NEIGT SICH DIE FREIHEIT ZUR SEITE DES BÖSEN?
von Alexander Solschenizyn
(Auszüge aus einer Rede, gehalten an der Havard-Universität, USA; aus: FAZ, 14.7.78)
[...] Die immer noch anhaltende Verblendung eingebildeter Überlegenheit unterstützt die Vorstellung, daß alle großen Gebiete unseres Planeten sich entwickeln müssen - sich auf unsere derzeit existierenden westlichen Systeme zuentwickeln, die theoretisch die höchsten sind, aber in Wirklichkeit nur als die anziehendsten erscheinen daß alle diese Welten nur befristet in ihrer Entfaltung aufgehalten sind - etwa durch bösartige Machthaber oder schwere innere Zerrüttung oder Barbarei und Unverständnis -, davor zurückgehalten, daß sie dem Weg der westlichen pluralistischen Demokratie entgegenstreben und den westlichen Lebensstil übernehmen Und jedes Land ist danach zu beurteilen, wie weit es ihm schon gelungen ist, auf diesem Weg voranzuschreiten. Aber eine solche Vorstellung erwuchs nur aus der mangelnden Kenntnis des Westens vom Wesen der anderen Welten und daraus, daß diese fälschlicherweise mit westlichen Maßen gernessen werden. Die Karte der Entwicklung des Planeten hat mit dieser Denkart wenig Ähnlichkeit straft sie Lügen [...] Dies ist vielleicht das Auffallendste, das einem außenstehenden Beabachter des gegenwärtigen Westens sichtbar wird: Die westliche Welt ist des gesellschaftlichen Mutes verlustig gegangen, der "Zivilcourage", und zwar im großen wie im einzelnen, in jedem Land, in jeder Regierung, in jeder Partei und ohne Zweifel auch in der Organisation der Vereinten Nationen. Dieser Verlust der Courage wird besonders in der lenkenden und intellektuellen Führungsschicht evident, und daher rührt auch der Eindruck, daß die mutige Haltung die ganze Gesellschaft vollständig verlassen hat. Freilich, eine Anzahl individueller mutiger Menschen hat sich noch erhalten, aber sie sind es nicht, denen die Lenkung des gesellschaftlichen Lebens obliegt. Die politischen und intellektuellen Funktionäre weisen solche Verfallserscheinungen auf, durch Willenlosigkeit und Haltlosigkeit in ihren Handlungen, Auftritten und noch mehr in ihren eifrigen theoretischen Erhärtungen dafür, daß solche Handlungsweisen, die der staatlichen Politik Feigheit und Liebdienerei zugrunde legen, pragmatisch und vernünftig sowie auf jedem intellektuellen und moralischen Niveau gerechtfertigt seien. Dieser Verlust der Tapferkeit, der mitunter zu völligem Ausbleiben jeglicher Spur von Männlichkeit führt, leuchtet in besonders ironischer Weise anläßlich plötzlicher Genieblitze von Mut und Kompromißlosigkeit ebenjener Funktionäre auf, wenn sich diese gegen schwache Regierungen richtet oder gegen solche Länder, die von niemandem, gestützt werden, oder gegen allgemein verurteilte Bewegungen, die bekanntermaßen zur Selbstverteidigung außerstande sind. Aber die Zunge wird schwer, und die Hände erlahmen angesichts mächtiger Regierungen, angesichts der Kraft der Bedrohenden, angesichts der Agressoren selbst und angesichts der Internationalen des Terrors. Muß ich daran erinnern, daß seit altersher das Schwinden der Tapferkeit als erstes Vorzeichen für ein nahes Ende gilt?
