Die das Evangelium verramschen
Anbei ein Beitrag aus dem DEUTSCHLAND MAGAZIN Nr.1, Jan. 1979, S.2o-22, einer politischen Monatsschrift, der man bezüglich ihres religiösen Horizonts wohl nicht den Vorwurf von "Voreingenommenheit" - wie man ihn uns gerne anhängt - machen kann, zumal hier auch ununterschieden von "den Kirchen" gesprochen wird. Der Beitrag wurde im Zusammenhang mit dem Massenselbstmord in Guayana verfaßt. Er zeigt eindeutig, wo die Hauptschuldigen dafür zu suchen sind, daß es zu solch einem Wahnsinn kommen konnte. E. Heller
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Die Kirchengemeinde bietet Heiligabend drei Gottesdienste an, am zweiten Feiertag ist dann kein Gottesdienst. Die Gemeinde, die das in ihrem Dezember-Gemeindebrief schrieb, tilgte noch hinzu, daß es sich - Freude über Freude! - beim dritten Heiligabend-Gottesdienst, um 23 Uhr, nicht um den üblichen langweiligen Predigt-Gottesdienst handeln werde, sondern um eine interessante "Meditation" mit "Bildern, Filmen und Gedanken".
Die Kirchengemeinde, in der das Meditieren so im Schwange ist, ist durchaus nicht untypisch. Sie tut, was Mode ist und was viele tun. Kirche, das ist heute oft eine ziemlich liberale Angelegenheit, die den Leuten nichts abfordert, die sich nicht traut, anderen zu sagen, sie vertrete die Botschaft dessen, der von sich sagte, er sei "der Weg und die Wahrheit und das Leben".
Kirche und Christentum sind in eine mehr oder weniger unverbindliche Idealkonkurrenz mit anderen eingetreten - nicht um die Wahrheit, sondern um die Lösung sozialer Aufgaben, um den "fairen" Dialog, bei dem es dann, eh gleichgültig ist, ob Gandhi, Krishna, Mohammed oder Jesus siegt - es kommt nur auf den Dialog als Selbstzweck an und darauf, daß die Argumente forsch und elegant von allerlei gespitzten Zungen gehen. Forderungen zu stellen - das scheint unanständig zu sein. Es wird "angeboten" und "soziales Engagement" erbeten. Und auch der Dialog mit radikalen Weltanschauungen steht in "partnerschaftlicher" Blüte, mögen die auch tausendmal den Christen in Wort und Tat nahebringen, daß sie das Christentum abschaffen wollen, und sei es mit Gewalt.
Kirche, die aussieht und sich so geriert, hat unmittelbar etwas mit jenen modernen Rattenfängern zu tun, die die jungen Leute in stattlichen Scharen ins Verderben locken. Kirche, die so aussieht und sich so geriert, liefett den Jugendsekten einen Teil des Hintergrundes, ohne den sie nicht zu denken sind, düngt und wässert den Boden, der damit zum Sumpf wird und den Jugendsekten reichlich Nahrung gibt. Kirche, die so aussieht und sich so geriert, hat die Positionen geräumt, die zu halten und auszuweiten ihres Amtes gewesen wäre, und hat jenes große Vakuum geschaffen, in das diejugendreligionen eingeströmt sind.
Vor dem Hintergrund einer in der Kirche um sich greifenden Haltung der Indifferenz, die Arbeitsgruppen darüber meditieren läßt, ob man von den Pfarrern noch verlangen dürfe, an Christus zu glauben, wird verständlich, daß sich Charles Manson, jener von seinen Anhängern nahezu vergöttlichte SharonTate-Mörder, hinter Gittern gegenwärtig als Priester bezeichnet; daß Mister Mun, ein ehemaliger Geschäftsmann, der wegen sittlicher Verfehlung im Gefängnis gesessen hat, sich nicht auf den Verkauf von Ginsengwurzeln und Zeitungen beschränkt, sondern das "Reich Gottes auf Erden" verheißt; daß Majaraj Ji im indischen Hardwar nicht nur Reformkost und Tee verkauft, sondern sich - zumindest für die Anhänger seiner "Divine Light Mission" - zum "Herrn des Universums" beförderte.
Es ist nicht verwunderlich, daß die Saat solcher Möchtegern-Messiasse, die zumindest die eigene Wohlfahrt fördern, indem sie anderen eine jenseitige versprechen, so kräftig aufgeht.
Nun sind es beileibe nicht die Kirchen allein, die fir das Vakuum haftbar zu machen wären, in dem die weltanschaulichen Sumpfblüten nisten. Andere Kräfte, Versäumnisse anderer Gruppen kommen hinzu. Aber den Kirchen ist der massivste Vorwurf zu machen. Nicht daß sie bewußt das Wachstum der Jugendsekten gefördert hätten. Aber sie hätten am ehesten die Kraft, Schranken gegen das Verderben zu errichten, das viele Anhänger der Jugendsekten so greifbar ereilt, wie es irgend gedacht werden kann. Sie wären am ehesten in der Lage, der suchenden, herumirrenden, zur Bindung bereiten Jugend jenen Halt zu geben, der aus dem Glauben kommt.
