Enzyklika »Pascendi Dominici gregis«
von
Papst Pius X.
vom 8. September 1907 über die Lehren der Modernisten 1)
An die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe, Bischöfe und anderen
Ortsordinarien, die Frieden und Gemeinschaft mit dem Apostolischen
Stuhl haben.
Ehrwürdige Brüder! Heilsgruß und Apostolischen Segen!
1. Das Amt, das Uns durch Gott übertragen wurde, die Herde des Herrn zu
weiden, hat Christus vor allem die Aufgabe zugewiesen, den Schatz des
überlieferten heiligen Glaubens auf sorgfältigste Weise zu hüten und
profane Neuerungen und Einwendungen der sogenannten Wissenschaft
zurückzuweisen. Zu aller Zeit war diese Sorge des Obersten Hirten für
das katholische Volk ein notwendi-ges Anliegen, denn dem Feind des
Menschengeschlechtes hat es niemals an Leuten gefehlt, die Verkehrtes
reden 2), die mit ihren nichtigen Reden zu Verführern werden 3), oder
an betrogenen Betrügern 4). Man kann es nicht leugnen, daß in der
letzten Zeit die Zahl der Feinde des Kreuzes Christi um eine große
Anzahl gewachsen ist. Mit neuen, hinterlistigen Taten versuchen sie die
Lebenskraft der Kirche zu brechen und, wenn es ihnen möglich ist, das
Reich Christi selbst von Grund auf zu zerstören. Deshalb dürfen Wir
nicht länger schweigen, um Unserer heiligsten Aufgabe nicht die Treue
zu brechen und um die Milde, welche Wir bisher in der Hoffnung walten
ließen, daß man sich eines Besseren besinnen würde, Uns nicht als
Pflichtvergessenheit anlasten zu lassen.
2. Wir sind nun gezwungen, Unser Zögern nicht weiter auszudehnen, da
die Verfechter dieser Irrtümer bereits nicht mehr nur ausschließlich
unter den öffentlichen Feinden zu finden sind. Zu Unserem größten
Schmerz und Unserer höchsten Beschämung müssen wir die Worte
gebrauchen: Sie lauern bereits im Inneren der Kirche selbst, wörtlich
gesprochen, am Busen und im Schoße der Kirche. Sie sind um so
gefährlicher, je weniger sie bekannt sind. Ehrwürdige Brüder, Wir sind
der Meinung, daß sich viele aus der katholischen Welt der Laien und –
noch viel schlimmer – sogar aus den Reihen des Klerus, die sich unter
dem Deckmantel der Liebe zur Kirche verstecken, ohne Grundlage einer
soliden Philosophie und Theologie, vergiftet durch falsche Lehren, die
sie aus dem Munde der Feinde zu hören bekamen, und jede Bescheidenheit
beiseite rückend als Reformatoren der Kirche aufspielen. Kühn
versammeln sie sich in ihren Reihen, greifen das Heiligste des Werkes
Christi an und verschonen dabei nicht einmal die göttliche Person des
Erlösers selbst, den sie mit blasphemischer Frechheit zu einem
armseligen Menschen herabwürdigen.
3. Diese Leute mögen sich wundern, wenn Wir sie zu den Feinden der
Kirche zählen. Über das Innerste ihres Herzens wird nur Gott alleine
richten. Wem jedoch ihre Lehren, ihre Redewendungen und ihre
Handlungsweisen bekannt sind, der kann sich darüber nicht wundern. Es
entspricht absolut der Wahrheit, daß sie schlimmer sind als alle
anderen Feinde der Kirche. Wie bereits erwähnt, schmieden sie ihre
Pläne, die Kirche ins Verderben zu stürzen, nicht nur außerhalb,
sondern auch im Inneren der Kirche. Im Blute der Kirche, in ihrem
tiefsten Inneren, hat sich diese Gefahr festgesetzt. Deshalb wird ein
Schaden für die Kirche um so sicherer, je genauer sie die Kirche
kennen. Dazu kommt noch, daß sie nicht nur an die Äste und Zweige,
sondern tief an die Wurzel ihre Hand legen: an den Glauben und an die
tiefsten Fasern des Glaubens. Ist aber diese Wurzel des Lebens einmal
getroffen, dann werden sie das Gift in dem ganzen Baum verbreiten. An
der katholischen Wahrheit werden sie kein Stück unberührt oder
unverdreht lassen. Sie kennen viele tausend Arten, um Schaden
anzurichten.
Dabei verhalten sie sich äußerst gewandt und schlau. Abwechselnd
spielen sie die Rolle des Rationalisten und des Katholiken in einer
derart gewandten Weise, daß sie jeden harmlos Denkenden mit
Leichtigkeit zu ihrem Irrtum bekehren können. Auch läßt ihre
Verwegenheit sie vor keinen Konsequenzen zurückschrecken. Mit frecher
Stirn und kaltem Blut drängen sie sogar dazu. Dazu kommt noch ihr
äußerst tätiges Leben, ihre ständige, eifrige Beschäftigung mit
gelehrten Arbeiten aller Art und oft eine zur Schau getragene
Sittenstrenge. Dies alles trägt um so leichter dazu bei, sich in ihnen
zu täuschen. Mit ihren Fachstudien sind sie schließlich an einem Punkt
angekommen, an dem sie keine Autorität mehr anerkennen und sich keine
Beschäftigungen mehr gefallen lassen wollen. Auf diese Weise haben sie
ihr eigenes Gewissen getäuscht und möchten das Wahrheitsdrang nennen.
In Wirklichkeit handelt es sich dabei nur um Stolz und Hartnäckigkeit.
Man sollte dabei fast an jedem Heilmittel zweifeln.
Wir hatten gehofft, daß Wir diese Männer doch noch zur Besinnung
bringen könnten. So haben Wir sie zuerst mit väterlicher Milde
behandelt, dann mit Strenge; schließlich sahen Wir Uns gezwungen,
öffentlich gegen sie einzuschreiten. Euch ist bekannt, ehrwürdige
Brüder, daß alle Mühen vergeblich waren. Kaum hatten sie für einen
Augenblick den Nacken gebeugt, erhoben sie ihn erneut mit noch größerer
Kühnheit. Wenn es sich nur um sie handeln würde, könnte man dies
vielleicht durchgehen lassen. Da jedoch der katholische Glaube selbst
gefährdet ist, wäre es eine große Sünde, wenn wir noch länger Schweigen
würden. Wir müssen reden und ihnen vor der gesamten Kirche die Maske
vom Gesicht reißen, die doch ihr wahres Wesen nur halb verhüllt.
4. Die Modernisten – so werden sie im allgemeinen sehr richtig
bezeichnet – gebrauchen den schlauen Kunstgriff, ihre Lehren nicht
systematisch und einheitlich, sondern stets nur vereinzelt und ohne
Zusammenhang vorzutragen. Dadurch erwecken sie den Anschein des Suchens
und Tastens, während sie davon fest und entschieden überzeugt sind.
Deshalb ist es gut, ehrwürdige Brüder, diese Lehren zunächst im
Ãœberblick darzustellen, um aufzuzeigen, in welchem Zusammenhang sie
stehen. Erst danach ist es angebracht, nach dem Grund des Ãœbels zu
suchen und die Mittel vorzuschreiben, durch welche das Unheil
abgewendet werden kann.
5. Um aber in dieser schwierigen Frage schrittweise vorzugehen, merken
Wir an dieser Stelle zu-nächst an, daß jeder Modernist sozusagen
mehrere Rollen in einer Person spielt. Er ist Philosoph, Gläubiger,
Theologe, Historiker, Kritiker, Apologet und Reformator. Diese Rollen
müssen gut unterschieden werden, wenn man das System richtig verstehen
und die Prämissen und Konsequenzen ihrer Lehren durchschauen will.
6. Beginnen wir zunächst mit der Philosophie. Das Fundament der
Religionsphilosophie setzen die Modernisten in jene Lehre, die man
gemeinhin Agnostizismus nennt. Ihr zufolge ist der menschliche Verstand
gänzlich eingeschlossen von den Phänomenen, das heißt: von den Dingen,
die in Erscheinung treten, und von derjenigen Gestalt, in welcher sie
in Erscheinung treten; deren Grenzen zu überschreiten, habe er weder
Recht noch Macht. Darum sei er auch nicht imstande, sich zu Gott
erheben, noch dessen Existenz – auf welche Weise auch immer – aus den
sichtbaren Dingen zu erkennen. Von hieraus wird argumentiert, daß Gott
in keiner Weise unmittelbar Gegenstand der Wissenschaft sein könne; was
aber die Geschichte betreffe, so sei Gott keinesfalls als
geschichtliches Subjekt zu betrachten. – Dies vorausgesetzt, wird
jedermann leicht durchschauen, was dann aus der natürlichen Theologie,
was aus den Beweggründen für die Glaubwürdigkeit, was aus der äußeren
Offenbarung werden muß. All das nämlich fegen die Modernisten
vollständig hinweg und verbannen es zum Intellektualismus, den sie ein
lächerliches, vor langer Zeit untergegangenes System nennen. Sie stören
sich auch nicht daran, daß die Kirche solche Ungeheuerlichkeiten klar
und eindeutig verurteilt hat.