Als die gegenwärtigen westlichen Staaten entstanden, wurde das Prinzip propagiert: die Regierung hat dem Menschen zu dienen, aber der Mensch lebt auf Erden, um Freiheit zu genießen und nach Glück zu streben (man denke nur an die amerikanische Unabhängigkeitserklärung). Und siehe da, der technische und soziale Fortschritt der letzten Jahrzehnte hat endlich die Möglichkeit dazu gegeben, alles zu erfüllen, was man erwarten konnte, den Staat des allgemeinen Wohlstandes. Jeder Bürger erhielt die gewünschte Freiheit und eine solche Qualität und Quantität an Gütern, daß theoretisch sein Glück gewährleistet sein mußte - in diesen subalternen Begriffen, wie sie sich in ebenjenen Jahrzehnten gebildet haben. [...]
In Übereinstimmung mit ihren Zielen hat die westliche Gesellschaft sich auch eine für sie angenehmste Form der Existenz ausgewählt, welche ich die juridische nennen würde. Die Grenzen der Rechte und des Rechtsbesitzes des Menschen (die sehr weit gesteckt sind) werden durch das System der Gesetze definiert. Im Beherrschen dieser juridischen Gangarten vom Verharren über die geraden bis zu den krummen Wegen haben die Menschen des Westens eine große Fertigkeit und Härte entwickelt. (Im übrigen sind die Gesetze so kompliziert, daß ein einfacher Mensch hilflos ist, wenn er sich ihrer ohne Spezialisten bedienen soll.) Jeder Konflikt wird juridisch gelöst - das ist die höchste Form einer Lösung. Wenn der Mensch juridisch recht hat - nach Höherem braucht man nicht zu streben. Danach kann niemand ihn auf eine Unzulänglichkeit seines Rechtsstandes hinweisen und sich Selbstbeschränkung auferlegen, zum Verzicht auf eigene Rechte, um irgendein Opfer bitten, um ein uneigennütziges Risiko - das würde man als Irrsinn ansehen. Auf freiwillige Selbstbeschränkung stößt man so gut wie nie alle streben nach Ausweitung ihres Rechts, bis die juridischen Rahmen gesprengt werden. (Juridisch einwandfrei verhalten sich die Ölkonzerne, wenn sie die Erfindung einer neuen Energiequelle aufkaufen, auf daß sie nie zur Auswertung gelange. Juridisch einwandfrei sind jene, welche die Lebensmittel vergiften, um Sie haltbar zu machen: dem Publikum bleibt ja die Freiheit überlassen, sie nicht zu kauten.)
Als einer, der sein ganzes Leben unter dem Kommunismus verbracht hat, sage ich euch: Schrecklich ist jene Gesellschaft, in welcher überhaupt keine unparteiischen, juridischen Waagen bestehen. Aber eine Gesellschaft, in welcher keine anderen Waagen bestehen als die juridischen, ist auch wenig menschenwürdig. Ehe Gesellschaft, welche sich auf die Grundlage des Gesetzes stellt und nicht auf eine höhere Ebene, schöpft die Weite der menschlichen Möglichkeiten wenig aus. Das Recht ist zu kalt und zu formal, um auf die Gesellschaft positiv einzuwirken. Wenn alles Leben von juridischen Beziehungen durchdrungen ist, entsteht eine Atmosphäre moralischer Mittelbarkeit, welche die erhabensten Höhenflüge des Menschen abstürzen läßt. Denn vor den Prüfungen des drohenden Zeitalters nur mit juridischen Stützen zu bestehen wird ganz und gar unmöglich sein.
In unserer gegenwärtigen westlichen Gesellschaft hat sich ein Ungleichgewicht zwischen Freiheit zu Gutem und Freiheit zu Bösem offenbart. Und der Staatsmann, welcher für sein Land ein großes schöpferisches Werk vollbringen will, ist gezwungen mit behutsamen und geradezu ängstlichen Schritten vorzugehen; er ist ständig von Tausenden voreiligen (und verantwortungslosen) Kritikern festgenagelt, dauernd weisen ihn Presse und Parlament zurecht. Er muß ständig seine über alles erhabene Untadeligkeit beweisen und imstande sein, jeden Schritt zu rechtfertigen. Im Grunde kann der Mann verdienstvoll, begabt, mit ungewöhnlichen Maßstäben ausgestattet sein, aber er kann sich gar nicht entfalten - denn schon von Anfang an werden ihm zehn Hindernisse in den Weg gelegt. So wird unter dem Deckmantel der demokratischen Kontrolle der Mittelmäßigkeit zum Triumph verholfen. [...]
