Bischof Graf von Galen:
Predigt gegen Euthanasie gehalten am 3.8.1941 in der St. Lambertikirche zu Münster Jesus weint!
Meine lieben Diözesanen!
Eine erschütternde Begebenheit ist es, die das heutige Sonntagsevangelium berichtet: Jesus weint! Der Sohn Gottes weint! Wer weint, der leidet Schmerzen. Schmerzen, am Leibe oder am Herzen. Jesus litt damals noch nicht dem Leibe nach, und doch weinte er. Wie groß muß der Seelenschmerz, das Herzensweh dieses tapfersten der Männer gewesen sein, daß er weinte! Warum weint er? Er weint über Jerusalem, über die heilige ihm so teure Gottesstadt, die Hauptstadt seines Volkes. Er weint über ihre Bewohner, seine Volksgenossen, weil sie nicht erkennen, was allein, die von seiner Allwissenheit vorausgesehenen, von seiner göttlichen Gerechtigkeit vorausbestimmten Strafgerichte abwenden könnte: "Wenn du es doch erkannt hättest, was dir zum Frieden dient." Warum erkennen es die Bewohner Jerusalems nicht?
Nicht lange vorher hat Jesus es ausgesprochen: "Jerusalem, Jerusalem! Wie oft wollte ich deine Kinder versammeln, wie die Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt, aber du hast es nicht gewollt! Ich, dein König, dein Gott, ich wollte, aber du hast nicht gewollt! Wie geborgen, wie behütet, wie beschützt ist das Küchlein unter dem Flügel der Henne, sie wärmt es, sie nährt es, sie verteidigt es. So wollte ich dich hüten, gegen jedes Ungemach verteidigen, ich wollte, du hast nicht gewollt!"
Darum weint Jesus, darum weint dieser starke Mann, darum weint Gott! Über die Torheit, über das Unrecht, über das Verbrechen des Nichtwollens. Und über das daraus entstehende Unheil, das seine Allwissenheit kommen sieht, das seine Gerechtigkeit verhängen muß, wenn der Mensch den Geboten Gottes, allen Mahnungen des Gewissens, allen liebevollen Einladungen des göttlichen Freundes, des besten Vaters sein Nichtwollen entgegensetzt: "Wenn du es doch erkannt hättest, heute an diesem Tage, was dir zum Frieden dient! Aber du hast es nicht gewollt!" Es ist etwas Furchtbares, etwas unerhört Ungerechtes, Verderbenbringendes, wenn der Mensch seinen Willen gegen den Willen Gottes stellt. Ich wollte, du aber hast nicht gewollt. Darum also weint Jesus über die Stadt Jerusalem.
Andächtige Christen! In dem am 6. Juli dieses Jahres in allen katholischen Kirchen Deutschlands verlesenen gemeinsamen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 26. Juni 1941 heißt es unter anderem: Gewiß gibt es nach der katholischen Sittenlehre positive Gebote, die nicht mehr verpflichten, wenn ihre Erfüllung mit all zu großen Schwierigkeiten verbunden wäre. Es gibt aber auch heilige Gewissensverpflichtungen, von denen uns niemand befreien kann, die wir erfüllen müssen, koste es uns selbst das Leben. Nie und unter keinen Umständen darf der Mensch außerhalb des Krieges der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.
Ich hatte schon am 6. Juli Veranlassung, diesen Worten des gemeinsamen Hirtenbriefes folgende Erläuterung hinzuzusetzen: "Seit einigen Monaten hören wir Berichte, daß aus Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke auf Anordnung von Berlin Pfleglinge, die schon länger krank sind und vielleicht unheilbar erscheinen, zwangsweise abgeführt werden. Regelmäßig erhalten die Angehörigen dann nach kurzer Zeit die Mitteilung, der Kranke sei verstorben, die Leiche sei verbrannt, die Asche könne darum abgeliefert werden. Allgemein herrscht der an Sicherheit grenzende Verdacht, daß diese zahlreichen, unerwarteten Todesfälle von Geisteskranken nicht von selbst eintreten, sondern absichtlich herbeigeführt werden, daß man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe sogenanntes "lebensunwertes Leben" vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen, grundsätzlich freigibt!
Dem gegenüber erklären die deutschen Bischöfe: "Nie - und auch unter keinen Umständen - darf der Mensch außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten!" Wie ich zu verlässig erfahren habe, werden jetzt auch in den Heil- und Pflegeanstalten der Provinz Westfalen Listen aufgestellt, von solchen Pfleglingen, die als sogenannte "unproduktive Volksgenossen" abtransportiert und in kurzer Zeit ums Leben gebracht werden sollen. Aus der Anstalt Marienthal bei Münster ist im Lauf der Woche der erste Transport abgegangen.
