DIE RESTLOSE BESEITIGUNG CHRISTI DURCH DIE SCHRIFTGELEHRTEN DES NEUEN BUNDES
von Herrmann Schrott
I. Betrachtet man den trostlosen Zustand, in dem sich heute die kath. Kirche befindet, so möchte man zunächst der Liturgiereform hieran die Schuld geben. Allein, die Abschaffung des Opfers ist nur der letzte sichtbare Ausdruck eines Abfalls unserer Theologen von der überlieferten Lehre, der sich schon längst im geheimen vollzog, der aber erst nach dem Tode Papst Pius' XII. auch für die Allgemeinheit sichtbar wurde. Innerhalb dieses Zusammenbruchs der kath. Theologie spielte zweifellos die Exegese eine Hauptrolle: denn steht bei keinem Satz der Hl. Schrift mehr fest, ob Christus wirklich so gesagt bzw. die Apostel wirklich so geschrieben haben, und wird kein Satz mehr als absolute Wahrheit angenommen, dann verlieren Dogmatik und Moraltheologie jede Grundlage und dann kann man natürlich auch in der Liturgie machen, was man will - alles unterliegt dann dem freien Ermessen des mündigen Christen. Oberflüssig und sinnlos wäre jedoch die Menschwerdung Christi gewesen, wenn er nur deshalb gekommen wäre, um jedem seine eigene Meinung, die er sich selbst über Gott gebildet hat, zu belassene sagte schon der hl. Kirchenvater Irenäus im 2. Jahrh., als die Modemisten jener Zeit behaupteten, die Apostel hätten sich bei der Verkündigung in Jerusalem ganz den Vorstellungen der Juden angepaßt, in Wirklichkeit müsse man alles anders auffassen (Adv. haereses, PG 7, Sp 898/899). Kein anderer konnte uns Kunde vom Vater geben als dessen eigenes Wort und nur dadurch, daß wir unseren Meister sahen und seine Stimme mit unseren Ohren vernahmen, konnten wir lernen, durch Nachahmung seiner Werke und durch Befolgung seiner Worte zur Gemeinschaft mit Gott zu gelangen (PG 7, Sp. 1120/1121). Nachdrücklich betont Irenäus, der selbst noch ein Schüler von Apostelschülern war, die Echtheit und völlige Irrtumslosigkeit der Schriften derer, die selbst noch Augenzeugen des Lebens Christi waren. Er kämpft auch bereits gegen die Protestanten, die sich zwar zur Hl. Schrift bekennen, aber sich bei der Auslegung über die Tradition hinwegsetzen (z.B. PG 7, Sp. 906) und hält ihnen vor, daß sie sehr viel später leben als die Bischöfe, denen die Apostel einst die Kirchen übergeben haben (PG 7, Sp. 1177). Alle Gläubigen müßten sich nach der römischen Kirche richten, in der die apostolische Tradition rein bewahrt worden sei (PG 7, Sp. 848-851). Er mußte aber auch schon zu seiner Zeit die Feststellung machen, daß die Häretiker, wenn sie auf Grund der Hl. Schrift überführt werden, zum Angriff auf die Hl. Schrift selbst übergehen und so tun, als ob den Worten der Schrift keine absolute Autorität zukomme (PG 7; Sp. 846). Den Häretikern zufolge hätten Petrus und die übrigen Apostel keine vollkommene Erkenntnis gehabt; vielmehr müßten sie ins Leben zurückkehren und bei den Irrlehrern in die Schule gehen, um selbst auch vollkommen zu werden (PG 7 , Sp. 901). Sie würden sich nicht scheuen, das, was sie selbst frei erfunden haben, als Wahrheit zu verkünden, ohne sich dabei um eine objektive Wahrheit zu kümmern, und wenn man sie auf die apostol. Tradition verweise, dann behaupten sie, sie seien gescheiter als die Apostel und deren Schüler und hätten die reine Wahrheit gefunden; die Apostel hatten nämlich zu den Worten Christi Zusätze gemacht, um den Juden den Glauben an die Erfüllung des Gesetzes durch Christus leichter zu machen (PG 7, Sp. 846/847). Damit sind wir nun ganz unversehens ins 20. Jahrhundert; geraten