Das Vatikanische Konzil bestimmte: Wenn jemand behauptet, der eine
wahre Gott, unser Schöpfer und Herr, könne aus den Geschöpfen durch das
Licht der menschlichen Vernunft nicht mit Sicherheit erkannt werden, so
sei er im Banne 5). Ferner: Wenn jemand behauptet, es sei nicht möglich
oder nicht gut, daß der Mensch durch göttliche Offenbarung über Gott
und den ihm schuldigen Kult belehrt wird, so sei er im Banne 6).
Schließlich: Wenn jemand behauptet, die göttliche Offenbarung könne
nicht durch äußere Zeichen beglaubigt werden, so daß man deshalb nur
durch die eigene Erfahrung oder durch eine besondere Erleuchtung zum
Glauben bestimmt werden kann, der sei im Banne 7).
Wie nun ein Modernist vom rein negativen Agnostizismus zum
wissenschaftlichen und historischen Atheismus gelangt, also zu einer
positiven Leugnung, und nicht weiß, ob Gott in die Weltgeschichte
eingegriffen hat oder nicht, und mit welchem Recht er nun die
Schlußfolgerung ziehen darf, die Geschichte so erklären zu müssen, als
ob Gott tatsächlich nicht eingegriffen habe, ist schwer verständlich.
Trotzdem steht es für die Modernisten durchaus fest, daß die
Wissenschaft und die Geschichte keinen Gott kennen dürfen. In ihrem
Bereich gibt es nur Phänomene, die für Gott und göttliche Dinge absolut
keinen Platz haben. Daraus wird man bald eindeutig erkennen, was diese
bodenlose Doktrin aus der heiligsten Person Christi, aus den
Geheimnissen Seines Lebens, Seines Leidens sowie aus Seiner
Auferstehung und Seiner Himmelfahrt macht.
7. Der Agnostizismus bildet jedoch nur den negativen Teil der
modernistischen Lehre. Der positive Teil wird vitale Immanenz genannt.
Der Übergang von einem zum anderen Teil besteht darin, daß sowohl die
natürliche als auch die übernatürliche Religion, wie jede andere
Tatsache auch, einer Erklärung bedarf. Nachdem man jedoch die
natürliche Theologie beseitigt, durch Leugnung der Beweggründe des
Glaubens zur Offenbarung den Weg versperrt und selbst jede äußere
Offenbarung zu einer Unmöglichkeit gemacht hat, sucht man außerhalb des
Menschen vergeblich nach einer Erklärung. Sie muß sich also im Menschen
selbst finden. Da die Religion eine Lebensäußerung ist, kann die
Erklärung nur im Leben des Menschen liegen. Daher kommt das Prinzip der
religiösen Immanenz. Für jedes Lebensphänomen, zu dem nach dem Gesagten
auch die Religion zählt, liegt der letzte Grund in einem gewissen
Bedürfnis oder Antrieb. Nehmen wir jedoch das Leben im engeren Sinne,
dann ist der Beginn eine Bewegung des Herzens, das Gefühl. Gott ist der
Gegenstand der Religion. Daher ergibt sich die Schlußfolgerung, daß der
Glaube, der den Beginn und die Grundlage einer jeden Religion
darstellt, aus einem tiefen, innerlichen Gefühl bestehe, welches im
Bedürfnis nach dem Göttlichen seinen Ursprung finde. Dieses Bedürfnis
nach dem Göttlichen könne jedoch eigentlich nicht in den Bereich des
Bewußten gehören, da es sich nur unter besonders günstigen Bedingungen
rege. Vielmehr verbleibe es zunächst unterhalb des Bewußtseins. Der aus
der modernen Philosophie hierfür ausgeliehene Ausdruck lautet: im
Unterbewußtsein. Dort verberge sich auch seine Wurzel, die wir nicht
fassen können.
Sollte jemand fragen, wie dieses Bedürfnis nach dem Göttlichen, welches
der Mensch in sich verspüren soll, zur Religion wachse, dann antworten
die Modernisten so: Wissenschaft und Geschichte seien, sagen sie, von
zwei Grenzen eingeschlossen: von einer äußeren, nämlich der sichtbaren
Welt; und von einer inneren, dem Bewußtsein. Wenn eine dieser Grenzen
erreicht ist, führe kein Weg mehr weiter, denn jenseits liege das Reich
des Unerkennbaren. Angesichts dieses Unerkennbaren, ob es nun außerhalb
des Menschen liege und jenseits der sichtbaren Natur oder ob es
innerhalb im Unterbewußtsein ruhe, errege das Bedürfnis nach dem
Göttlichen in einem schon der Religion zugeneigten Gemüt ein besonderes
Gefühl, so wie es der Fideismus will, ohne daß dabei ein Urteil der
Vernunft vorausgehe. In diesem Gefühl ist aber die göttliche Realität
als sein Gegenstand und ebenso als seine letzte Ursache enthalten. An
dieser Stelle tritt der Mensch in Wechselwirkung mit Gott. Dieses
Gefühl nennen die Mondernisten den Glauben. Für sie bedeutet dieses
Gefühl den Anfang der Religion.
8. Ihre Philosophie – oder besser gesagt: ihr Wahnsinn – ist jedoch an
dieser Stelle noch nicht zu Ende. In dem beschriebenen Gefühl finden
sie nicht nur den Glauben, sondern bei dem Glauben und in dem so
verstandenen Glauben liegt nach ihrer Meinung zugleich auch die
Offenbarung. Welches Kriterium wäre für die Offenbarung sonst noch
nötig? Soll man es etwa nicht Offenbarung oder den Beginn der
Offenbarung nennen, wenn das religiöse Gefühl im Bewußtsein auftaucht?
Sollte man nicht sagen, daß sich Gott in diesem religiösen Gefühl
selbst offenbart, wenn auch noch nicht klar? Weiter heißt es: Gott ist
gleichzeitig Gegenstand und Ursache des Glaubens. In gleicher Weise muß
man daher von der Offenbarung sagen, daß sie von Gott handelt und auch
von ihm herrührt. Gott ist zugleich der Offenbarende und der
Geoffenbarte. Auf diese Weise, ehrwürdige Brüder, kommen die
Modernisten zu der absurden Behauptung, jede Religion ist zugleich
natürlich und übernatürlich, je nach dem von welchem Standpunkt aus sie
betrachtet wird. Aus diesem Grund gebrauchen sie Bewußtsein und
Offenbarung im gleichen Sinn. Daher besagt ihr Gesetz, daß das
religiöse Bewußtsein die allgemeine Norm darstellt und mit der
Offenbarung auf einer Stufe steht. Ihr muß sich alles beugen, selbst
die höchste kirchliche Gewalt, ob sie nun Lehren, kultische oder
Disziplinarsatzungen aufstellt.
9. Eines muß jedoch bei diesem Werdegang des Glaubens und der
Offenbarung, wie ihn sich die Modernisten denken, wohl beachtet werden.
Für die historisch-kritischen Konsequenzen, welche sie daraus ziehen,
ist dies von höchster Bedeutung. Sie reden von dem Unerkennbaren, das
sich jedoch gegenüber dem Glauben nicht rein und losgelöst darbietet.
Vielmehr steht es im engsten Zusammenhang mit irgendeinem Phänomen.
Auch wenn ein solches in das Gebiet der Wissenschaft oder der
Geschichte fällt, so ragt es doch auch wieder über dieses Gebiet
hinaus. Dieses Phänomen kann eine Tatsache innerhalb der Natur sein,
die jedoch wiederum etwas Geheimnisvolles in sich verbirgt, oder ein
Mensch, dessen Charakter, Handlungen oder Worte sich nicht mit den
gewöhnlichen Gesetzen der Geschichte in Einklang bringen lassen. Daraus
resultiert, daß der Glaube, angeregt von dem Unerkennbaren, das mit dem
Phänomen verbunden ist, die Gesamtheit des Phänomens erfaßt und es in
gleicher Weise mit seinem eigenen Leben durchdringt. Dieser Hergang
führt zu einer doppelten Folge. Zuerst kommt es zu einer Verklärung des
Phänomens, indem dieses über seine wirklichen Verhältnisse
hinausgehoben wird, um es für die Aufnahme des göttlichen Charakters,
welchen der Glaube hineinlegt, geeigneter zu machen. Dann entsteht,
wenn man es so ausdrücken darf, eine Art Entstellung des Phänomens,
indem es der Glaube aus den Bedingungen des Ortes und der Zeit
herauslöst und dem zuschreibt, was ihm eigentlich nicht gehört. Dies
geschieht besonders bei Phänomenen, die der Vergangenheit angehören,
und in einem höheren Grad, um so älter sie sind. Daraus ergeben sich
für die Modernisten zwei Kanones, die in Verbindung mit den bereits aus
dem Agnostizismus gewonnenen Erkenntnissen die Grundlage der
historischen Kritik bilden.
Ein Beispiel wird Licht in das Dunkel bringen. Nehmen wir die Person
Christi. Es heißt, daß die Wissenschaft und die Geschichte in der
Person Christi nichts anderes als einen Menschen erblicken kann. Daher
ist Kraft des ersten Kanons, wie ihn der Agnostizismus diktiert, aus
Seiner Geschichte alles zu streichen, was nach Göttlichem aussieht.
Nach dem zweiten Kanon hat der Glaube die Person Christi verklärt.