Demgegenüber hat die destruktive Freiheit, die verantwortungslose Freiheit den allergrößten Raum erhalten. Die Gesellschaft hat sich als schlecht gefeit gegen die Übel menschlichen Verfalls erwiesen, beispielsweise gegen den Mißbrauch der Freiheit zur moralischen Vergewaltigung der Jugend, etwa Filme mit Pornographie, Verbrechen und Teufelsspuk. Alle diese Dinge haben sich dieses Freiheitsraumes bemächtigt und werden theoretisch durch die Freiheit der Jugend wiederaufgehoben, sich ihnen zu entziehen. So erweist sich die rechtliche Grundlage des Lebens als ungeeignet, sein Gedeihen vor dem Aussatz des Bösen zu schützen. Was soll man dann aber über die finsteren Bereiche der unmittelbaren Kriminalität sagen? Die Weite der juridischen Rahmen (besonders der amerikanischen) trägt nicht nur zur Stärkung der Freiheit, der Persönlichkeit bei, sondern ermuntert sogar gewissermaßen zu Verletzungen dieser Freiheit, gibt dem Gesetzesübertreter die Möglichkeit, ungestraft zu bleiben oder in den Genuß unverdienter Nachsicht zu kommen - dank der Unterstützung Tausender Verteidiger aus der Öffentlichkeit. Wenn aber irgendwo Regierungen darangehen, den Terrorismus rigoros von der Wurzel her auszurotten, so werden sie sofort von der Öffentlichkeit beschuldigt, die bürgerlichen Rechte der Banditen verletzt zu haben. Es mangelt nicht an Beispielen dazu.
All dieses Hinüberneigen der Freiheit auf die Seite des Bösen hat sich allmählich vollzogen, aber die primäre Grundlage dazu resultiert zweifellos aus dem anthropophilen Menschheitsbild des Humanismus, daß nämlich der Mensch, Herr dieser Welt, in seinem Inneren nicht Böses birgt und daß alle Gebrechen des Lebens ausschließlich von inadäquaten sozialen Systemen herrühren, welche auch korrigiert werden müssen. Doch merkwürdig, gerade im Westen, wo die allerbesten sozialen Bedingungen erreicht sind, ist die Kriminalität :zweifellos gewaltig hoch und bedeutend größer als in der armen und gesetzlosen sowjetischen Gesellschaft. (Als Verbrecher sitzen in unseren Lagern unzählige Menschen, doch die weitaus überwiegende Mehrzahl sind nicht Kriminelle, sondern solche, die sich gegen den gesetzlosen Staat mit nicht juridischen Mitteln zu verteidigen versucht hatten.)
Des allerbreitesten Freiheitsraumes erfreut sich in der Tat auch die Presse (ich verwende im folgenden dieses Wort für alle Massenmedien). Aber wie bedient sie sich seiner?
Wiederum geschieht alles so, das die gesetzlichen Rahmen gerade nicht überschritten werden, jedoch ohne jede echte moralische Verantwortung für die Entstellung von Tatsachen und für das Verrücken von Proportionen. Welche Verantwortung vor dem Lesepublikum und vor der Geschichte existiert denn überhaupt bei einem Journalisten und einer Zeitung? Wenn diese auch durch eine unwahre Information oder falsche Schlußfolgerungen die öffentliche Meinung auf einen falschen Weg geführt, wenn sie womöglich zu. Fehlentscheidungen von Regierungen beigetragen haben -kennen Sie etwa einen Fall, daß Journalisten oder Zeitungen nachträglich öffentlich ihr Bedauern bekundet haben? Nein, das würde ja dem Absatz schaden. In einem solchen Fall kann nur der Staat das Nachsehen haben, aber der Journalist kommt mit heiler Haut davon. Eher noch wird er jetzt mit neuer Selbstsicherheit das Gegenteil vom Vorhergehenden behaupten.