Deutsche Männer und Frauen! Noch hat Gesetzeskraft der § 211 des Reichsstrafgesetzbuches, der bestimmt: "Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft." Wohl um diejenigen, die jene armen, kranken Menschen, Angehörige unserer Familien vorsätzlich töten, vor dieser gesetzlichen Bestrafung zu bewahren, werden die zur Tötung bestimmten Kranken aus der Heimat abtransportiert in eine entfernte Anstalt. Als Todesursache wird dann irgend eine Krankheit angegeben. Da die Leiche sogleich verbrannt wird, können die Angehörigen und auch die Kriminalpolizei es hinterher nicht mehr fest-stellen, ob die Krankheit wirklich vorgelegen hat und welche Todesursache vorlag. Es ist mir aber versichert worden, daß man im Reichsministerium des Inneren und auch der Dienststelle des Reichsärzteführers Doktor Conti gar kein Hehl draus mache, daß tatsächlich schon eine große Zahl von Geisteskranken in Deutschland vorsätzlich getötet worden ist und in Zukunft getötet werden soll. Das Reichsstrafgesetzbuch bestimmt im § 139 "Wer von dem Vorhaben eines Verbrechens wider das Leben glaubhafte Kenntnis erhält und es unterläßt, der Behörde oder dem Bedrohten hiervon zur rechten Zeit Anzeige zu machen, wird bestraft."
Als ich von dem Vorhaben erfuhr, Kranke aus Marienthal abzutransportieren, um sie zu töten, habe ich dann am 28. Juli bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht in Münster und bei dem Herrn Polizeipräsidenten in Münster Anzeige erstattet durch einen eingeschriebenen Brief mit folgendem Wortlaut: "Nach mir zugegangenen Nachrichten soll im Lauf dieser Woche (man spricht vom 31. Juli) eine große Anzahl Pfleglinge der Provinzialheilanstalt Marienthal bei Münster als sogenannte »unproduktiveVolksgenossen« nach der Heilanstalt Eichberg überführt werden, um dann alsbald, wie es nach solchen Transporten aus anderen Heilanstalten, nach allgemeiner Überzeugung geschehen ist, vorsätzlich getötet zu werden. Da ein derartiges Vorgehen nicht nur dem göttlichen und natürlichen Sittengesetz widerstreitet, sondern auch als Mord nach § 211 des Reichsstrafgesetzbuches mit dem Tode zu bestrafen ist, erstatte ich gemäß § 139 des Reichsstrafgesetzbuches, pflichtgemäß Anzeige und bitte, die bedrohten Volksgenossen unverzüglich durch Vorgehen, die den Abtransport und die Ermordung beabsichtigenden Stellen zu schützen und mir von dem Veranlaßten Nachricht zu geben." Nachricht über ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft oder der Polizei ist mir nicht zugegangen.
Ich hatte bereits ja am 26. Juli bei der Provinzialverwaltung der Provinz Westfalen, der die Anstalten unterstehen, denen die Kranken zur Pflege und zur Heilung anvertraut sind, schriftlich ernstesten Einspruch erhoben, es hat nichts genützt! Der erste Transport, der schuldlos zum Tode Verurteilten, ist von Marienthal abgegangen. Und aus der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Warstein sind, wie ich höre, schon 800 Kranke abtransportiert.
So müssen wir damit rechnen, daß die armen, wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden. Warum? Nicht weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben, nicht etwa, weil sie ihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben, so daß diesem nichts anderes übrig blieb, als daß er zur Erhaltung des eigenen Lebens in gerechter Notwehr dem Angreifer entgegentrat. Das sind Fälle, in denen, neben der Tötung des bewaffneten Landesfeindes im Kriege, Gewaltanwendung bis zur Tötung erlaubt und nicht selten geboten sind.
Nein! Nicht aus solchen Gründen, müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sondern weil sie nach dem Urteil irgend eines Arztes, nach dem Gutachten irgend einer Kommission "lebensun-wert" geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den "unproduktiven Volksgenossen" gehören. Man urteilt: Die können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das lahm geworden ist, sie sind wie eine Kuh, die nicht mehr Milch gibt. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet. Was tut man, mit solch altem Pferd? Mit solch, einem unproduktiven Stück Vieh?
