben. Wir wollten nur unsere Zeit nicht vor den Kopf stoßen, wir wollten es nur nicht verderben mit der Welt, in der wir leben. Deshalb wehrten wir uns dagegen, ihre Lieblingsmeinungen, die sog. modernen Ideen, allzuhart zu beurteilen und verwahrten uns feierlich gegen die Behauptung, daß diese eine Gefahr für den Glauben und für die Religion bedeuten sollen. Dies einmal zugegeben, suchten wir uns nach und nach im Frieden mit der Zeit und mit ihren Ideen zurecht zu finden. Je länger, desto mehr verloren diese für uns das Anstößige, das sie anfänglich zu haben schienen. Allmählich fanden wir an ihnen so mancherlei, was uns zu behagen schien. In eben dem gleichen Maß entdeckten wir naturnotwendig auf seiten des Christentums gar vieles, was in die immer mehr uns ergreifende Gedankenrichtung nicht mehr recht zu passen schien. So wuchsen wir in die neue Denkweise hinein und aus der alten heraus. Die unvermeidliche Folge davon war die verhängnisvolle Idee vom Ausgleich, und wieder die unvermeidliche Folge davon zuerst das Vertuschen und zuletzt das Verlassen oder doch das Vergessen aller jener Lehrsätze, die den modernen Gedanken am meisten hinderlich in den Weg treten. Die Richtschnur für unser Denken wurde statt der alten Glaubensregel die Rücksicht darauf, was sich mit dem modernen Geiste vertrage. Was diesem unversöhnlich entgegenstand, das schwand mehr und mehr aus unserem eigenen Gedankenkreise. Die Pflicht der Unterwerfung unter die gebotene Wahrheit, die Lehre, daß der Unglaube Sünde, eine der schwersten Sünden sei, das ganze Lehrstück von der Sünde überhaupt, von ihrer Herrschaft über die Menschheit und ihrem verhängnisvollen Einfluß auf die ganze Kultur und Geschichte, der Hinweis auf das Übernatürliche und auf die Pflicht, das ganze Leben mit allen seinen Verzweigungen im Innern wie in der Öffentlichkeit in dessen Dienst zu stellen, das alles schien uns anfänglich Nebensache und zwecklose theologische Spekulation, mehr und mehr aber als ein wahres Hindernis für den beabsichtigten Ausgleich.
Damit aber haben wir, ohne uns dessen bewußt zu werden, die entscheidenden Grundlehren des Christentums preisgegeben, und das, was wir noch unter dem Namen des Christentums beibehalten haben, derart entleert, daß es den wahren Sinn des Christentums preisgegeben hat. Seitdem kämpfen wir vielfach für ein Christentum, in dem der Stifter seine echte Stiftung nicht mehr anerkennen kann. Es ist unser Christentum, unser persönliches, subjektive zurechtgelegtes Christentum, aber es ist nicht mehr das wahre Christentum Christi, so sehr wir auch darauf halten, ihm gerade diesen Titel beizulegen. (2)
Anmerkungen: 1) A.M. Weiß, Lebens- und Gewissensfragen der Gegenwart, Bd.1, Freiburg i.Br.1911, S. 266-269. 2) a.a.O. S. 269-274.
(Fortsetzung folgt)
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