Daher ist alles, was sie über die geschichtlichen Verhältnisse erhebt,
in Abzug zu bringen. Nach dem dritten Kanon wurde schließlich die
Person Christi auch entstellt. Kurz gesagt bedeutet das, alles was an
Seinen Reden und Taten, Seinem Charakter, Seinem Stand, Seiner
Erziehung und an dem örtlichen und zeitlichen Milieu nicht stimmt, ist
in Abrede zu stellen. Das Schlußverfahren ist zwar sonderbar, stellt
jedoch eindeutig die Kritik des Modernisten dar.
10. Das religiöse Gefühl, wie es durch die vitale Immanenz aus den
Tiefen des Unterbewußtseins entspringt, ist der Ursprung aller
Religionen sowie von allem, was in jeder Religion einmal zu Tage
getreten ist, oder was noch zu Tage treten wird. Am Anfang ist dieses
Gefühl noch roh und sozusagen formlos. Unter dem Einfluß jenes
geheimnisvollen Prinzips, welches ihm das Dasein gegeben hat,
entwickelt es sich allmählich im gleichen Schritt mit der Entwicklung
des menschlichen Lebens, da es selbst nichts anderes als eine
Lebensäußerung ist. Das wäre die Entstehungsgeschichte einer jeden
Religion, auch der übernatürlichen, da es sich bei allem nur um die
Entfaltung des religiösen Gefühls handelt. Auch der Katholizismus ist
davon nicht ausgenommen, da er in gleicher Weise wie alle anderen
Religionen behandelt wird. Im Bewußtsein Christi, dessen Genius
einzigartig ist, den niemals ein Mensch erreicht hat oder erreichen
kann, ist dieser auf keine andere Weise als nur im Prozeß der vitalen
Immanenz entstanden. Man ist starr vor Staunen, wenn man diese
verwegenen Behauptungen und Blasphemien zu hören bekommt! Trotzdem,
ehrwürdige Brüder, wagen es nicht nur Ungläubige, diese Behauptungen in
die Welt zu setzen. Tatsächlich bekennen sich dazu in aller
Öffentlichkeit auch Katholiken, sogar manche Priester, die mit einem
solchen Wahnsinn die Kirche erneuern wollen. Dadurch wird der alte
Irrtum übertroffen, wonach die menschliche Natur in einem gewissen Sinn
ein Recht auf die übernatürliche Ordnung haben sollte. Vielmehr ist man
sehr viel weiter gegangen. Man behauptet, unsere heilige Religion sei,
im Menschen Christus und in gleicher Weise auch in uns, aus unserer
eigenen Natur und ohne fremde Unterstützung geboren. Es ist nicht
möglich, noch gründlicher mit der gesamten übernatürlichen Ordnung
aufzuräumen. Das Vatikanische Konzil hatte daher sehr wohl begründet
und bestimmt: Wenn jemand behauptet, der Mensch kann von Gott nicht zu
einer Erkenntnis oder einer Vollkommenheit erhoben werden, die über die
natürliche hinausgeht, sondern er kann und muß selbst in ständigem
Fortschritt schließlich zum Besitz des Wahren und Guten gelangen, der
sei im Banne 8).
11. Bis zu dieser Stelle kann es den Anschein haben, ehrwürdige Brüder,
daß für die Vernunft kein Platz mehr übrig geblieben ist. Aber auch die
Vernunft hat nach der Lehre der Modernisten am Zustandekommen des
Glaubensaktes seinen Anteil. Interessant ist dabei ihre Denkweise. In
dem bereits oft erwähnten Gefühl soll sich zwar Gott dem Menschen
zeigen, da man jedoch durch das Gefühl alleine zu keiner Erkenntnis
gelangt, geschieht dies nur wenig deutlich und präzise, so daß er sich
vom glaubenden Subjekt kaum oder gar nicht unterscheiden läßt. Deshalb
benötigt das Gefühl eine eigene Durchleuchtung, damit Gott überhaupt
eindeutig hervortritt. Das ist nun die Aufgabe der denkenden und
analysierenden Vernunft. Mit der Vernunft formt der Mensch seine
inneren Lebensphänomene zu Erkenntnisbildern um. Erst danach ist es ihm
möglich, dies in Worten auszudrücken. Daher stammt das den Mondernisten
geläufige Wort, daß der religiöse Mensch seinen Glauben denken müsse.
Zum Gefühl tritt also die Vernunft hinzu, die ihren Blick auf dasselbe
richtet, so wie ein Maler daran arbeitet, der die verlöschenden Linien
eines Gemäldes mustert, um sie dann wieder klarer hervorheben zu
können. In etwa dieser Weise spricht einer der Führer der Modernisten
darüber. Die Vernunft arbeite bei dieser Tätigkeit auf doppelte Weise;
zuerst in einem natürlichen und spontanen Akt, wobei sie den Gegenstand
in einem einfachen, volkstümlichen Satz ausdrücke; sodann aber,
reflektiert und gründlicher – oder, wie sie sagen, durch Ausarbeitung
des Gedankens –, werde der durchdachte Gegenstand in sekundären Sätzen
ausgesprochen, abgeleitet von jenem ersten, einfachen, jedoch
ausgefeilter und klarer unterschieden. Wenn diese sekundären Sätze
endlich vom höchsten Lehramt der Kirche bestätigt seien, bildeten sie
das Dogma.
12. Dadurch gelangt die modernistische Lehre schließlich zu ihrem
Hauptbestandteil, zum Ursprung und zum innersten Wesen des Dogmas. Die
Entstehung des Dogmas wird in diese ursprünglichen und einfachen
Formeln gelegt, welche in etwa für den Glauben notwendig sind, denn um
eine wirk-liche Offenbarung zu erhalten, muß im Bewußtsein eine
eindeutige Erkenntnis Gottes vorhanden sein. Es scheint jedoch, daß sie
das eigentliche Dogma in den sekundären Sätzen finden wollen. Um sein
Wesen erfassen zu können, muß man zuerst die Frage stellen: Wie
verhalten sich die religiösen Formeln gegenüber dem religiösen Gefühl?
Die Antwort ist leicht gefunden, wenn man nur festhält, daß derartige
Formeln einzig und allein dem Zweck dienen, den Gläubigen zu
ermöglichen, sich von seinem Glauben Rechenschaft abzugeben. Sie stehen
also in der Mitte zwischen dem Gläubigen und seinem Glauben. Für den
Glauben sind sie nur unzulängliche Zeichen für seinen Inhalt, Symbole,
wie man sie gewöhnlich nennt. Für den Gläubigen stellen sie allerdings
reine Hilfsmittel dar.
Es läßt sich also in keiner Weise festlegen, daß sie absolut die
Wahrheit enthalten, denn die Symbole sind die Bilder der Wahrheit und
müssen sich als solche dem religiösen Gefühl und seiner Beziehung zum
Menschen anpassen. Als Hilfsmittel dienen sie den Wegen zur Wahrheit
und sind daher ebenfalls dem Menschen und seiner Beziehung zum
religiösen Gefühl anzupassen. Gegenstand des religiösen Gefühls ist das
Absolute, das unendlich viele Erscheinungsweisen aufweist, und daher
bald in vielen verschiedenen Formen hervortreten kann. Ebenso kann sich
auch der gläubige Mensch in vielen verschiedenen Lagen befinden. Daher
müssen diesem Wechsel auch die Formeln unterliegen, die wir Dogmen
nennen, und notwendigerweise ebenso veränderlich sind. Dadurch stehen
der inneren Entwicklung des Dogmas sämtliche Türen offen. Sophismen
über Sophismen, welche die gesamte Religion vollkommen zugrunde richten!
13. Die Möglichkeit, besser gesagt, die Notwendigkeit einer Entwicklung
und Veränderung des Dogmas, wird von den Modernisten nicht nur
hartnäckig behauptet, sondern sie stellt die notwendige Folge ihrer
Ansichten dar. Es gehört für sie zu den wichtigsten Lehren, die sich
für sie aus dem Prinzip der vitalen Immanenz ergibt. Die religiösen
Formeln, wenn sie wirklich religiös sind und kein reines Spiel des
Verstandes darstellen, müssen lebendig und vom Leben des religiösen
Gefühls selbst beseelt sein. Das soll nicht bedeuten, daß diese
Formeln, besonders wenn sie nur einer Vor-stellung Ausdruck geben, nach
der Maßgabe des religiösen Gefühls erfunden werden müßten. Sowohl der
Ursprung, als auch die Anzahl und Art sind nicht wichtig. Vielmehr muß
sich diese das religiöse Gefühl lebendig aneignen, wenn es notwendig
ist, auch mit einer gewissen Umgestaltung. Mit anderen Worten
gesprochen, bereits die Urformel muß vom Herzen angenommen und
bestätigt werden.