Die Notwendigkeit, ad hoc eine mit Überzeugungskraft ausgestattete Information zu geben, zwingt dazu, Leerstellen mit Mutmaßungen auszufüllen, Gerüchte und Vermutungen anzuhäufen, die dann nie mehr widerlegt werden, sich aber im Gehirn der Massen festsetzen. Wie viele voreilige, gedankenlose, unausgereifte und irrige Meinungen werden tagtäglich zum Besten gegeben, quälen die Hirne der Leser - und erstarren dort! Die Presse hat es in der Hand, sowohl die öffentliche Meinung vorzugeben, als auch - sie zu manipulieren. Einmal wird den Terroristen ein herostratischer Ruhmeskranz gelochten, dann wiederum werden seiest bestgehütete Geheimnisse des eigenen Landes gelüftet, dann wieder mischt man sich schamlos in das Privatleben prominenter Persönlichkeiten ein unter der Parole "Alle haben das Recht, alles zu wissen" (die verlogene Parole eines verlogenen Jahrhunderts: weit höher zu bewerten ist das in Verlust gegangene Recht des Menschen, nicht zu wissen, nicht auf seine von Gott gegebene Seele mit Geklatsch, Geschwätz und hohlem Unsinn einzutrommeln. Menschen, deren Dasein ausgefüllt ist mit echtem Werk und Inhalt, bedürfen nicht dieses Überflusses an Informationsballast). [...] Eine unbestreitbare Tatsache Schwächung des menschlichen Charakters im Westen - seine Festigung im Osten. In sechs Jahrzehnten hat unser Volk, in drei Jahrzehnten haben die Völker Osteuropas eine seelische Schulung durchgemacht, welche die westliche Erfahrung weit hinter sich gelassen hat. Das schwer und unerträglich lastende Leben hat die Charaktere noch stärker herausgeformt ernster und interessanter gemacht, als es das wohlfeile, geregelte Leben des Westens vermochte. Aus diesem Grunde würde für unsere Gesellschaft eine Bekehrung zu der euren zwar in mancher Hinsicht einen Aufstieg bedeuten, aber in anderer Hinsicht - auch einen Abstieg - und zwar einen kostspieligen. Ja, es ist unmöglich für eine Gesellschaft, auf die Dauer in einem solchen Abgrund der Gesetzlosigkeit zu verharren, wie es bei uns der Fall ist, aber auch tödlich für sie, auf einer solch seelenlosen juridischen glatten Oberfläche, wie es bei euch der Fall ist. Die Seele des Menschen der jahrzehntelang Gewalt angetan worden ist, strebt, abgehärmt, wie sie ist, nach etwas Höherem, Wärmerem, Reinerem, als uns die gegenwärtige westliche Massenexistenz anzubieten imstande ist, wie wir sie ihrer Visitenkarte nach erwarten können: nach der abstoßenden Massivität der Reklame, der Verdummung des Fernsehens und ihrer unerträglichen Musik. Und das alles gibt sich den Augen vieler Beobachter zu erkennen, aus welchen Welten unseres Planeten sie auch kommen. Die westliche Existenzform hat zusehends weniger Chancen, Leitbild zu werden.
Immer wieder gibt es symptomatische Alarmzeichen, welche die Geschichte den bedrohten oder im Untergang befindlichen Gesellschaften sendet: beispielsweise der Verfall der Künste, oder das völlige Fehlen großer Staatsmänner. Bisweilen sind, die Warnungen auch unmittelbar wahrzunehmen, auf ganz direkte Weise: das Zentrum eurer Demokratie und Kultur braucht nur ein paar Stunden ohne elektrischen Strom zu sein - das genügt -, und schon stürzen sich ganze Massen amerikanischer Bürger in Gewalttaten und Plünderungen. So dünn Ist die Tünche! So zerbrechlich ist die gesellschaftliche Struktur, so kraß das Fehlen ihrer inneren Gesundheit.