Nein! Ich will den Vergleich nicht zu Ende führen, so furchtbar auch seine Berechtigung ist, seine Leuchtkraft. Es handelt sich ja hier, nicht um Maschinen, es handelt sich nicht um Pferd und Kuh, deren einzige Bestimmung es ist, dem Menschen zu dienen, für den Menschen Güter zu produzieren. Man mag sie zerschlagen, man mag sie schlachten, sobald sie diese Bestimmung nicht mehr erfüllen. Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern. Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Habe ich, hast du nur solange das Recht zu leben, so lange wir produktiv sind? Solange wir als produktiv noch anerkannt werden?
Wenn man einmal den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß man den unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir altersschwach werden, die Invaliden, die im Produktionsprozeß ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben. Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren! Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, unproduktive Mitmenschen zu töten, und wenn es zunächst nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir altersschwach und unproduktiv werden, freigegeben. Dann braucht nur irgend ein Geheimerlaß anzuordnen, daß das bei den Geisteskranken erprobte Verfahren, auf andere "unproduktive" Mitmenschen auch anzuwenden ist, daß es auch bei den unheilbar Lungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Arbeitsinvaliden, bei den schwer kriegsverletzten Soldaten anzuwenden sei. Dann ist keiner von uns mehr seines Lebens sicher: irgend eine Komission kann ihn auf die Liste der "Unproduktiven" setzen, die nach ihrem Urteil "lebensunwert" geworden sind, und keine Polizei wird ihn schützen, und kein Gericht wird seine Ermordung ahnden und den Mörder der verdienten Strafe übergeben. Wer kann noch Vertrauen haben zum Arzt? Vielleicht meldet er den Kranken als "unproduktiv" und erhält Anweisung zu töten.
Es ist nicht auszudenken, welche Verwilderung der Sitten, welch allgemeines Mißtrauen, bis in die Familien hinein getragen wird, bis diese furchtbare Lehre, geduldig angenommen und befolgt wird. Wehe den Menschen, welche unserem deutschen Volk, das Gottesgebot "Du sollst nicht töten!", das der Herr unter Blitz und Donner auf Sinai verkündet hat, das Gott, unser Schöpfer von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern, wenn diese Übertretung sogar geduldig und ungestraft ausgeübt wird.
Ich will euch ein Beispiel sagen, von dem, was jetzt geschieht: In Marienthal, war ein Mann, von etwa 85 Jahren, ein Bauer aus einer Landgemeinde des Münsterlandes, ich könnte euch den Namen nennen, der seit einigen Jahren, unter Geistesstörungen leidet und dem man daher der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Marienthal zur Pflege anvertraut hat. Er war nicht ganz verrückt, er konnte Besuch empfangen und freute sich immer, so oft seine Angehörigen kamen. Noch vor 14 Tagen hatte er Besuch von seiner Frau und einem seiner Söhne, der als Soldat an der Front steht und Heimaturlaub hatte. Der Sohn hängt sehr an seinem kranken Vater. So war der Abschied schwer, wer weiß, ob der Soldat den Vater wiedersieht, denn er kann ja im Kampf für die Volksgenossen fallen. Der Sohn, der Soldat, wird wohl sicher den Vater auf Erden nicht wiedersehen; denn der Vater ist seitdem auf die Liste der "Unproduktiven" gesetzt. Ein Verwandter, der in dieser Woche den Vater in Marienthal besuchen wollte, wurde abgewiesen, mit der Auskunft, der Kranke sei auf Anordnung des Ministerrates für Landesverteidigung von hier abtransportiert. Wohin, könne nicht gesagt werden. Den Angehörigen werde in einigen Tagen Nachricht gegeben werden. Wie wird diese Nachricht lauten? Wieder so wie in andern Fällen? Dass der Mann gestorben sei, dass die Asche gegen Entrichtung einer Gebühr abgeliefert werden könne. Dann wird der Sohn, der im Felde steht und für die deutschen Volksgenossen sein Leben einsetzt, den Vater auf Erden nicht mehr sehen.
"Du sollst nicht töten!"
Gott hat dieses Gebot in das Gewissen der Menschheit geschrieben, längst ehe ein Strafgesetzbuch den Mord mit Strafe bedrohte, längst ehe ein Staatsanwalt und Gericht den Mord verfolgten und ahndeten. Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, er war ein Mörder, lange bevor es Staaten und Gerichte gab. Und er bekannte, gedrängt von der Anklage seines Gewissens: "Grösser ist meine Missetat, als dass ich Verzeihung finden könnte! ... Jeder, der mich findet, wird mich, den Mörder, töten." (Gen. IV, 13.) "Du sollst nicht töten!" Dieses Gebot Gottes, des einzigen Herrn, der das Recht hat, über Leben und Tod zu bestimmen, war von Anfang an in die Herzen der Menschen geschrieben, längst bevor Gott den Kindern Israels am Berge Sinai sein Sittengesetz mit jenen lapidaren, in Stein gehauenen kurzen Gesetzen verkündet hat, die uns die Heilige Schrift aufgezeichnet hat, die wir als Kinder aus dem Katechismus auswendig gelernt haben. "Ich bin der Herr, dein Gott". So heisst dieses unabänderliche Gesetz , so fängt es an. "Du sollst keine fremden Götter neben mir haben." Der einzige ewige, überweltliche, allmächtige, allwissende, unendlich heilige und gerechte Gott hat diese Gebote gegeben.