Auch bei der Ausarbeitung der sekundären Formel muß das Herz die
Führung haben. Daher müssen die Formeln, wenn sie lebendig sein wollen,
dem Glauben und dem Gläubigen in gleicher Weise angepaßt sein und
bleiben. Wenn aus irgendeinem Grund dieses Angepaßtsein aufhören
sollte, verlieren sie ihren ursprünglichen Wert und bedürfen der
Änderung. Die dogmatischen Formeln sind nur wenig bedeutend und auch
sehr kurzlebig. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich der Spott
und die Verachtung der Modernisten in reicher Fülle über sie ergießt,
während das religiöse Gefühl und das religiöse Leben nach ihrem
Dafürhalten alles darstellt. Sie scheuen sich auch nicht davor, der
Kirche vorzuwerfen, sie würde auf einer abschüssigen Bahn wandeln, wenn
sie zwischen der äußerlichen Bedeutung der Formeln und ihrem religiösen
und moralischen Wert keine Unterscheidung kennt, sich jedoch mit
vergeblicher Anstrengung an sinnlose Formeln klammert und dabei die
Religion zugrunde gehen läßt. Diese blinden Führer haben im Taumel
ihrer hochmütigen Arroganz über das Wissen sogar die ewig wahren
Begriffe von Wahrheit und Religion verändert. Begründet auf ein neues
System und in wilder, zügelloser Jagd nach Neuem vergessen sie, die
Wahrheit an der Stelle zu suchen, wo sich ihre sichere Stätte befindet.
Die heiligen, apostolischen Überlieferungen werden verachtet und dafür
andere, eitle, nichtige und ungewisse Lehren eingesetzt, die von der
Kirche nicht gebilligt werden. In ihrer Verblendung vertreten sie die
Meinung, daß sie selbst die Wahrheit stützen und halten können 9).
14. So viel, ehrwürdige Brüder, über den Modernisten als Philosophen. –
Geht man einen Schritt weiter und fragt sie nach dem Unterschied
zwischen dem Gläubigen und dem Philosophen, so ist zu beachten, daß der
Philosoph zwar die Realität des Göttlichen annimmt, sofern es sich
dabei um dasselbe Objekt des Glaubens handelt, diese Realität jedoch
ausschließlich im Geiste des Gläubigen als Gegenstand eines Gefühls
oder als eine Aussage gelten läßt, aber nicht über den Rahmen der
Erscheinungswelt hinausgeht. Den Philosophen interessiert es nicht, ob
diese Realität auch außerhalb des Gefühls oder einer solchen Aussage
besteht. Für den Modernisten als Gläubigen steht es dagegen sehr wohl
fest, daß das Göttliche eine Realität in sich selbst hat und in keiner
Weise vom Gläubigen abhängt. Will man wissen, worauf sich diese
Behauptung des Gläubigen gründet, so erhält man als Antwort: Auf die
eigene Erfahrung. Wenn sie sich durch diese Antwort von den
Rationalisten entfernen, so fallen sie damit auf der anderen Seite in
den Irrtum der Protestanten und falschen Mystiker. Sie erklären dies
folgendermaßen. Im religiösen Gefühl würde eine Art Intuition des
Herzens liegen. Damit würde man ohne jede Vermittlung die Realität
Gottes selbst erfassen und dadurch zu einer Ãœberzeugung von Gottes
Dasein und seinem Wirken innerhalb und außerhalb des Menschen gelangen,
wie sie keine Wissenschaft geben kann. Sie nehmen also eine eigentliche
Erfahrung an, die besser ist, als alle Erfahrungen, die sich aus der
Vernunft begründen. Leugnet einer dieselbe nach dem Vorbild der
Rationalisten, dann begründen sie diese Ansicht damit, daß man sich
nicht in die rechte moralische Verfassung versetzen will, um die
Erfahrung zu machen. Jeder, der diese Erfahrung erlebt hat, wird im
eigentlichen und wahren Sinn zum Gläubigen. Von den katholischen
Anschauungen ist diese Ansicht weit entfernt. Wie bereits erwähnt,
wurden durch das Vatikanische Konzil diese Irrtümer bereits verurteilt.
Wie leicht diese Ansichten in Verbindung mit den zuvor erwähnten
Irrtümern zum Atheismus führen können, wird an einer späteren Stelle
noch aufgezeigt.
Zunächst sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß nach dieser Lehre
von der Erfahrung, verbunden mit der anderen Lehre des Symbolismus,
jede Religion, auch die heidnische, als wahr anzuerkennen ist. Warum
sollten diese Erfahrungen nicht auch in jeder beliebigen Religion
gemacht werden? Mehr als einer spricht davon, diese Erfahrungen gemacht
zu haben. Mit welchem Recht sollte ein Modernist eine Erfahrung als
unwahr ablehnen, wenn ein Türke dafür bürgt. Warum sollten nur die
Erfahrungen der Katholiken als wahr gelten? Auch die Modernisten
handeln nicht auf diese Weise. Die einen deuten es an, die anderen
sprechen es offen aus – alle Religionen sind wahr. Offenbar bleibt auch
keine andere Ansicht übrig. Aus welchem Grund könnte in ihrem System
eine Religion überhaupt falsch sein? Entweder irrt das religöse Gefühl,
oder die vom Verstand aufgestellte Formel. Das religiöse Gefühl ist
jedoch überall ein- und dasselbe, vielleicht mit der Einschränkung, daß
es an der einen oder anderen Stelle etwas weniger vollkommen ist. Für
die Wahrheit der Verstandesformel ist es ausreichend, wenn sie dem
religiösen Gefühl und dem gläubigen Menschen zusagt, ohne auf die
Schärfe seines Verstandes Rücksicht zu nehmen. Der Modernist könnte im
Wettkampf der verschiedenen Religionen höchstens ein Argument geltend
machen, und zwar, daß der Katholizismus mehr Wahrheit enthält, weil er
lebendiger ist. Ferner würde er dem Namen einer christlichen Religion
mehr entsprechen, weil er dem ursprünglichen Christentum auf
vollkommenere Weise entspricht. Daß sich alle diese Folgerungen aus den
vorgelegten Daten wirklich ergeben, kann niemand übersehen. Dagegen ist
es sehr verwunderlich, daß es Katholiken und Priester geben kann, die
solche Monstrositäten zwar verabscheuen, zumindest nehmen Wir das zu
ihren Gunsten an, sich jedoch so verhalten, als würden sie dieselben
billigen. Gerade die Verfechter dieser Irrtümer werden von ihnen auf so
hohe Weise gerühmt und öffentlich gefeiert, daß man fast zu der Ansicht
gelangen kann, die Anerkennung gelte weniger den Männern, die sicher in
irgendeinem Teilbereich ihre persönlichen Verdienste haben, als
vielmehr den falschen Lehren, die sie offen vertreten und dabei
versuchen, diese auf jede Art und Weise unter das Volk zu bringen.
15. Doch diese Lehre von der Erfahrung ist – über das Gesagte hinaus –
noch in einer weiteren Hinsicht dem katholischen Glauben vollständig
entgegengesetzt: Denn sie wird auch auf die Tradition angewandt, an der
die katholische Kirche bisher immer festgehalten hat, und wird dadurch
einfach vernichtet. Die Modernisten verstehen unter der Tradition eine
Art Mitteilung der ursprünglichen Erfahrung durch die Predigt mittels
der Verstandesformel. Außer der repräsentativen Kraft, wie sie sich
ausdrücken, soll die Formel auch eine suggestive Wirkung haben. Auf der
einen Seite äußert sich diese im Glaubenden selbst, indem sie sein etwa
eingeschlafenes religiöses Gefühl aufweckt und die einstmals gemachte
Erfahrung wiederbelebt. Sie erstreckt sich jedoch auch auf Personen,
die noch nicht glauben. Zuerst ruft sie in ihnen das religiöse Gefühl
hervor und bewirkt dadurch ihre erste Erfahrung. Auf diese Weise findet
die religiöse Erfahrung eine weite Verbreitung innerhalb der
Menschheit, nicht nur durch die Predigt vor den Zeitgenossen, sondern
auch ausgedehnt auf spätere Geschlechter, durch Bücher und durch
mündliche Überlieferung. Manchmal kann die auf diese Weise mitgeteilte
Erfahrung Wurzel fassen und aufleben. Dagegen welkt sie ein anderes Mal
sofort dahin und stirbt ab. Lebt sie jedoch auf, so stellt das für den
Modernisten einen Beweis ihrer Wahrheit dar. Wahrheit und Leben gehören
für sie zusammen. An dieser Stelle erhält die Schlußfolgerung wieder
ihre Berechtigung, daß alle Religionen wahr sind, da sie ansonsten
nicht leben könnten.
16. Die bisherigen Erörterungen, ehrwürdige Brüder, erlauben uns, ein
richtiges Urteil über das Verhältnis von Glauben und Wissen nach der
modernistischen Lehre zu fällen. Unter dem Namen des Gewissens gehört
für sie auch die Geschichte. Zuerst steht fest, daß der Gegenstand des
einen in jeglicher Art außerhalb des Gegenstandes des anderen liegt.