und sehen, wie sich Cerinthus, Marcion, Valentinus usw., gegen deren Irrlehren einst Irenäus sein Werk verfaßt hat, und die kath. Theologen des 20. Jahrhunderts die Hand reichen. Denn nunmehr hat man auch auf kath. Seite erkannt, daß man jene "Zusätze", die die Apostel einst angeblich gemacht haben, endlich herauslösen müsse, um so an die reine, nackte Wahrheit näher heranzukommen. Dies ist mittlerweile bereits so vollständig geschehen, daß man nicht nur bei keinem Wort Christi mehr weiß, ob Christus wirklich so gesagt hat, sondern daß man nicht einmal mehr weiß, ob die Hl. Schriften von den Aposteln und Evangelisten stammen. Ja, man ist sich bereits sicher, daß z.B. das Johannesevang. oder die Apokalypse unmöglich von Johannes verfaßt sein kann. Fragt man unsere Exegeten, was nach Beseitigung der "Zusätze" als reine Wahrheit herausgekommen sei, dann antworten sie bedeutungsvoll: das Kerygma der Urkirche. Denn da die splitternackte Wahrheit in diesem Fall eben nicht gerade schön anzusehen ist und das gläubige Volk bei ihrem Anblick zurückschrecken könnte, ist man übereingekommen, ihr ein Mäntelchen in Gestalt eines griechischen Fremdwortes umzuhängen.
Es könnte nun jemand sagen, es sei das alles nichts Neues, man kenne ja die Küng, Haag usw. bereits zur Genüge. Aber das wäre ein bedauerlicher Irrtum, denn obiger Auffassung vom Neuen Testament haben sich bereits seit langem auch die konservativen kath. Exegeten angeschlossen. Wenn wir uns also im folgenden, dem Vermächtnis des hl. Irenäus gehorchende mit den geistigen Söhnen der Irrlehrer des 2. Jahrhunderts etwas eingehender befassen, erscheint es zweckmäßig, als Gegner einen der konservativsten sog. kath. Exegeten herauszugreifen. Wir zitieren deshalb im folgenden stets aus dem Johanneskommentar von Prof. Rudolf Schnackenburg (Das Johannesevangelium. T. 1. 1965, Herders theolog. Komm. z. NT, Bd. 4,1), der von den meisten als Säule der Rechtgläubigkeit angesehen wird und der gewissermaßen im Heer der kühn voranstürmenden Exegeten das Schlußlicht bildet. Als Beispiel eignet sich das Johannesev. insofern besonders gut, als seine Echtheit, ebenso wie die der Apokalypse, besonders leidenschaftlich bestritten wird, obgleich sie sich auch einem noch so kritischen Atheisten gegenüber leicht verteidigen läßt.
II. Hören wir zunächst einmal die Thesen, die Prof Schnackenburg über die Entstehungsgeschichte aufstellt und zwar merkwürdigerweise bevor er sich mit den Traditionszeugnissen befaßt, die ganz eindeutig für eine Autorschaft des Apostels Johannes sprechen. Er faßt die Entstehungsgeschichte auf S. 59/60 folgendermaßen zusammen: "a) Das Joh.-Ev. ist nicht literarkritisch auf verschiedene selbständige literarische Schichten zu verteilen, ... sondern ist im wesentlichen das Werk des Evangelisten, der sich aber auf mancherlei Traditionen stützte und sein Ev. langsam wachsen und reifen ließ, ohne zu einem letzten Abschluß zu kommen. b) Unter den Traditionen, die der Evangelist verarbeitete, lassen sich nur schwer schriftliche Quellen erkennen. Die direkte Benützung der Synoptiker ist bis auf einige Zweifelsfälle nicht zu erweisen; ... Mit einiger Wahrscheinlichkeit darf man die Verwendung einer schriftlichen "Semeia-Quelle" behaupten. c) Für seine besonderen Oberlieferungen standen dem Evangelisten mündliche Erzählungen von eigenständiger Originalität zur Verfügung, die Anspruch auf hohes Alter ... haben ... d) Zu diesen frühen Traditionen dürfen auch Logien und anderes geprägtes Redegut gehören, das der Evangelist