FRIEDRICH NIETZSCHE VOR HUNDERT JAHREN
von H.H. Dr.theol. Otto Katzer
Der hl. Gregor der Große sieht die Ursache der allgemeinen Sinnenhaftigkeit, der die Menschheit verfallen ist, darin, daß "der Mensch, der, wenn er das Gebot Gottes gehalten hätte, auch dem Leibe nach geistig sein soll te, nachdem er gesündigt hatte, selbst dem Geiste nach fleischlich wurde, so daß er sich (meistens; O.K.) allein mit dem befaßt, was er dem Geiste vermittels der Sinne vorlegt." (1)
Diese fast ausschließliche Gebundenheit an die Sinne ist eine Strafe für das andauernde Mißachten der Anordnungen Gottes, wie durch Moses im Deuteronomium angesagt: "Dann wird der Herr dich auf Schiffen nach Ägypten bringen, auf dem Weg, von dem er dir sagte: Du sollst ihn nie mehr wiedersehen! Dort müßt ihr euch euren Feinden als Sklaven und Sklavinnen zum Verkauf anbieten lassen. Doch niemand mag euch kaufen." (2)
Es wird wohl nicht notwendig sein zu betonen, daß es sich hier nicht um eine geographische Angelegenheit handelt, sondern um einen Zustand, und zwar verschuldeten, aus dem das Volk Gottes durch Gottes Barmherzigkeit gerettet wurde, in welchen es aber aufgrund seiner Saumseligkeit und mangelhaften Gottesliebe zurückversunken ist, wie wir uns auf Schritt und Tritt überzeugen können, und Nietzsche es schon vor 100 Jahren klargestellt hat.
"Jener Reisende (in: "Schopenhauer als Erzieher"), der viele Länder und mehrere Erdteile gesehen hatte und gefragt wurde, welche Eigenschaften der Menschen er überall wiedergefunden habe, sagte: sie haben einen Hang zur Faulheit. Manchen wird es dünken, er hätte richtiger gesagt: sie sind alle furchtsam. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen. Im Grunde weiß jeder Mensch recht wohl, daß er nur einmal, als ein Unicum, auf der Welt ist und das kein noch so seltsamer Zufall zum zweitenmal ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird: er weiß es, aber verbirgt es wie ein böses Gewissen - weshalb? Aus Furcht vor dem Nachbar, welcher die Konvention fordert und sich selbst mit ihr verhüllt. Aber was ist es, was den einzelnen zwingt, den Nachbar zu fürchten, herdenmäßig zu denken und zu handeln und seiner selbst nicht froh zu sein? Schamhaftigkeit vielleicht bei einigen wenigen. Bei den allermeisten ist es Bequemlichkeit, Trägheit, kurz jener Hang zur Faulheit, von dem der Reisende sprach. Er hat recht: l die Menschen sind noch fauler als furchtsam und fürchten gerade am meisten die Beschwerden, welche ihnen eine unbedingte Ehrlichkeit und Nacktheit aufbürden würden. Die Künstler allein hassen dieses lässige Einhergehen in erborgten Manieren und übergehängten Meinungen und enthüllen das Geheimnis, das böse Gewissen von jedermann, den Satz, daß jeder Mensch ein einmaliges Wunder ist; sie wagen es, uns Menschen zu zeigen wie er bis in jede Muskelbewegung er selbst, er allein ist, noch mehr, daß er in dieser strengen Konsequenz seiner Einzigkeit schön und betrachtenswert ist, neu und unglaublich, wie jedes Werk der Natur und durchaus nicht langweilig. Wenn der große Denker die Menschen verachtet, so verachtet er ihre Faulheit: denn ihrethalben erscheinen sie als Fabrikware, als gleichgültig, des Verkehrs und der Belehrung unwürdig. Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: "sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst."
Niemals brauchte man mehr sittliche Erzieher, und niemals war es schwerer, sie zu finden; in den Zeiten, wo die Ärzte am nötigsten sind, bei großen Seuchen, sind sie zugleich am meisten gefährdet. Denn wo sind die Ärzte der modernen Menschheit, die selber so fest und gesund auf ihren Füßen stehen, daß sie einen anderen hochhalten und an der Hand fahren könnten? Es liegt eine gewisse Verdüsterung und Dumpfheit auf den besten Persönlichkeiten unserer Zeit, ein ewiger Verdruß über dem Kampf zwischen Verstellung und Ehrlichkeit, der in ihrem Busen gekämpft wird, eine Unruhe im Vertrauen auf sich selbst, - wodurch sie ganz unfähig werden, Wegweiser zugleich und Zuchtmeister für andere zu sein.