Nicht irgendwann in der Zukunft wird er einsetzen, sondern er ist bereits jetzt im Gange, der - ja, es ist ein physischer, geistiger, kosmischer! - Kampf um unseren Planeten. In die entscheidende Phase des Angriffs ist das weltumfassende Böse eingetreten, und es lastet bereits auf una. Aber eure Prolektionswände und Druckseiten sind immer noch voll von Pflichtlächeln und erhobenen Bechern. Was soll der Spaß. [...]
Aber auch die allerstärkste Bewaffnung wird dem Westen nichts nützen, solange er nicht selbst das Schwinden seines Willens überwindet. Bei einem solchen Maß an seelischer Erschlaffung - wird diese Bewaffnung zur Überbürdung dessen, der sich selbst aufgibt. Für die Verteidigung ist auch die Bereitschaft, in den Tod zu gehen, notwendig, aber an dieser mangelt es in der Gesellschaft, die im Kulte des Wohlergehens auf Erden erzogen worden ist. Und dann bleibt nur Rückzug, Aufschub, Verrat. Im schmachvollen Belgrad haben freie westliche Diplomaten in ihrer Schwäche Jene Grenzlinie abgetreten, an welcher die unterdrückten Mitglieder der Menschenrechtsbewegung von Helsinki ihr Leben hingeben.
[...] Und vor dem Antlitz dieser Gefahr kann es möglich sein, mit einer solchen Anhäufung von Werten im Rücken, mit einem so hohen Maß an erreichten Freiheiten und dieser förmlichen Hingabe an sie, den Willen zur Selbstverteidigung so weit zu verlieren?
Wie ist es denn ,überhaupt zu die;em Mißverhältnis gekommen? Wie ist es dazu gekommen, daß die Welt des Westens von ihrem Triumphmarsch in diesen Zustand der Kraftlosigkeit verfallen ist? Haben sich im Laufe ihrer Entwicklung schädliche Wendungen, Störungen dieses eingeschlagenen Kurses ergeben? Ja und nein. Der Westen hat nichts anderes getan als voranzuschreiten und immer weiter voranzuachreiten, in einer angekündigten sozialen Richtung, Hand in Hand mit dem weithin leuchtenden Fortschritt. Und plötzlich treffen wir ihn in diesem gegenwärtigen Zustand der Schwäche an.
Und da bleibt nichts anderes übrig, als den Fehler an seiner Wurzel selbst zu suchen, an der Basis des Denkens der Neuzeit. Ich meine jene im Westen herrschende Weltanschauung, die in der Renaissance geboren und in der Ära der Aulklärung in politische Formen gegossen wurde, sich alle Wissenschaften von Staat und Gesellschaft zugrunde gelegt hat und die man vielleicht "rationalistischen Humanismus. oder besser "humanistische Autonomie. nennen könnte, als Autonomie des Menschen über jede höhere Instanz propagiert und durchgesetzt. Oder anders, als Antropozentrismus - die Vorstellung vom Menschen als Mittelpunkt alles Seienden.