Hier herrscht eine scharfe Trennung. Der Glaube befaßt sich
ausschließlich mit dem, was die Wissenschaft als zum Unerkennbaren
gehörend betrachtet. Die Aufgaben beider sind ganz verschieden. Die
Wissenschaft bewegt sich auf dem Gebiet der Phänomene. Für den Glauben
bleibt dabei kein Platz. Der Glaube lebt im Göttlichen, wohin keine
Wissenschaft dringt. Es ist daher völlig ausgeschlossen, daß es jemals
zu einem Konflikt zwischen dem Glauben und der Wissenschaft kommt. Wenn
beide in ihren Gebieten bleiben, können sie sich nicht begegnen und
daher auch nicht widersprechen. Wenn man einwenden würde, daß es Dinge
in der sichtbaren Welt gibt, die auch zum Glauben gehören, zum Beispiel
das irdische Leben Christi, so werden sie das leugnen. Gewiß zählt dies
zu den Phänomenen. So weit es jedoch mit dem Leben des Glaubens
durchdrungen und vom Glauben in der zuvor erwähnten Weise verklärt und
entstellt wird, entrückt es der sinnlichen Welt und wird in das Gebiet
des Göttlichen erhoben. Auf die Frage, ob Christus wirkliche Wunder
gewirkt und zukünftige Dinge vorausgesehen hat, ob er wirklich
auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, hat die agnostische
Wissenschaft eine ablehnende, der Glaube jedoch eine zustimmende
Antwort bereit, ohne daß deshalb zwischen beiden Streit entstehen
würde. Wenn der Philosoph zu Philosophen spricht, sagt er nein, weil er
Christus nur nach der historischen Realität betrachtet. Der Gläubige im
Umgang mit den Gläubigen sagt ja, weil ihm am Leben Christi liegt, wie
es vom Glauben und im Glauben erlebt wird.
17. Nun wäre es aber ein großartiger Selbstbetrug, sich – diese
Theorien vorausgesetzt – für bevollmächtigt zu halten zu glauben, daß
Glaube und Wissenschaft voneinander unabhängig seien. Wer aber nur
daraus schließen wollte, daß überhaupt kein gegenseitiges
Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Glauben und der Wissenschaft
besteht, befände sich im Irrtum. Für die Wissenschaft hätte er
allerdings vollkommen Recht. Anders verhält es sich jedoch mit dem
Glauben. Dieser ist nicht nur in einem Bereich, sondern gleich in
dreien der Wissenschaft unterworfen. Zuerst kommt in Betracht, daß an
jeder religiösen Tatsache, sieht man von der göttlichen Realität und
der diesbezüglichen Erfahrung des Gläubigen ab, alles übrige und
besonders die religiösen Formeln im Bereich der Phänomene liegen und
daher unter die Wissenschaft fallen. Der Gläubige darf sich nicht nach
seinem Belieben aus der Welt zurückziehen. Solange er jedoch in dieser
Welt weilt, wird er unter keinen Umständen den Gesetzen, der
Beobachtung und dem Urteil der Wissenschaft sowie der Geschichte
entgehen. Wenn gesagt wird, daß Gott ausschließlich Gegenstand des
Glaubens ist, so ist das nur für die Realität Gottes gültig, jedoch
nicht für die Idee eines Gottes. Diese gehört in den Bereich der
Wissenschaft. Solange sie über die sogenannte Begriffswelt
philosophiert, kann sie auch das Absolute und das Ideale erfassen.
Die Philosophie, besser gesagt die Wissenschaft, hat somit das Recht,
über die Gottesidee Erkenntnisse anzustellen, sie in ihrer Entwicklung
zu regeln und sie zu korrigieren, falls sich etwas Fremdes
eingeschlichen hat. Die modernistische Seite stellt daher die
Forderung, die religiöse Entwicklung mit der moralischen und der
intellektuellen zu verbinden, oder, nach den Worten eines ihrer
Wortführer, sie ihnen unterzuordnen. Der Mensch kann einen Zwiespalt in
sich selbst nicht ertragen. Selbst der Gläubige fühlt sich mit innerer
Notwendigkeit zu einem Ausgleich zwischen Glauben und Wissen gedrängt,
um in seine allgemeine wissenschaftliche Weltanschauung keine Dissonanz
zu bringen. Damit ist die völlige Unabhängigkeit des Glaubens von der
Wissenschaft erwiesen, während der Glaube, trotz Proklamation der
Trennung beider, sich doch der Wissenschaft beugen muß.
Dem gegenüber, ehrwürdige Brüder, hat Unser glorreicher Vorgänger,
Papst Pius IX., betont 10): "In allem, was die Religion betrifft, hat
die Philosophie nicht zu herrschen, sondern zu dienen. Sie hat nicht
vorzuschreiben, was man glauben muß, sondern es in vernünftiger
Unterwerfung anzunehmen. Es ist nicht die Tiefe der göttlichen
Geheimnisse zu ergründen, sondern vielmehr diese in kindlicher Demut zu
verehren." Die Modernisten stellen dies allerdings auf den Kopf. Auf
sie läßt sich daher anwenden, was Unser Vorgänger, Gregor IX., über
einige Theologen seiner Zeit schrieb 11): "Einige unter Euch sind vom
Geist der Eitelkeit aufgebläht und versuchen, durch profane Neuerungen,
die von den Vätern gesetzten Schranken zu durchbrechen. Sie wollen den
Sinn der Heiligen Schrift … nach den philosophischen Lehren der
Vernunft beugen, um mit der Wissenschaft zu prunken, nicht um ihre
Hörer zu fördern … Durch allerlei fremde Lehren in die Irre geführt,
machen sie den Kopf zum Schwanz und zwingen die Königin, ihrer Magd zu
dienen."
18. Noch deutlicher ist dies zu erkennen, wenn man die Handlungsweise
der Modernisten betrachtet, welche in besonders guter Weise zu ihrer
Lehre paßt. Ihre Schriften und Reden sind voll von scheinbaren
Widersprüchen, so daß man leicht glauben kann, sie würden schwanken und
wären ihrer Sache nicht sicher. Dies geschieht jedoch aus voller
Überlegung. Es ist der Ausfluß ihrer Anschauungen über die Trennung von
Glauben und Wissen. Manche Ausführungen in ihren Büchern könnte ein
Katholik vollständig unterschreiben. Wenn man jedoch das Blatt wendet,
könnte man glauben, ein Rationalist führt die Feder. Schreiben sie
Geschichte, ist von der Gottheit Jesu Christi nicht die Rede. Steigen
sie jedoch auf die Kanzel, dann bekennen sie dieselbe ohne Bedenken.
Schreiben sie Geschichte, dann gelten für sie Konzilien und Väter gar
nichts. Dahingegen werden in der Katechese beide wieder mit Ehrfurcht
zitiert. So wollen sie auch die theologische, pastorale Exegese von der
wissenschaftlichen, geschichtlichen trennen. Nach dem Prinzip, daß die
Wissenschaft vom Glauben durchaus abhängig ist, treten sie in ihrer
Philosophie, Geschichte oder Kritik ungescheut in die Fußstapfen
Luthers. Prop. 29, verurteilt durch Leo X. in der Bulle „Exsurge
Domine“ vom 16. Mai 1520: "Wir haben einen Weg gefunden, die Autorität
der Konzilien zu vernichten, ihren Verhandlungen frei zu widersprechen,
ihre Dekrete zu beurteilen und zuversichtlich alles auszusprechen, was
wahr scheint, mag es auch von irgendeinem Konzil gebilligt oder
mißbiligt werden." Ihre Verachtung gegen katholische Verordnungen,
gegen die heiligen Väter, die ökumenischen Konzilien und das kirchliche
Lehramt tragen sie offen zur Schau. Stellt man sie zur Rede, dann nimmt
man ihnen die Freiheit. Durch ihre Lehre, der Glaube muß der
Wissenschaft unterworfen sein, tadeln sie auf Schritt und Tritt ganz
offen die Kirche. Sie behaupten, die Kirche würde sich hartnäckig
weigern, ihre Dog-men den Ansichten der Philosophie zu unterwerfen und
anzupassen. Nachdem sie mit der alten Theologie aufgeräumt haben,
machen sie sich ans Werk, eine neue einzuführen, die ihren
philosophischen Träumereien zu willen ist.
19. Hier bietet sich nun die Gelegenheit, ehrwürdige Bürder, die
Modernisten auch in der theologischen Arena zu betrachten, was
allerdings nicht gerade ein reines Vergnügen bereitet. In aller Kürze
muß es doch geschehen. Es handelt sich um die Versöhnung von Glauben
und Wissen, und zwar durch Unterordnung des einen unter das andere. Die
modernistische Theologie stützt sich dabei auf dieselben Prinzipien,
welche beim Philosophen so großen Erfolg hatten. Er muß sie lediglich
den Gläubigen durch das Prinzip der Immanenz und des Symbolismus
anpassen. So löst er spielend seine Aufgabe. Der Philosoph sagt ihm:
Das Prinzip des Glaubens ist immanent. Der Gläubige fügt hinzu: Dieses
Prinzip ist Gott. Der Theologe schließt mit der Folgerung: Also ist
Gott im Menschen immanent. Daher die theologische Immanenz. Ferner
steht für den Philosophen fest, daß die Vorstellungen des
Glaubensobjektes nur symbolisch sind. In der gleichen Weise steht für
den Gläubigen fest, daß das Glaubensobjekt Gott ist, wie er in sich
ist. Daraus folgert der Theologe: Die Vorstellungen von der Realität
Gottes sind symbolisch. Daher der theologische Symbolismus. Dabei
handelt es sich um schwerwiegende Irrtümer. Die Konsequenzen werden
zeigen, welches Unheil diese beiden Sätze anrichten können. Sprechen
wir zuerst vom Symbolismus. Die Symbole sind in bezug auf ihren
Gegenstand Symbole. In bezug auf den Gläubigen stellen sie Hilfsmittel
dar. Der Gläubige darf sich daher zunächst nicht über Gebühr an die
Formel als solche hängen. Er soll sie nur gebrauchen, um zur absoluten
Wahrheit zu gelangen. Diese wird von der Formel zum Teil enthüllt, zum
Teil jedoch auch verschleiert. Die Formel versucht sie auszudrücken,
kann sie aber niemals erreichen.