für seine Jesusworte und -reden benützte. Wenn auch eine eigene Logien- oder Redenquelle unwahrscheinlich ist, so spricht doch manches dafür, daß er sich für die Gestaltung der Offenbarungsreden Jesu schon mancher geprägter Formulierungen ... bediente. Diese aber hat er in die von ihm gestalteten Dialoge und Reden Jesu eingefügt und eingeschmolzen, so daß gerade die Reden den Stempel seines Geistes tragen. e) An einigen Stellen kann er auch liturgisches oder kerygmatisches Gut, das in den Gemeinden gepflegt ... wurde, aufgenommen haben. Das gilt namentlich für den Prolog, dem ein christlicher Logos-Hymnus zugrunde liegen dürfte, vielleicht auch für die "eucharistische Homilie" 6, 31-58 ... f). Der EvangeIist konnte seinem Werk nicht mehr die letzte Gestalt geben und hinterließ in seinem Material auch manche Stücke, näherhin Jesusreden, die weitere Entwürfe darstellten, so etwa 3, 13-21, 31-36; Kap. 15-17. Diese sind erst durch die Schlußredaktion in das Ev. eingefügt worden, zum Teil nicht ganz sachgemäß, zum Teil mit Spuren der sekundären Zufügung (Abschiedsreden und Hohepriesterliches Gebet Kap. 15-17). g) Auf das Konto der Redaktion gehen sicherlich Kap 21, vielleicht unter Verwendung von Material des Evangelisten ..., Ferner einige Textanordnungen, die nicht der ursprünglichen Intention des Evangelisten entsprechen: ..." Mancher Gläubige wird sich nun vielleicht wundern, wieso der allmächtige Gott, ohne dessen Willen kein Haar von unserem Haupte fällt, es nicht verhindern konnte, daß alle möglichen Leute an seinen Worten "nicht ganz sachgemäß" herumpfuschten, er wird sich fragen, wo hier die wörtliche Inspiration bleibt, er wird es unbegreiflich finden, daß die Worte Christi nicht in ihrem Wortlaut festgehalten wurden (als ob Christus nur zu den damals lebenden Juden gesandt worden wäre!), er wird endlich erstaunt feststellen, daß etwa die Worte "Weide meine Lämmer, weide meine Schafe" gar nicht von Christus, sondern von der ''edaktion" stammen. Hier gilt es aber doch zu bedenken, daß es besser ist, diese Dinge kommen wenigstens nach 1900 Jahren ans Licht als überhaupt nie, und daß es doch einen gewaltigen Fortschritt darstellt, wenn der Mensch nun endlich selbst festsetzen kann, was Gott gesagt hat und was nicht. Das Ärgernis, daß Gott einst durch Christus selbst in die Geschichte eingegriffen hat, kann nun endgültig beseitigt werden! Eine wirklich freie Theologie, und nur eine solche ist für den aufgeklärten Christen zumutbar, kann unmöglich auf den Anspruch verzichten, selbst zu bestimmen, was Gottes Wort ist. Wer noch in ganz altmodischen Vorstellungen befangen ist und sich daran stößt, daß hier ständig von einem unbekannten Evangelisten gesprochen wird, der kein Augenzeuge gewesen sein soll, den tröstet Prof. Schnackenburg im folgenden auf seine Weise (S. 61/62): "Warum kämpfen nicht wenige um die Autorschaft des Zebedäiden und zeigt sich das kirchliche Lehramt um die Preisgabe dieser Position besorgt? (Zitiert wird nun eine Antwort der Päpstl. Bibelkommission vom 29.5. 1907 - heute kämpft natürlich keine Bibelkommission mehr für das Johannesev.!) Doch nicht darum, weil eine jahrhundertelange, liebgewordene Vorstellung, eine "kirchliche Tradition" dahinfallen könnte; ... Wir haben die Frage nach dem Verfasser bis jetzt zurückgestellt, um durch die Untersuchung der literarischen Eigenart des Joh.-Ev. zunächst das eine klarzumachen, daß sich dieses Werk nicht einfach als Autorenwerk im modernen Sinn verstehen läßt ... Sprache und Stil, Gedankenwelt und geistiges Milieu ... sind im Auge zu behalten, wenn man das Joh.