Der mit der Renaissance eingeleitete Wendepunkt war an sich natürlich unvermeidlich, historisch gesehen: das Mittelalter hatte alle seine Möglichkeiten erschöpft, es wurde in seiner despotischen Unterdrückung der physischen Natur des Menschen zugunsten seiner spirituellen unerträglich. Aber wir sind dem Geiste abtrünnig geworden und haben uns der Materie zugewandt - unverhältnismäßig, maßlos. Das humanistische Bewußtsein, das. zu unserem erklärten Leitbild wurde, hat die Existenz des Bösen im Menschen nicht eingestanden und ihm, dem Menschen, kein höhe. es Ziel zuerkannt als das Streben nach dem irdischen Glück und so der modernen westlichen Zivilisation die gefährliche Neigung in die Wiege gelegt, sich vor dem Menschen und seinen materiellen Bedürfnissen ehrfürchtig zu verbeugen. Über das physische Wohlbefinden und die Anhäufung materieller Werte hinaus sind alle anderen Eigenschaften, alle anderen Bedürfnisse des Menschen, nämlich die subtileren und höheren, der Aufmerksamkeit der Staatsapparate und der sozialen Systeme entgangen, als wohnte dem Menschen nicht ein tieferer Lebenssinn inne. So waren dem Bösen Tür und Tor geöffnet, ao daß dieses heute ungehindert durch diese Ordnungen zieht. Von sich aus allein löst die nackte Freiheit in keiner Weise alle Probleme der menschlichen Existenz, sondern wirft eine Menge neuer auf.
Aber immerhin wurden in den frühen Demokratien - so auch in der amerikanischen bei ihrer Geburt - alle Rechte dem Menschen nur als einem Geschöpf Gottes zuerkannt, das heißt diese Freiheit wurde dem Menschen nur bedingt verliehen, unter der Voraussetzung einer ständigen religiösen Rechenschaft - das war das Erbe des vorangegangenen Jahrhunderts. Erst 200 Jahre zuvor, ja sogar noch vor 50 Jahren, war es unvorstellbar, daß der Mensch hemmungslose Freiheit erhielte - einfach so, zum Frönen seiner Leidenschaften. Aber reit dieser Zeit ist dieser Grenzstein in allen westlichen Ländern verwittert, hat sich eine endgültige Loslösung vom moralischen Erbe der christlichen Jahrhunderte vollzogen - mit ihren großen Schriften, sei es an Güte, sei es an Opferbereitschaft, und die staatlichen Systeme nahmen immer mehr das Aussehen des vollendeten Materialismus an. Der Westen hat schließlich die Rechte des Menschen verteidigt, und das sogar im Überfluß aber das Bewußtsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und der Gesellschaft ist vollkommen verwelkt. In den allerletzten Jahrzehnten Ist dieser rechtliche Egoismus des westlichen Weltbildes endgültig erreicht worden und die Welt hat sich in einer grausamen geistigen Krise und politischen Sackgasse gefunden. Und alle technischen Errungenschaften des hochgepriesenen Fortschrittes haben - einschließlich der Eroberung des Kosmos - jene moralische Verarmung nicht wettmachen können. n welche das 20. Jahrhundert geraten war und die man nicht hatte voraussehen können, nicht einmal aus der Sicht des 19. Jahrhunderts.
Je mehr sich der Humanismus In seiner Entwicklung materialisiert hat, desto mehr gab er Grundlage, mit ihm Spekulationen anzustellen - erst dem Sozialismus und dann auch dem Kommunismus. So daß Karl Marx formulleren konnte (1844): "Der Kommunismus ist naturalisierter Humanismus."
Und das erwies sich als gar nicht so unsinnig - in den Fundamenten des erstarrten Humanismus und jedes Sozialismus kann man gemeinsame Steine erkennen: den grenzenlosen Materialismus, Freiheit von Religion und religiöser Verantwortlichkeit (im Kommunismus bis zur religiösen Diktatur getrieben), Konzentration auf die soziale Struktur und Betonung der wissenschaftlichen Aspekte der Sache (Aufklärung des 18. Jahrhunderts und Marxismus). Nicht zufällig drehen sich alle Schwurformeln des Kommunismus um den Menschen, geschrieben mit einem großen "M", und sein irdisches Glück. Was für eine paradoxe Gegenüberstellung - gemeinsame Züge in der Weltanschauung und der Lebensordnung des gegenwärtigen Westens und des gegenwärtigen Ostens-, aber das ist die Logik der Entwicklung des Materialismus. [...]