Dann wird daran erinnert, daß der Gläubige solche Formeln nur insoweit
gebrauchen soll, als sie ihm helfen, da sie ihm zur Hilfe geboten
werden, nicht zur Last. Dabei muß man allerdings, aus Rücksicht auf
ihre allgemeine Annahme, den nötigen Respekt vor den Formeln wahren,
welche die öffentliche Autorität als geeigneten Ausdruck für das
allgemeine Bewußtsein befunden hat, solange wenigstens diese Autorität
nichts anderes bestimmt. In welcher Weise die Modernisten von der
Immanenz denken, ist schwer anzugeben. Darüber sind sich nicht alle
einig. Einige suchen sie darin, daß Gott mit seinem Wirken dem Menschen
innerlich nahe ist, näher als der Mensch sich selbst. Wenn man es
richtig versteht, ist daran natürlich nichts auszusetzen. Andere finden
sie darin, daß sich Gottes Wirken mit dem Wirken der Natur vereinigt,
als erste Ursache mit der zweiten. Dadurch wäre die übernatürliche
Ordnung tatsächlich aufgehoben. Wieder andere erklären es in der Weise,
daß man den Verdacht einer pantheistischen Auffassung nicht
unterdrücken kann, der Zusammenhang mit ihren sonstigen Lehren wäre
dann jedoch besser.
20. Zu dem Satz von der Immanenz tritt ein weiterer hinzu, welchen man
den Satz der göttlichen Permanenz nennen könnte. Den Unterschied könnte
man ungefähr mit der eigenen Erfahrung und der durch die Überlieferung
weitergegebenen Erfahrung vergleichen. Ein Beispiel, das von der Kirche
und den Sakramenten genommen ist, soll dies näher erklären. Es soll
nicht angenommen werden, daß die Kirche und die Sakramente von Christus
selbst herrühren. Das verbietet der Agnostizismus. Dieser sieht in
Christus nur den Menschen, dessen religiöses Bewußtsein sich wie bei
den übrigen Menschen erst allmählich gebildet hat. Das verbietet auch
das Gesetz der Immanenz, welches sogenannte äußere Applikationen nicht
zuläßt. Ferner verbietet es das Gesetz der Entwicklung. Diese erfordert
Zeit und eine Reihe sich ablösender Bedingungen, damit sich die Keime
entfalten können. Zum Schluß verbietet dies auch die Geschichte, indem
sie für einen derartigen Verlauf den tatsächlichen Beweis bringt. Doch
ist an einer mittelbaren Stiftung der Kirche und der Sakramente durch
Christus festzuhalten. Wie das? Das christliche Gesamtbewußtsein soll
bereits gewissermaßen im Bewußtsein Christi enthalten gewesen sein, so
wie die Pflanze im Samen. Wie nun die Keime das Leben des Samens
ausleben, so hat man sich auch das Leben der gesamten Christenheit als
ein Ausleben des Lebens Christi zu denken. Nach dem Glauben ist das
Leben Christi göttlich, somit auch das Leben der Christenheit. Wenn
dieses Leben daher im Laufe der Zeiten die Kirche und die Sakramente
erstehen ließ, so kann man mit vollem Recht ihren Ursprung Christus
zuschreiben und ihn göttlich nennen. Auf dieselbe Weise sind ihnen auch
die Heilige Schrift und die Dogmen göttlich. Damit ist die
modernistische Theologie so ziemlich erschöpft. Ein sehr dürftiger
Hausrat, der jedoch mehr als ausreichend ist, wo der Grundsatz vom
willigen Gehorsam gegen alle Aussprüche der Wissenschaft gilt. Die
Anwendung auf das folgende ist leicht zu vollziehen.
21. Vom Ursprung und Wesen des Glaubens war bereits die Rede. Der
Glaube treibt jedoch viele Sprosse, namentlich die Kirche, das Dogma,
den religiösen Kult und unsere heiligen Schriften. Auch darüber müssen
wir die modernistische Lehre kennen. Beginnen wir mit dem Dogma. Es
wurde bereits aufgezeigt, wie es entsteht und was es eigentlich ist.
Seine Entstehung verdankt es einer Art Antrieb oder Notwendigkeit, die
den Glaubenden zur Verarbeitung seiner Gedanken veranlaßt, um das
eigene sowie auch das fremde Bewußtsein zu klären. Die ganze Arbeit
besteht darin, die ursprüngliche Verstandesformel zu feilen und zu
glätten. Allerdings nicht deshalb, um sie in sich logisch zu
entwickeln, sondern um sie den Gegebenheiten anzupassen. Diese
Entwicklung nennen sie dann mit einem sehr dunklen Ausdruck vital, also
lebendig. Dadurch erreicht man langsam, wie bereits erwähnt, die
sekundären Formeln. Wenn diese dann organisch zu einem Lehrgebäude
vereinigt und als dem allgemeinen Bewußtsein entsprechend vom
öffentlichen Lehramt bestätigt sind, dann heißen sie Dogma. Davon sind
die Erörterungen der Theologen wohl zu unterscheiden. Diese haben zwar
am Leben des Dogmas keinen Anteil, können aber dazu dienen, die
Religion mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen und Widersprüche
zwischen beiden zu heben sowie diese auch andererseits nach außen zu
beleuchten und zu verteidigen. Allenfalls können sie auch dienlich
sein, um für ein künftiges Dogma den Stoff vorzubereiten.
Über den religiösen Kult wäre nicht viel zu bemerken, wenn unter diesem
Namen nicht auch die Sakramente enthalten wären. Darüber findet man bei
den Modernisten die größten Irrtümer. Der Kultus soll aus einem
doppelten Antrieb, einer doppelten Nötigung entstehen. In diesem System
muß alles aus inneren Antrieben und Notwendigkeiten heraus erwachsen.
Die eine drängt dazu, daß die Religion sinnlich umkleidet in
Erscheinung tritt. Die andere trägt dazu bei, daß sie bekannt gemacht
wird. Beides ist ohne wahrnehmbare Form und ohne heilige Handlungen,
also durch die Sakra-mente, unmöglich. Die Sakramente dürfen jedoch nur
Symbole oder Zeichen sein, ohne deshalb der Wirkung zu entbehren. Ein
kleines Beispiel, um die Art ihres Wirkens zu zeigen. Es wird auf
gewisse Schlagwörter hingewiesen, die „ziehen“, wie man zu sagen
pflegt, da sie für die Propaganda und ihre gewaltigen und aufregenden
Ideen eine große Zugkraft besitzen. In der Weise, wie sich die
Schlagwörter zu den Ideen verhalten, so verhalten sich auch die
Sakramente zum religiösen Gefühl, das ist alles. Viel deutlicher würde
man sagen, die Sakramente sind nur eingesetzt, um den Glauben zu
nähren. Dies wurde jedoch durch das Konzil von Trient verurteilt. Sess.
VII, De Sacramentis in genere, can. 5: "Wenn jemand behauptet, die
Sakramente wären nur eingesetzt, um den Glauben zu nähren, der sei im
Banne."
22. Auch vom Ursprung und vom Wesen der heiligen Schriften war bereits
die Rede. Nach den modernistischen Anschauungen könnte man sie sehr gut
als eine Sammlung von außergewöhnlichen und besonderen Erfahrungen
definieren, welche zwar nicht jeder alle Tage durchmacht, jedoch in
allen Religionen vorkommen. Auf diese Weise sprechen die Modernisten
von unserer Heiligen Schrift, vom Alten und vom Neuen Testament. Sie
sind jedoch so klug und fügen hinzu, daß auch eine gegenwärtige
Erfahrung ihren Gegenstand aus der Vergangenheit oder aus der Zukunft
entnehmen kann, je nachdem der Glaubende das Vergangene in der
Erinnerung, oder das Zukünftige durch Vorausnahme als gegenwärtig
erlebt. Dadurch wird deutlich, daß auch Historiker und Apokalyptiker zu
den heiligen Schriften gerechnet werden können. So redet allerdings
Gott in diesen Büchern durch den Gläubigen. Nach der modernistischen
Theologie jedoch nur durch die Immanenz und die vitale Permanenz. An
dieser Stelle drängt sich die Frage nach der Inspiration auf. Antwort:
Sie unterscheidet sich höchstens durch ihre Stärke von dem allgemeinen
Antrieb, welcher den Gläubigen drängt, seinen Glauben in Wort und
Schrift auszusprechen. Ähnliches finden wir bei der poetischen
Inspiration. Dadurch konnte der Dichter sagen: Es wohnt ein Gott in
uns. Von seinem Hauch wird die Begeisterung wach. Gerade so ist der
Ursprung der Schriftinspiration in Gott zu suchen. Nach den Modernisten
findet man nichts in der Heiligen Schrift, was nicht auf diese Weise
inspiriert wäre. Wenn man diese Meinung hört, sollte man sie für
orthodoxer halten, als bei so manchen neueren Autoren, die zum Beispiel
sogenannte stillschweigende Zitationen annehmen, und darauf die
Inspiration beschränken. Diese Worte sind allerdings nur Trug und
Schein. Bei der Beurteilung der Bibel nach den Prinzipien des
Agnostizismus kann natürlich von Einschränkungen der Inspiration die
Rede sein, da es sich doch um ein reines Menschenwerk handelt, von
Menschen für Menschen geschrieben, auch wenn es der Theologe im Sinne
der Immanenz göttlich nennen mag. So bleibt der Modernist bei einer
allgemeinen Inspiration der Heiligen Schrift. Von einer Inspiration im
katholischen Sinne läßt er allerdings nichts übrig.