Mithin macht es sich die Bundesregierung zu leicht, wenn sie den Zustrom zu den Jugendsekten auf jene gesellschaftlichen Unverträglichkeiten zurückführt, die auch an Terrorismus und Drogenkult schuld seien. Eine Zustandsbeschreibung der jungen Leute, die mit dem Eintritt in eine solche Gruppe freiwillig ihre Identität, ihre innere und äußere Freiheit, ihren materiellen Besitz und noch vieles andere mehr aufgeben, würde zeigen, daß Einstellungen und Bereitschaften vorliegen, die nach aller bisherigen Erfahrung bislang immer Voraussetzungen für religiöses Engagement gewesen sind.
Schuld der Kirchen ist hier auch, daß sie die scharfen - und legitimerweise auch schroffen Konturen ihrer Botschaft verwischt haben, bis sich die Unterschiede zwischen Kirche und Jugendsekten aufhoben und einem Außenstehenden, einem zunächst diffus Suchenden nicht mehr deutlich wurde, daß sich hier etwas anderes tat als dort. Für die überwiegende Mehrzahl jener gut hunderfiinfzigtausend jungen Leute, die hierzulande den rligiös retouchierten Rattenfängern, den weltanschaulich verbrämten Heilsbringern nachlaufen, sind die "Kinder Gottes", die "Transzendentale Meditation, die "Divine Light Mission", die Mun-Sekte und wie sie alle heißen, legitime religiöse Gemeinschaften.
Kann man, wenn man versucht, die Sonde zwecks Besserung, Aufklärung und Heilung anzulegen, in solchem Zusammenhang auf eine Zustandsbeschreibung der Kirchen verzichten? Haben die Kirchen - in jener Erscheinungsform, zu der sie die Gruppendynamiker, Sozialheller im Pastorentalar, Politprediger heruntersubtrahiert haben - nicht ihren Teil dazu beigetragen, daß diese jungen Leute aus der Gesellschaft ins Nichts gedrängt wurden?
Immerhin gehören diese jungen Leute einer Generation an, die bereits in der Schule - und in der "interpersonalen Kommunikation" als die sich die heutige kirchliche Jugendarbeit oft bezeichnet - lernt, daß sie von Zwängen umstellt sind, die die Gesellschaft zwecks Anpassung um sie herum errichtet. Wie viele von ihnen sind in eine Kirchengemeinde gekommen, um Antworten zu finden - und sie stießen auf Angebote... Wie viele suchten Bindung und bekamen Freiräume "geöffnet"...
Im Schatten von Kirchentürmen kann man heute Cola trinken und kommunizieren, basteln und beten, wandern und jazzen, diskutieren und tanzen, schwimmen und sich von schicken Selbsterfahrungsgruppen gefangennehmen lassen. Man kann Behinderte betreuen und zum Gottesdienst gehen, Altpapier und Leerflaschen sammeln, die örtliche Gemeindediskothek besuchen, und, sofern noch Zeit bleibt, auch gemeinsam in der Bibel lesen. Man kann das alles, auf Ehr', und noch viel mehr - aber müssen muß man durchaus nicht. Angebote sind immer freibleibend. Auf Dauer errichtete Verpflichtungen gibt es nur in seltenen Ausnahmefallen, und wer trifft schon auf die!
Im Gottesdienst hat der liturgische Gesang häufig dem Wummern der Gemeinde-Band Platz gemacht, das Abendmahl dem "kommunikativen Frühschoppen". Wenn ein expenmentierfreudiger junger Pastor, der ja nun schließlich auch nur Kind seiner Zeit und Experimentierobjekt seiner studentischen Lehrer ist, noch durch etwas zu beeindrucken ist, dann weniger durch den Ernst, mit dem ein junger Mensch in seiner Gemeinde dem Ruf zu folgen versucht, den er bekommen zu haben glaubt, als durch die Chaotik eines "spontanen" Gottesdienstes mit den üblich gewordenen diversen Show-Einlagen.
In der Kirche, die durch derlei überwuchert wird, hat die Stringenz der biblischen Botschaft gefälligst den Folgerungen aus momentanen Eingebungen, der meditativen Ekstase, den Konsequenzen aus gruppentherapeutischen Selbstverstümmelungsversuchen zu weichen. Daß der grauenvolle Massenselbstmord der Jones-Jünger in Guayana etwas mit alledem zu tun hat, daß er ein innerkirchliches Problem par excellence geworden ist, das beginnt einigen zu dämmern, aber nicht vielen; man müßte ja zur Verbindlichkeit übergehen.