Unser Schöpfer und einstiger Richter! Aus Liebe zu uns hat er diese Gebote unsern Herzen eingeschrieben und sie verkündet, denn einem Bedürfnis entsprechend sind sie die unabwendbaren Normen eines vernünftigen, eines gottgefälligen, eines heilbringenden und heiligen Menschenlebens und Gemeinschaftslebens. Gott, unser Vater, will mit diesen Geboten uns, seine Kinder, sammeln, wie die Henne ihre Küchlein sammelt unter ihre Flügel. Wenn wir Menschen diesen Befehlen, diesen Einladungen, diesem Rufe Gottes folgen, dann sind wir behütet, geschützt, vor Unheil bewahrt, gegen das drohende Verderben geschützt wie die Küchlein unter dem Flügel der Henne! "Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen, wie die Henne ihre Küchlein sammelt, aber du hast nicht gewollt!" Soll das auf's neue wahr werden in unserm deutschen Vaterlande, in unserer westfälischen Heimat, in unserer Stadt Münster?
Wie steht es in Deutschland, wie steht es hier in unserer Stadt Münster? Wie steht es mit dem Gehorsam gegen die göttlichen Gebote? Das achte Gebot "Du sollst nicht lügen, du sollst kein falsches Zeugnis geben", wie oft wird das frech und öffentlich verletzt! Das siebente Gebot, "Du sollst kein fremdes Gut dir aneignen!" Wessen Eigentum ist noch sicher nach der willkürlichen und rücksichtslosen Enteignung des Eigentums unserer Brüder und Schwestern, die katholischen Orden angehören? Wessen Eigentum ist geschützt, wenn dieses widerrechtlich beschlagnahmte Eigentum nicht zurückerstattet wird? Das sechste Gebot, "Du sollst nicht die Ehe brechen!" Denkt an die Anweisungen und Zusicherungen, die der berüchtigte offene Brief des inzwischen verschwundenen Rudolf Hess, der in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, über den freien Geschlechtsverkehr und die uneheliche Mutterschaft gegeben hat! Was kann man sonst noch über diesen Punkt auch hier in Münster an Schamlosigkeit und Gemeinheit lesen, beobachten und erfahren! An welche Schamlosigkeit in der Kleidung hat sich die Jugend gewöhnen müssen! Vorbereitung des späteren Ehebruches. - Denn es wird die Schamhaftigkeit zerstört, die Schutzmauer der Keuschheit.
Jetzt wird auch das fünfte Gebot, "Du sollest nicht töten!" beiseite gesetzt. Wie steht es mit der Befolgung des vierten Gebotes, das Ehrfurcht gegen die Eltern und Vorgesetzten fordert und Gehorsam? Die Stellung und die Autorität der Eltern ist weithin untergraben und wird mit allen den Anforderungen, die gegen den Willen der Eltern der Jugend auferlegt werden, immer mehr erschüttert. Glaubt man, dass aufrichtige Ehrfurcht und gewissenhafter Gehorsam gegen die staatliche Obrigkeit erhalten bleiben, wenn man fortfährt, die Gebote der höchsten Obrigkeit, die Gebote Gottes, zu übertreten, wenn man sogar den Glauben an den einzig wahren, überwältigenden Gott, den Herrn des Himmels und der Erde, bekämpft, ja auszurottn sucht!
Die Befolgung der ersten drei Gebote ist ja schon lange für die Öffentlichkeit in Deutschland und auch in Münster weithin eingestellt. Von wievielen wird der Sonntag nebst den Feiertagen entweiht und dem Dienste Gottes entzogen! Wie wird der Name Gottes missbraucht, verunehrt und gelästert! Und das erste Gebot, "Du sollst keine fremden Götter neben mir haben"!
Statt des einzig wahren Gottes macht man sich nach Gefallen eigene Götter, um sie anzubeten: die Natur oder den Staat oder das Volk oder die Rasse! Und wieviele gibt es, deren Gott in Wirklichkeit nach den Worten des heiligen Paulus der Bauch ist, das eigene Wohlbefinden, dem sie alles, selbst Ehre und Gewissen, opfern, der Sinnengenuss, der Geldrausch, der Machtrausch! Dann mag man es auch versuchen, sich selbst göttliche Befugnisse anzumassen, sich zum Herrn zu machen über Leben und Tod der Mitmenschen!
