Im Verborgenen
von
Eugen Banauch, Hinterbrühl
... Sed, cum vocatus fueris, vade,
vade, recumbe in novissimo loco ...
(Luc. 14, 10)
Ich habe sie oft gesehen. Sic hinterließ, wie wohl
bei jedermann, zunächst einen farblosen Eindruck. Wann ich sie zum
ersten Mal bewußt gesehen habe, weiß ich nicht mehr. Ich weiß auch
nicht, wann ich zum ersten Mal über sie nachzudenken begann.
Beinahe in jeder hl. Messe - in St. Anna, St.
Stephan oder sonstwo - die ich früher, seit meiner Konversion im Jahre
1963 bis zur Zerstörung der lateinischen Liturgie, auch an
Werktagabenden fast regelmäßig zu besuchen pflegte, sah ich sie ganz
hinten im Kirchenschiff auf dem blanken Boden knien. Immer schien sie
den buchstäblich letzten Platz zu bevorzugen. Ohne ihr nachgespürt zu
haben, brachte ich heraus, daß sie häufig an mehreren Messen
hintereinander, in verschiedenen Kirchen, teilnahm.
Niemals - obwohl es in Anbetracht dessen vielleicht
manchem als naheliegendeste menschliche Regung erscheinen möchte - habe
ich sie angesprochen oder auch nur mit einem Lächeln oder Kopfnicken
gegrüßt. Vielleicht wagte ich nicht, sie zu stören. Oder ich hielt es
für überflüssig.
Niemand könnte etwas Auffälliges an ihrer
Erscheinung feststellen, es sei denn eine gleichsam auf die Spitze
getriebene Unauffälligkeit. Aus diesem Grunde ist es mir unmöglich, aus
dem Gedächtnis ihr Aussehen einigermaßen zufriedenstellend zu
beschreiben, obwohl ich kein schlechter Beobachter äußerer Einzelheiten
bin. Sie gehört zu jenen Menschen, deren Alter schwer zu bestimmen ist.
Sie könnte dreißig, aber auch fünfzig Jahre alt sein. Die Farbe ihres
Haares ist, wenn ich mich richtig erinnere, ein stumpfes mittleres
Blond. Ihr Gesicht, weder hübsch noch häßlich, von scheinbar
teilnahmslosem Ausdruck und ohne irgendeinen bemerkenswerten Zug, mag
als gewöhnlich - nicht als ordinär - zu bezeichnen sein. An ihrer
Kleidung ist nicht das geringste modische Attribut.
Sie kniete, wie ao sagt, immer ganz hinten, meist
knapp vor der Wand, in der Nähe des Tores, auf dem Boden - nie in der
Bank. Ich habe sie überhaupt nur kniend gesehen, unverwandt in Richtung
des Tabernakels blickend. Dies scheint dem oben erwähnten Anschein der
Teilnahmslosigkeit ihres Antlitzes zu widerstreiten. Ich habe jenes
Wort auch nur vorläufig, behelfsmäßig gebraucht, weil ich ja von der
äußeren Erscheinung ausgegangen bin. Von Anfang meiner Beobachtungen an
hätte ich nie auf eine innere Teilnahmslosigkeit geschlossen.
Keineswegs konnte es sich um ein bloß
gewohnheitsmäßiges Beten handeln. Sie machte keinen schläfrigen
Eindruck wie viele regelmäßige Kirchenbesucher und -beter; unmöglich
konnte der Verdacht aufkommen, sie erfülle auf mechanische Weise
irgendwelche Gebetsverpflichtungen.
Sie bewegt nicht einmal die Lippen. Sie kniet da,
wie aus Stein gehauen, wie ein Bestandteil der sakralen Architektur; im
letzten Winkel, aber unübersehbar.
Ihre liturgische Funktion, theologisch gesehen, ist
gewiß nebensächlich. Ihr Dasein hat keinen Einfluß auf die Gültigkeit
des sakramentalen Geschehens. Vielleicht aber ist sic in den Augen
Gottes ein unentbehrliches liturgisches Requisit - und das gerade will
sie sein, nur das: ein heiliger Gegenstand, ein Gerät, ein Gefäß; diese
willentliche Willenlosigkeit, diese Willensübgabe, dies reine
Sichschenken und Harren, diese heilige Leere ist es, was uns vorhin wie
Teilnahmslosigkeit anmutete - vielleicht ist sie für Ihn die wichtigste
Person der hier Versammelten. Et ecce sunt novissimi qui erunt primi.
Vielleicht ist sie, allein sie das andere Ende des Instruments, dessen
Saite sich durch den Kirchenraum spannt; ist es ihr Stillsein, ihre
statische, statueske Demut, die es möglich macht, daß die Saite
erklinge, daß eine neue Stimme sich einfüge in die himmlische Liturgie.
Etwa drei Jahre lang sah ich sie nicht. Ich kann
nicht behaupten, daß sie mir gefehlt oder daß ich auch nur ein einziges
Mal ihrer gedacht hätte. Seit der Einführung des deutschen Kanons ging
ich nur mehr, um meine Sonntagspflicht zu erfüllen, in die hl. Messe,
meist außerhalb Wiens. Nachdem die Verwendung der deutschen Übersetzung
des Novum Ordo Puls VI. allgemein üblich geworden war, unterließ ich
auch dies, bis wir uns die Gelegenheit schufen, an einer gültigen Messe
teilzunehmen. Als meine Frau und ich unlängst diese Gelegenheit nicht
wahrnehmen konnten, bot sich uns am Abend eine andere: ein feierliches
Hochamt nach armenischem Ritus in der Mechitaristenkirche.
Dort sah ich sie wieder. Als wir uns anschickten,
nach der Liturgie die Kirche zu verlassen, sah ich sie neben dem Tore,
vor der Hinterwand knien, im allerletzten Winkel, unverwandt in
Richtung des Tabernakels blickend. Sie sah aus wie immer: farblos,
regungslos, leer.
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