23. Mehr ist über die Phantasien der modernistischen Schule in bezug
auf die Kirche zu sagen. Zunächst wird ihre Entstehung auf eine
doppelte Nötigung zurückgeführt. Zum einen auf den Drang, der sich in
jedem Gläubigen regt, vor allem dann, wenn er eine ursprüngliche und
besondere Erfahrung gemacht hat, um seinen Glauben anderen mitzuteilen.
Zum anderen, wenn der Glaube das Gemeingut mehrer geworden und das
Bedürfnis der Kollektivität entstanden ist, um sich zu einer
Gemeinschaft zusammenzuschließen und die gemeinsamen Güter zu schützen,
zu vermehren und zu verbreiten. Die Kirche ist also die Frucht des
Kollektivbewußtseins oder der Verbindung des Bewußtseins der einzelnen,
welche durch die vitale Permanenz von einem ersten Glaubenden abhängen.
Für den Katholiken ist dieser natürlich Christus. Ferner benötigt jede
Gemeinschaft eine Leitung durch eine Autorität, welche alle Mitglieder
dem gemeinschaftlichen Ziel entgegenführt und die verbindenden Momente
sorgsam pflegt. Bei einer religiösen Vereinigung sind das die Lehre und
der Kultus. Daher gibt es in der katholischen Kirche eine dreifache
Autorität: Die disziplinäre, die dogmatische und die kultische. Das
Wesen dieser Autorität ergibt sich aus ihrem Ursprung. Aus ihrem Wesen
bestimmen sich Rechte und Pflichten. Zu früheren Zeiten herrschte der
Irrtum, daß die Auto-rität von außen, und zwar direkt von Gott, in die
Kirche eingeführt wurde. Deshalb konnte man sie auch für autokratisch
halten. Diese Ansicht ist nun überwunden. Wie die Kirche aus dem
Kollektivbewußtsein hervorgeht, geht auch die Autorität vital aus der
Kirche hervor. Sowohl die Autorität, als auch die Kirche entspringen
also aus dem religiösen Bewußtsein und müssen sich deshalb demselben
unterordnen. Entzieht sie sich ihm, wird sie zur Tyrannei. Wir leben
jedoch in einer Zeit, in der das Freiheitsgefühl seinen Höhepunkt
erreicht hat.
Im Staatswesen hat das öffentliche Bewußtsein das Volksregiment
eingeführt. Das Bewußtsein und das Leben sind im Menschen einheitlich.
Wenn also kein Krieg im innersten menschlichen Bewußtsein entzündet und
geschürt werden soll, muß die kirchliche Autorität demokratische Formen
annehmen. Dies muß um so mehr geschehen, da sonst ihr Untergang
besiegelt ist. Es wäre ein Wahnsinn, wenn man bei der heutigen
Entwicklung des Freiheitssinnes an reaktionäre Maßnahmen denken würde.
Ein gewaltsames Zurückdrängen und Einengen würde zu einer Explosion
führen, welche die Kirche und die Religion vernichtet. Die Modernisten
erwägen das wohl. Darum richtet sich ihr Streben danach, Mittel und
Wege zu finden, um die kirchliche Autorität mit der Freiheit der
Gläubigen auszusöhnen.
24. Nicht nur im eigenen Haus sind Elemente vorhanden, mit denen sich
die Kirche friedlich vertragen muß, sondern diese existieren auch
außerhalb. Die Kirche ist nicht alleine auf der Welt. Es existieren
noch andere Gemeinschaften, mit denen sie Beziehungen und Verkehr nicht
vermeiden kann. Daher sind auch die Rechte und Pflichten der Kirche
gegenüber den weltlichen Gemeinschaften zu bestimmen, und zwar aus dem
Wesen der Kirche selbst, natürlich wie es uns die Modernisten
definieren. Dabei werden die gleichen Regeln angewendet, welche uns
bereits bei der Behandlung von Glauben und Wissen begegnet sind. Wenn
es sich dort um den Gegenstand handelt, geht es nun um den Zweck. Wie
wir an dortiger Stelle den Glauben und das Wissen auf Grund ihres
Gegenstandes trennen mußten, sind auch Staat und Kirche durch den
eigentümlichen Zweck getrennt, den sie verfolgen, und zwar den
weltlichen und den geistlichen. Zu früherer Zeit durfte man das
Weltliche dem Geistlichen unterordnen. Man konnte von gemischten Fragen
reden, an denen die Kirche als Herrin und Königin beteiligt war. Man
war der Ansicht, daß die Kirche von Gott, dem Urheber der
übernatürlichen Ordnung, unmittelbar gegründet ist. Davon wollen
allerdings Philosophie und Geschichte nichts mehr wissen. Trennung von
Kirche und Staat, Scheidung zwischen Katholik und Staatsbürger – diese
Vorgehensweise ist notwendig geworden. Da jeder Katholik zugleich
Staatsbürger ist, hat er das Recht und die Pflicht, nach bestem Wissen
das Wohl des Staates zu erstreben, ohne Rücksicht auf die kirchliche
Autorität und ihre Wünsche, Räte und Vorschriften, sogar ohne Rücksicht
auf ihre Mahnungen.
Diesem Mißbrauch der kirchlichen Gewalt sollte man sich mit aller
Entschiedenheit widersetzen, wenn sie dem Bürger unter irgendeinem
Vorwand sein Verhalten vorschreiben will. Die Quelle aller dieser
Aufstellungen, Ehrwürde Brüder, ist die Lehre, welche Unser Vorgänger,
Papst Pius VI., in der apostolischen Konstitution „Auctorem fidei“
bereits feierlich verurteilt hat. Prop. 2. Der Satz: Die Autorität ist
der Kirche von Gott gegeben, um sie den Hirten mitzuteilen, die ihre
Diener für das Heil der Seelen sind, so verstanden, als ob die
Autorität des kirchlichen Amtes und der kirchlichen Regierung von der
Gemeinschaft der Gläubigen auf die Hirten übertragen wird, ist
häretisch.“ Prop. 3. Ferner der Satz: "Der römische Papst ist das
ministerielle Haupt, in dem Sinn verstanden, als ob der römische Papst
nicht von Christus in der Person des hl. Petrus die Amtsgewalt erhalten
hat, sondern von der Kirche, die er als Nachfolger Petri, als wahrer
Statthalter Christi und Haupt der ganzen Kirche in der ganzen Kirche
besitzt, ist häretisch." Rundschreiben vom 8. September 1907.
25. Die modernistische Schule begnügt sich nicht nur damit, Kirche und
Staat zu trennen. Der Glaube steht nach seinen phänomenalen Elementen
unter der Wissenschaft. In der gleichen Weise muß nach ihr in
weltlichen Dingen die Kirche unter dem Staat stehen. Vielleicht wird
dies noch nicht offen ausgedrückt, jedoch gibt es an dem Schluß kein
Vorbeikommen. Hat in den weltlichen Dingen der Staat alleine zu
bestimmen, so müssen – falls der Gläubige mit der inneren Betätigung
seiner Religion nicht zufrieden ist und damit auch nach außen
hervortreten will, zum Beispiel bei der Spendung und beim Empfang der
Sakramente – diese Akte notwendigerweise unter die Staatsgewalt fallen.
Wo bleibt in diesem Fall die kirchliche Autorität? Sie vermag sich nur
durch äußere Akte zu betätigen und ist damit in ihrer ganzen Ausdehnung
dem Staat unterstellt. Unter dem Eindruck dieser Logik wollen daher
auch manche liberale Protestanten jeden äußeren Kult und auch jeden
äußeren religiösen Verband abgeschafft wissen. Nach ihrer Aussage
versuchen sie die individuelle Religion einzuführen. Wenn die
Modernisten noch nicht offen so weit gehen, verlangen sie dennoch von
der Kirche, daß sie sich freiwillig ihren Bestrebungen annähert und
sich den bürgerlichen Formen an paßt. Das genügt über die
Disziplinargewalt.
Schlimmer und gefährlicher sind jedoch die Ansichten über die
dogmatische Gewalt oder Lehrgewalt. Ãœber das Lehramt der Kirche liest
man folgende Erörterungen: Eine religiöse Gemeinschaft kann unmöglich
zu einer rechten Einheit gelangen, wenn das Bewußtsein der Mitglieder
und die dazu angewendete Formel nicht einheitlich sind. Diese doppelte
Einheit erfordert jedoch einen gewissen Gemeingeist, um die Formel zu
finden und zu prägen, welche dem Gemeinbewußtsein am besten entspricht.