"Als Jesus Jerusalem näher kam und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn du es doch erkennen wolltest noch heute an diesem Tage, was dir zum Frieden, dient. Nun aber ist es deinen Augen verborgen. Siehe, es werden Tage über dich kommen, wo deine Feinde zu Boden dich schmettern werden, dich und deine Kinder, und in dir keinen Stein auf dem andern lassen werden, weil du die Tage deiner Heimsuchung nicht erkannt hast."
Mit seinen leiblichen Augen schaute Jesus damals nur die Mauern und die Türme der Stadt Jerusalem. Aber seine göttliche Allwissenheit sah tiefer, erkannte, wie es innerlich mit der Stadt stand und mit ihren Bewohnern. Das ist der grösste Schmerz, der Jesus bedrückte, der seinen Augen Tränen entlockte. "Ich wollte dein Bestes. Aber du wolltest nicht." Jesus sieht das Sündhafte, das Furchtbare, das Verbrechenbringende deines Nichtwollens. Der kleine Mensch, das hinfällige Geschöpf, stellt seinen geschaffenen Willen gegen Gottes Willen, trotzt töricht und verbrecherisch dem Willen Gottes! Darum weint Jesus über die abscheuliche Sünde, über die unausbleibliche Bestrafung. Gott lässt seiner nicht spotten!
Christen von Münster! Hat der Sohn Gottes in seiner Allwissenheit damals nur Jerusalem und sein Volk gesehen? Hat er nur über Jerusalem geweint? Ist das Volk Israel das einzige Volk, das Gott mit Vatersorge und Mutterliebe umgibt, beschützt und an sich gezogen hat? Hat Jesus, der allwissende Gott, damals auch unser deutsches Volk geschaut - auch unser Westfalenland - , Münsterland, den Niederrhein? Hat er auch über uns geweint? Über Münster geweint? Seit tausend Jahren hat er unsere Vorfahren und uns mit seiner Wahrheit belehrt, mit seinem Gesetz geleitet, mit seiner Gnade genährt, uns gesammelt, wie die Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt. Hat der allwissende Gott damals gesehen, dass er in unserer Zeit auch über uns das Urteil sprechen muss: "Du hast nicht gewollt!" Seht, "euer Haus wird verwüstet!" Wie furchtbar wäre das! Meine Christen, ich hoffe, es ist noch Zeit. Aber es ist höchste Zeit! Dass wir doch erkennten, was uns zum Frieden dient, was allein uns retten kann und vor dem göttlichen Strafgericht bewahren! Dass wir rückhaltlos und ohne Abstrich bekennen, dass unser Leben katholisch ist! Dass wir die Gebote zur Richtschnur unseres Lebens machen mit dem Wort: "Lieber sterben als sündigen!" Dass wir in Gebet und aufrichtiger Busse Gottes Verzeihen und Erbarmen herabflehen auf uns, auf unsere Stadt, auf unser liebes deutsches Vaterland!
Wer aber fortfahren will, Gottes Strafgericht herauszufordern, wer unseren Glauben lästern, wer Gottes Gebot verachten will, wer gemeinsame Sache macht mit jenen, die unschuldige Menschen, unsere Brüder und Schwestern, dem Tode überliefern, mit jenen wollen wir vertrauten Umgang meiden, deren Einfluss wollen wir uns und die Unsrigen entziehen, damit wir nicht angesteckt werden von ihrem gottwidrigen Denken und Handeln, damit wir nicht mitschuldig werden und somit anheimfallen dem Strafgericht, das der gerechte Gott verhängen muss und verhängen wird über alle, die gleich der undankbaren Stadt Jerusalem nicht wollen, was Gott will.
O Gott, lass uns doch alle heute, an diesem Tage, bevor es zu spät ist, erkennen, was uns zum Frieden dient! O Herz Jesu, bis zu Tränen betrübt über die Verblendung und die Missetaten der Menschen, hilf uns mit deiner Gnade, dass wir stets das erstreben, was dir gefällt und auf das verzichten, was dir missfällt, damit wir in deiner Liebe bleiben und Ruhe finden für unsere Seelen. Amen.
(aus: "Das Neue Volk - Parteipolitisch unabhängiges Organ im Sinne der katholischen Aktion" Rorschach / Schweiz, 15.11.1941; u.a. wieder abgedruckt in CHRIST UND ZUKUNFT Nr. 69, 4. Quartal 1997, S. 1730-1732) |