Ich ziehe nicht den Fall einer universalen Kriegskatastrophe in Betracht, und jene Veränderungen der Gesellschaft die eine solche auslösen würde Solange wir täglich unter einer ruhigen Sonne aufwachen, haben wir auch das tägliche Leben zu führen. Aber es gilt eine Katastrophe, die schon in beträchtlichem Umfang eingesetzt hat: das ist die Katastrophe des religionslosen Bewußtseins, autonom im Sinne des Humanismus.
Dieses Bewußtsein hat den Menschen zum Maß aller Dinge auf Erden bestimmt - den unvollkommenen Menschen, der niemals frei von Eigenliebe sein kann, von Habsucht, Neid, Eitelkeit und Dutzenden anderer Laster. Und siehe da, die Mängel, die zu Beginn des Weges entsprechend eingeschätzt worden sind - jetzt nehmen sie Rache an sich selbst. Der Weg, den wir seit der Renaissance durchschritten haben, hat uns an Erfahrung bereichert, aber wir haben jenes Ganze Höhere auf dem Weg gelassen, das irgendwann unseren Leidenschaften und unserer Freiheit von Verantwortung eine Grenze gesetzt hatte. Zuviel Hoffnung haben wir in die politisch-sozialen Umgestaltungen gesetzt - und es zeigte sich, daß diese uns des Allerkostbarsten berauben, das wir besitzen: unseres Innenlebens. Im Osten wird es vom Parteimarkt mit Füßen getreten, im Westen vom Wirtschaftsmarkt. Und das ist das Übel: nicht so sehr die Tatsache daß die Welt gespalten ist, muß erschrecken, sondern daß sich die Krankheitsbilder hier und dort gleichen.
Wenn es tatsächlich wahr wäre, den - wie der Humanismus propagiert hat - der Mensch nur für das Glück geboren wäre, so wäre er nicht auch geboren für den Tod. Aber eben aus der Tatsache, daß er körperlich dem Tod bestimmt ist, ergibt sich seine Aufgabe hier auf Erden als eine geistige: nicht die Jagd nach Alltäglichem, nicht die Suche nach optimalen Mitteln zur Erlangung von Gütern, um diese dann fröhlich durchzubringen, sondern das Tragen einer nicht ablegbaren schweren Schuldigkeit, so daß der ganze Lebensweg in erster Linie zu einem Streben nach moralischer Erhebung wird: den Lebensweg als ein Wesen höheren Grades zu verlassen, als man ihn angetreten hat. Wir kommen nicht umhin, die Skala der Werte zu überprüfen, die unter den Menschen als solche gelten und uns über ihre Fehleinschätzung heute zu wundern. Es dar! nicht möglich sein, daß die Tätigkeit eines Staatspräsidenten danach beurteilt wird, wieviel jeder von uns verdient, und ob es Benzin unbegrenzt zu kaufen gibt. Nur die freiwillige Erziehung des Menschen zu klarer Selbstbeschränkung erhebt die Menschen über den Materialfluß der Welt. [...]
Wenn die Welt jetzt vielleicht noch nicht vor dem Untergang steht, so doch zumindest vor einer Wende der Geschichte, die in nichts an Bedeutung der Wende des Mittelalters zur Renaissance nachsteht - und diese Wende wird von uns ein Aufleuchten des Geistes erfordern, einen Aufbruch zu einer neuen Höhe des Überblicks, auf ein neues Lebensniveau, auf dem zwar nicht, wie im Mittelalter, die physische Natur des Menschen der Verdammung überlassen sein wird, auf dem aber um so weniger, wie in der neuesten Zeit, unser geistiges Leben zertreten wird.
Der Aufbruch wird einem Aufstieg auf die nächste anthropologische Stufe gleichkommen. Und niemand auf der Welt hat einen Ausweg als den - nach oben. (Übersetzung: Elisabeth Horesch) |