Diese Gemeinschaft muß eine ausreichende Autorität besitzen, um die
Gemein-schaft auf seine Formel zu verpflichten. Die Vereinigung, oder
besser ausgedrückt, die „Verschmelzung“ dieses Geistes, welcher die
Formel findet, und die Macht, diese vorzuschreiben, bezeichnen die
Modernisten als das Wesen des kirchlichen Lehramtes. Das Lehramt wächst
demnach schließlich aus dem Bewußtsein eines jeden einzelnen und hat
auch seine offizielle Stellung zu Nutz und Frommen des Bewußtseins der
einzelnen erhalten. Darum ist es notwendigerweise vom Bewußtsein der
einzelnen abhängig und auf gemeinverständliche Formeln angewiesen. Es
wäre also ein reiner Mißbrauch der anvertrauten Gewalt, die als Hilfe
gedacht ist, wenn das Bewußtsein der einzelnen gehindert werden sollte,
die Anregungen, welche sie verspüren, frei auszusprechen, oder wenn die
Kritik daran gehindert werden sollte, das Dogma den notwendigen
Entwicklungen entgegenzuführen. Auch in der Anwendung der Gewalt sind
Schonung und Mäßigung nötig. Ein Buch, ohne Wissen des Verfassers zu
zensieren und zu verbieten sowie keine Erklärungen anzuhören und sich
auf keine Diskussion einzulassen, schmeckt gewiß stark nach Tyrannei.
Auch hier muß ein Mittelweg gefunden werden, um die Rechte der
Autorität und der Freiheit zu wahren. Bis dahin muß der Katholik zwar
öffentlich gegenüber der Autorität seine größte Achtung bezeigen, soll
aber deshalb nicht aufhören, seinem eigenen Genius zu folgen. Im
allgemeinen wird von der Kirche gefordert, auf jeglichen äußeren Prunk,
der als zu großartig ins Auge fällt, zu verzichten, da sich die Aufgabe
der Kirchengewalt nur auf das Geistliche bezieht. Dabei wird natürlich
vergessen, daß es die Religion zwar mit der Seele zu tun hat, sich
jedoch nicht alleine auf die Seele beschränken läßt, und daß die Ehre,
welche man der Autorität erweist, auf Christus zurückfällt, der sie
eingesetzt hat.
26. Ehrwürdige Brüder, damit wir nun die ganze Materie über den Glauben
und alles, was aus diesem hervorgeht, abschließen können, müssen wir
noch die Darlegungen der Lehren der Modernisten über diese beiden
Fragenkomplexe betrachten. Dabei gilt der allgemeine Grundsatz: In
einer Religion, die lebt, ist alles veränderlich – darum muß es sich
ändern. So kommen sie also auf die Entwicklung, sozusagen die
Quintessenz ihrer ganzen Lehre. Dogma, Kirche, religiöser Kult, Bücher,
die wir als heilige verehren, sogar der Glaube selbst, müssen – wenn
wir sie nicht alle für abgestorben erklären wollen – unter den Gesetzen
der Entwicklung stehen. Das ist überhaupt nicht verwuderlich, wenn man
im Auge behält, was die Modernisten über diese Punkte im einzelnen
lehren. Durch die Aufstellung des Gesetzes der Entwicklung haben sie
sich selbst bereits ihrem Wesen nach als Modernisten gekennzeichnet.
Sprechen wir zuerst vom Glauben. Nach ihren Ansichten war die Urform
des Glaubens roh und bei allen Menschen gleich, da er aus der Natur und
dem Leben des Menschen selbst hervorging. Die vitale Entwicklung
brachte den Fortschritt, selbstverständlich nicht dadurch, daß neue
Formen von außen hinzugetreten sind, sondern indem das religiöse Gefühl
immer mehr zum Bewußtsein durchdrang. Der Fortschritt selbst vollzog
sich in zweifacher Weise: Negativ – durch Ausscheidung aller äußeren
Elemente, die etwas aus der Familie oder aus dem Stamm herzurühren
vermögen. Positiv – durch die steigende intellektuelle und moralische
Kultur des Menschen, die einen volleren und klareren Gottesbegriff und
somit ein reineres religiöses Gefühl bringt.
Der Fortschritt des Glaubens beruht auf denselben Ursachen, die vorhin
zur Erklärung seines Ursprungs herangezogen wurden. Hinzu kommen jedoch
noch einige außerordentliche Männer – wir nennen sie Propheten, und
Christus war der größte von ihnen. In ihrem Leben und in ihren Reden
hatten sie etwas Geheimnisvolles an sich, das der Glaube der Gottheit
zuschreibt. Darüber hinaus hatten sie sich zu neuen, vorher nie
dagewesenen Erfahrungen emporgeschwungen, die dem religiösen Bedürfnis
ihrer Zeit entsprachen. Hauptsächlich kann der Fortschritt des Dogmas
nur dann statt-finden, wenn es gilt, die Glaubensschwierigkeiten zu
überwinden, Feinde zu besiegen und Widersprüche abzuweisen. Dazu kommt
noch ein beständiger Trieb, den Inhalt der Glaubensgeheimnisse tiefer
zu durchdringen. Um nur ein Beispiel zu nennen – so ist es mit Christus
geschehen. Was der Glaube an Ihm in irgendeinem Sinn als Göttliches
wahrnahm, ist langsam und allmählich so gewachsen, daß man Ihn
schließlich für Gott hielt. Zur Entwicklung des Kultus drängt vor allem
die Notwendigkeit, sich den Sitten und Ãœberlieferungen der
verschiedenen Völker anzupassen, sowie das Bedürfnis, sich die Macht,
welche gewisse Handlungen durch die Gewohnheit erlangt hat, zunutze zu
machen. Dies stellt dann für die Kirche einen Antrieb zur Entwicklung
dar, um sich mit den geschichtlichen gegebenen Verhältnissen und mit
den öffentlich anerkannten weltlichen Regierungsformen abzufinden.
Soviel über diese einzelnen Punkte. Bevor wir weitergehen, weisen wir
noch nachdrücklich auf die Lehre von den Notwendigkeiten oder
Bedürfnissen hin. Diese Lehre muß daher die eigentliche Grundlage
abgeben, nicht nur für die obengenannten Ausführungen, sondern auch für
die vielgerühmte sogenannte historische Methode.
27. Verweilen wir jedoch noch etwas bei der Entwicklungslehre. Ferner
ist dabei zu bemerken, daß zwar die Bedürfnisse und Notwendigkeiten zur
Entwicklung drängen, die Entwicklung würde jedoch, wenn sie diesem
Antrieb alleine folgen wollte, leicht die Grenzen der Ãœberlieferung
überschreiten, sich so von dem ursprünglichen belebenden Prinzip lösen
und dann eher zum Ruin als zum Fortschritt führen. Die Meinung des
Modernisten erfaßt man daher besser, wenn man die Entwicklung auf den
Widerstreit zweier Kräfte zurückführt – die eine Kraft drängt zum
Fortschritt, die andere Kraft dämpft konservativ. Das konservative
Element ist in der Kirche sehr stark vorhanden und liegt in der
Tradition begründet. Ihre Vertreterin ist die religiöse Autorität,
sowohl von rechts wegen, denn der Autorität kommt es zu, die
Überlieferung zu schützen, als auch tatsächlich, denn die Autorität
steht abseits von dem wechselnden Leben und wird von allem, was zum
Fortschritt treibt, kaum oder gar nicht berührt. Im Gegensatz dazu
wirkt die zum Fortschritt drängende und sich den tiefsten Bedürfnissen
anpassende Kraft im Bewußtsein der Laien. Damit sind besonders die
Laien gemeint, welche – wie man sagt – mitten im Strudel des Lebens
stehen.
Hier, ehrwürdige Brüder, wird bereits die verderbliche Ansicht
sichtbar, welche das Laientum als Prinzip des Fortschritts in die
Kirche einschmuggeln möchte. Aus einem Kompromiß zwischen diesen beiden
Kräften, der konservativen und der fortschrittlichen, oder mit anderen
Worten ausgedrückt, zwischen der Autorität und dem Bewußtsein der
Laienwelt, entstehen Fortschritt und Veränderung. Das Bewußtsein der
Laien, zumindest einiger Laien, wirkt auf das Kollektivbewußtsein.
Dieses drückt auf die Autorität und zwingt sie, Kompromisse zu
schließen und diese dann auch zu halten. Man begreift daher leicht,
warum die Modernisten sich so sehr wundern, wenn sie zurechtgewiesen
und gestraft werden. Gerade das, was ihnen als Schuld angelastet wird,
halten sie für eine strenge Gewissenspflicht. Keiner kennt die
Bedürfnisse des religiösen Bewußtseins besser als sie, weil sie davon
näher betroffen sind, als die kirchliche Autorität. Alle diese Nöte
drängen gerade auf sie ein. Darum fühlen sie die Pflicht, öffentlich zu
reden und zu schreiben. Auch wenn die Autorität sie rügen mag, ihre
Stütze ist das Pflichtbewußtsein. Ihre innerste Erfahrung sagt ihnen,
daß ihnen Lob anstatt Tadel gebührt. Natürlich ist ihnen auch bekannt,
daß ohne Kampf kein Fortschritt mög-lich ist, und daß der Kampf seine
Opfer fordert. Sie mögen also selbst die Opfer sein, wie die Propheten
und Christus. Auch der Autorität grollen sie nicht, daß sie hart
behandelt werde |