Wir leben in der Periode der Atome, des atomistischen Chaos. Die feindseligen Kräfte wurden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehalten (heute werden sie von ihr jedoch losgefesselt; O. K.) und durch den starken Druck, welchen sie ausübte, einigermaßen einander assimiliert. Als das Band zerreißt, der Druck nachläßt, empört sich eines wider das andere. Die Reformation erklärte viele Dinge für diaphora, für Gebiete, die nicht von dem religiösen Gedanken bestimmt werden sollten; dies war der Kaufpreis, um welchen sie selbst leben durfte: wie schon das Christentum, gegen das viel religiösere Altertum gehalten, um einen ähnlichen Preis seine Existenz behauptete. Von da an griff die Entscheidung immer weiter um sich. Jetzt wird fast alles auf Erden nur noch durch die gröbsten und bösesten Kräfte bestimmt, durch den Egoismus der Erwerbenden und die militärischen Gewaltherrscher. Der Staat in den Händen dieser letzteren, macht wohl, ebenso wie der Egoismus der erwerbenden, den Versuch, alles aus sich heraus neu zu organisieren und Band und Druck für alle jene feindseligen Kräfte zu sein: d.h. er wünscht, daß die Menschen mit ihm denselben Götzendienst treiben möchten, den sie mit der Kirche getrieben haben. Mit welchem Erfolge? Wir werden es noch erleben; jedenfalls befinden wir uns auch jetzt noch im eistreibenden Strome des Mittelalters; es ist aufgetaut und in gewaltige verheerende Bewegung geraten. Scholle türmt sich auf Scholle, alle Ufer sind überschwammt und gefährdet. Die Revolution ist gar nicht zu vermeiden, und zwar die atomistische: welches sind aber die kleinsten unteilbaren Grundstoffe der menschlichen Gesellschaft?
Es ist kein Zweifel, daß beim Herannahen solcher Perioden das Menschliche fast noch mehr in Gefahr ist als während des Einsturzes und des chaotischen Wirbels selbst, und daß die angstvolle Erwartung und die gierige Ausbeutung der Minute alle Feigheiten und selbstsüchtigen Triebe der Seelen hervorlockt: während die wirkliche Not und besonders die Allgemeinheit einer großen Not die Menschen zu bessern und zu erwärmen pflegte. Wer wird nun, bei solchen Gefahren unserer Periode, der Menschlichkeit, dem unantastbaren heiligen Tempelschatze, welchen die verschiedensten Geschlechter allmählich angesammelt haben, seine Wächterund Ritterdienste widmen? Wer wird das Bild des Menschen aufrichten, während alle nur den selbstsüchtigen Wurm und die hündische Angst in sich fühlen und dergestalt von jenem Bilde abgefallen sind, hinab ins Tierreich oder gar in das Starr-Mechanische?
Es sind gewiß Kräfte da, ungeheure Kräfte, aber wilde, ursprüngliche und ganz und gar unbarmherzige. Man sieht mit banger Erwartung auf sie hin wie in den Braukessel einer Hexenküche: es kann jeden Augenblick zucken und blitzen, schreckliche Erscheinungen anzukündigen" (3)
Wenn auch Nietzsche nur den äußeren Anblick des ausklingenden Mittelalters berücksichtigt, beeinflußt dieses keineswegs die Wertung der in unsere Tage ausmündenden Zeit: wir befinden uns wieder in Ägypten! Der Mensch von heute scheut mehr denn je die notwendige Mühe und besitzt auch keinen Eifer in Gott und mit Gott ein wahres "Ich" zu werden. Vom Einzelmenschen als auch von den gesellschaftlichen Gebilden gelten die Worte der Heiligen Schrift: "Durch den Acker eines faulen Menschen, und durch den Weinberg eines törichten Mannes bin ich gegangen: und siehe, ganz war er von Nesseln voll, und Dornen bedeckten seine Oberfläche, und die Mauer von Steinen war eingerissen. Da ich das sah, nahm ich's zu Herzen, und nahm das Exempel zur Lehre und sprach: Also wirst du ein wenig schlafen, ein wenig schlummern, ein wenig die Hände zusammenlegen, um zu ruhen, daß die Armut über dich komme wie ein Läufer, und die Dürftigkeit wie ein bewaffneter Mann? (4)
Glaubensschwäche und die daraus entstehende Geringschätzung der Gnaden und Mißachtung der Sünden sind die eigentlichen Ursachen des Zerfalls. Noch ist es Zeit, noch gibt es einen Weg zurück, den Weg des Verlorenen Sohnes! Doch wird der Mensch von heute zur Besinnung kommen, sich zusammenraffen und sagen: "Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen; behandle mich wie einen deiner Taglöhner!" (5)
"Seit den Tagen Johannes des Täufers bis jetzt erleidet das Himmelreich Gewalt, und Gewalttätige suchen es zu entreißen." (6) Anmerkungen:
1) S. Gregorii Magni, Moralia, Lib.V.cap. IV, Beati Job, vers.16.cap. 34. 2) Deut. 28,68. 3) Fr. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, unmäßige Betrachtungen, Lpzg. 4) Sprüche 24,30-34. 5) Luk. 15,18 f. 6) Matth. 11,12.
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