Ist es ketzerisch, wenn man zu bedenken gibt, daß die häufig anzutreffende "Spontaneität" kirchlichen Geschehens, strikt hochgerechnet, in enge Nähe zu jenen sektiererischen Spontanpredigern gerät, die Gehirnwäsche als ideologisches Hobby, Profitgeilheit als Methode und die Lösung der ihnen "Anvertrauten" aus allen Bindungen als Mittel zum Zweck pflegen?
Der immense Erfolg der Sekten ist - zum Teil - auch damit zu erklären, daß man in den Kirchen weithin dem Irrtum verfallen ist, jugendliche Suchende seien nicht mit sich selbst, sondern mit den Zuständen unzufrieden. Von daher ist viel abstruses Tun in den Kirchen und um sie herum der Versuch, einer Nachfrage zu entsprechen, die man, auch wenn sie falsch diagnostiziert wurde, vorzufinden meinte.
Menschliches Bewußtsein aus der Position des Menschen vor Gott erklären zu wollen - wie überholt! Für viele "Hirten", die sich längst nicht mehr als solche verstehen, hat sich menschliches Bewußtsein aus dem Sein herauszubilden, das menschliche Verhalten aus den gesellschaftlichen Verhältnissen. Es interessiert nicht der einzelne, der vor Gott steht (oder vor ihn zu stellen ist), sondern seine Lebensqualität, die man als Addition seiner gesellschaftlichen Umstände erkannt zu haben meint, nach welcher Erkenntnis man denn auch in den kirchlichen Gemeinden darangeht, handliche Anleitungen zur raschen womöglich, falls nötig, gewaltsamen - Veränderung dieser Lebensumstände zu verteilen. Christliche Gemeinde - das ist weithin alternative Kommunität auf Sojabohnenbasis.
Es will manchmal scheinen, als seien die zahlreich und verhängnisvoll ins Kraut schießenden Sekten konsequente Fortsetzungen jener Anstöße, an denen es heute in der Kirche so gar nicht mangelt. Verglichen mit den gruppendynamischen Impulsen, die in einer Sekte gegeben werden, sind die in kirchlichen Gruppen nun wahrlich von schlechten Eltern. Wer von einem gruppendynamisch-meditativen Konfirmandenwochenende seiner Kirchengemeinde zurückkommt, wird rasch wieder in den gewohnten Alltag gestoßen. In der Sekte darf er "drin" bleiben, verstärkt die gesellschaftliche Isolation den Zusammenhalt, wird zur Dauerform, was in kirchlichen Gruppen nur Kostprobe ist. In der Sekte ist man dauernd gefordert mit der Ausschließlichkeit, die man suchte, nachdem man mit kirchlichen und anderen "Angeboten" nichts mehr anzufangn wußte.
Auf einer kürzlich abgehaltenen Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung über die "neuen Jugendreligionen" haben die Teilnehmer ein vorzügliches therapeutisches Acht-Punkte-Programm erarbeitet und die Förderung von Elterninitiativen und Selbsthilfegruppen durch den Staat gefordert, die kommunalen Gebietskörperschaften zur Errichtung örtlicher Anlaufstellen aufgerufen, die Förderung von Beratungsstellen vorgeschlagen, den Medien kritische Berichterstattung aufgegeben, das Fach "Sektenkunde" für angehende Lehrer und Theologen erwogen, die Kirchen um Alternativen gebeten und eine Koordinationsstelle zum Phänomen erdacht. Den Tagungsteilnehmern ist uneingeschränkt zuzustimmen.
Eines freilich hat auf der ansehnlichen Liste gefehlt. Der Aufruf an die Kirchen nämlich, darauf zu verzichten, nun "noch mehr zu tun" und stattdessen "anderes" zu tun. Das nämlich, wofür die Kirche da ist: Die Verbindichkeit christlichen Glaubens wieder aufzurichten, die man für den toleranten Dialog aufgegeben hat; die Forderung nach dem ganzen Menschen wieder zu erheben, die Christus erhoben hat; Brot zu verabreichen an Stelle von neckischen Spritzkuchen.
Gegen die grassierenden Jugendsekten gibt es ein Heilmittel. Es gilt, die "Freiräume" einzuengen, Ziele zu setzen, den Menschen aus seiner Stellung vor Gott zu erklären und nicht aus den Bedingungen seines Seins. Ein hartes Rezept? Es ist im Grunde keines, sondern eine katalogische Aufstellung dessen, was die jungen Leute wollen. Der größte Irrtum der Kirchen, die nolens volens an der Sekten-Therapic-Front ganz vorne stehen, liegt darin, daß die jungen Leute auch in der Kirche wiederfinden wollten, was ihnen überall - in der Familie, der Schule, der "Gesellschaft" - gegenübertritt, bis zum Erbrechen: die "fun society". Das wäre Sache der Kirche, wieder möglich zu machen, daß einer einer Macht dient, die gütig ist, weil sie den Dienst fordert und den freien Willen läßt. Der Rest ist Humbug.
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