-Ev. dem galiläischen Fischer, dem von Hause aus aramäisch sprechenden Palästinenser, dem im Judentum beheimateten und aufgewachsenen Gefährten und Jünger Jesu zuschreiben will. Aber nach der Prüfung der literarischen Gestalt des Werkes kamen wir zu dem Ergebnis, daß es in der Hauptsache, wenn auch nicht einschichtige die Hand eines einzigen Mannes verrät, den wir einfach "den Evangelisten" nennen wollen." Prof. Schnackenburg schreibt sich zwar "viel Scharfsinn" (S. 60) zu, dieser Scharfsinn scheint ihn jedoch nicht nur bei der Würdigung der äußeren Traditionszeugnisse, die wir ausführlich im III. Teil behandeln werden, gänzlich im Stich gelassen zu haben, dieser Scharfsinn scheint auch bereits hier auszusetzen: denn wenn ich das ganze johanneische Schrifttum dem Apostel Johannes zunächst abspreche, habe ich ja kein Vergleichsmaterial mehr, um seine eventl. Autorschaft mit Hilfe von Sprache und Stil klären zu können. Und selbst wenn wir solches Vergleichsmaterial hätten, könnte man damit nichts beweisen, da die literarkritische Methode von ihrem Wesen her über reine Spekulationen nicht hinauskommen kann. (Ähnlich verhält es sich übrigens bei der Abstammungstheorie: von der Morphologie, also dem Spiel mit Formen, führt in keinem Fall ein Weg zur Genealogie, also zu der tatsächlichen Abstammung - man setzt diese Identität von Morphologie und Genealogie einfach voraus.) Man merkt hier schon überdeutlich, daß Prof. Schnackenburg von Anfang an Dinge weiß, die er doch besser erst beweisen sollte. Es sind das die berühmten Tabus, die es in der modernen Theologie in Hülle und Fülle gibt. Was einem vor 1900 Jahren lebenden galiläischen Fischer, der an die 100 Jahre alt wurde und die meiste Zeit seines Lebens in regem Verkehr mit der gebildeten Welt stand, zuzutrauen ist, kann man heute unmöglich von vorneherein festsetzen. Hier aus inneren Kriterien heraus einen Unterschied zu einem anderen, zur selben Zeit und in derselben Umgebung lebenden, ansonsten völlig unbekannten Autor feststellen zu wollen, ist völlig unsinnig. Aber mit guten Willen geht alles und so schafft es auch Prof. Schnackenburg mit Hilfe des nun plötzlich wieder über ihn hereinbrechenden Scharfsinns, Johannes und den Evangelisten voneinander zu trennen. Es liest sich das dann folgendermaßen (S. 86/87): Für den Anteil des letztverantwortlichen Evangelisten .... ist F.-M. Braun ängstlich bemüht, ihn in die Rolle eines "Sekretärs" einzuweisen ... Man muß dem hellenistischen Apostolschüler, der das Evangelium niederschrieb, wohl eine noch größere Selbständigkeit zugestehen: denn man kann Form und Inhalt, Sprache und Gedanken nicht auseinanderreißen ... eine gedankliche Durchdringung und einheitliche Austichtung des Stoffes wird man dem 'Evangelisten" nicht absprechen dürfen, da er anders seine Aufgabe kaum lösen konnte, dem Leserkreis Bericht und Botschaft des Apostels Johannes auch in der angemessenen kerygmatischen Form nahezubringen. So wäre der Evangelist einerseits Tradent der Überlieferung und Verkündigung des Apostels Johannes, andererseits doch auch selbst Theologe und Verkündiger für die angesprochenen Leser." Es läßt sich also sogar noch der unbekannte "Evangelist": von einem ebenso unbekannten "Sekretär" fein säuberlich trennen - dem menschlichen Scharfsinn sind nun einmal keine Grenzen gesetzt, vor allem dann nicht, wenn es darum geht, Christus als historische Erscheinung verschwinden zu lassen!
(Fortsetzung folgt) |