Vom inneren Gebet
von Rudolf Muschalek
(Vortrag, gehalten am 19.03.1969) Ich habe mich vor einigen Wochen (...) bereit erklärt, in unserer heutigen Zusammenkunft etwas zu sagen. Gestatten Sie aber, liebe Freunde, bevor ich zum Thema komme, zwei Vorbemerkungen, die wie ich glaube, anschließend nützlich sein können.
1. Das, was ich Ihnen vorlegen darf, kann nicht Gegenstand einer "Diskussion" sein. Das Wort "Diskussion" kommt von dem lateinischen Zeitwort discutere; dies List ein Kompositum von quatere, d.h.: schütteln; discutere also: auseinanderschütteln, auseinanderjagen, sprengen, zerschlagen, vernichten. So die Ableitung. Und ich will nicht leugnen, ich empfinde von daher, von dieser Ableitung her eine riefe Abneigung gegen das heute so viel und immer wieder gebrauchte Wort Diskussion, das freilich heute kaum mehr sein soll als ein Fremd- bzw. Modewort für Erörterung, Aussprache, Meinungsaustausch, also für jene Verhaltensweise im Gespräch, bei der die Wahrheit erst gefunden werden soll. Bei Tatsachen kann füglich von Diskussion in diesem Sinne nicht die Rede sein. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß ich gerne bereit bin, Fragen zu beantworten, wenn eine Antwort von mir gegeben werden kann.
2. Gern und freudigen Herzens unterwerfe ich, was ich sagen möchte, Ihrem Urteil und Ihrer Weisung und möchte auch gerne Ihren Rat und Hinweis entgegennehmen. Wir dürfen uns wohl hier als ecclesiola, als eine der Millionen Zellen im geheimnisvollen Leibe Christi betrachten. Christus ist unter uns, Gottes Geist weht und webt in uns. Ich möchte nicht isoliert sein, am allerwenigsten bei so intimen geistlichen Dingen, über die man sonst so gut wie nie redet, und die darum so subjektiv sind und bleiben. Die Regulierung, falls sie notwendig ist, durch die objektiv gegebene Gemeinschaft, die Kirche, d.h. konkret durch Sie, ist unerläßlich. Nur hoffe ich dabei die verstehende Güte des Guten Hirten, - nachdem ich es im Laufe meines Lebens auch anders erleben mußte.
Nach dieser vielleicht etwas zu lang geratenen Vorrede in medias res! Ich bin bereit, Ihnen etwas zu sagen von dem Gebetsleben, wie es sich in mir im Laufe meines Lebens abgespielt hat. Was ich sage, ist natürlich nicht aus Büchern geschöpft, sondern aus meinem eigenen inneren Leben, wobei ich mich durchaus an die Tatsachen, an die Wirklichkeit halten will.
Ich beginne mit einem Augustinuswort, das mein lieber Vater mir einst mehr als einmal gesagt hat: "Du hast uns, o Gott, für Dich geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis daß es ruht in Dir!" Der Zauber dieses Wortes, die Unruhe, die ihm entströmt, und gleichzeitig die Ruhe, nämlich in der Hoffnung, berührten mich als Kind. Dieses "inquietum est cor nostrum, donec requiescat in Te, Domine!" bewegte mich als Jüngling, - ich weiß nicht, wie oft ich es innerlich hörte, in mir wiederholte, vor mich hin murmelte, dann und wann betete.
Im Augenblick übergehe ich die Folgezeit und blicke von jetzt aus rückwärts. Ich entdeckte kurze, knappe Formulierungen, im wesentlichen keinem Gebetbuch entnommen, so viel ich bemerken kann. Sie tauchten in der Seele auf. Ich nenne nur solche, die in der Seele geblieben sind, nicht solche, deren sich Gott vorübergehend bedienen wollte, die Seele zu nähren.
Hier muß erwähnt werden die Formel zu allererst: "Ewiger Herr aller Dinge!" Ich erinnere mich an bestimmte Gelegenheiten, es war kurz nach dem Zusammenbruch oder vermutlich etwas vorher, es mögen etwa 25 Jahre her sein oder mehr. So lange tauchten diese vier Worte immer wieder in meiner Seele auf. Einmal in der Woche, vielleicht am Sonntag, mehrmals in der Woche, mehrmals am Tage, mehrmals bei derselben Gelegenheit. Sie tauchten auf in verschiedener Betonung, sozusagen verschieden beleuchtet oder gefärbt, ganz besonders aber als Ausdruck der Sehnsucht und der Hingabe, einer brennenden Sehnsucht, einer, wenn es möglich wäre, restlosen Hingabe.
Etwa ebenso lange, wenn nicht noch länger, tauchte in meiner Seele ein anderer Gebetsruf auf, der allerdings, je nach "Wetterlage", so möchte ich es einmal sagen, eine Abänderung erfuhr: "O Herr, erlaube bitte, daß ich Dich liebe!" oder: "O Herr, gestatte bitte, daß ich Dein bin!", auch: "O Herr, bewirke bitte, daß ich Dich immer mehr und inbrünstig liebe!" Es mag sein, daß der Seele die Behauptung: "O Herr, ich liebe Dich!" zu arrogant, zu anmaßend erschiene. Deswegen dann der Versuch, was empfunden wird, zu umschreiben, was dann auf andere, wenn man es sagt, vielleicht verschnörkelt, kompliziert erscheinen mag.
Nicht so alt wie die erwähnten Formulierungen, aber immerhin eine Reihe von Jahren alt, sind folgende Gebetsrufe in der Seele: "O Herr, in Deine Hände, o Herr in Deine Arme! O Herr, in Dein Herz!" sowie: "O Herr, In Deinen Händen, o Herr, in Deinen Armen! O Herr, in Deinem Herzen!" Es leuchtet dabei ein, daß die ersten drei Formulierungen die angstvolle oder freudige Sehnsucht der Seele zum Ausdruck bringen - wohin strebt die Seele? -, die letzten drei aber ihr beglückendes Geborgensein und Aueruhen - wo ruht die Seele? Schließlich stellt sich seit einigen Jahren noch folgender innerer Ruf immer wieder ein: "O Herr, Du weißt alles, das Alte und das Neue!" Ganz gewiß ist hier nicht nur das reine, bloße Wissen gemeint, sondern jenes allumfassende göttliche Wissen, das gleichzeitig gütige Nachsicht und liebevolle Vorsarge ist. Ferner kann man sich denken, daß dieser Gebetsruf sich besonders gern dann einstellt, wenn irgendetwas Quälendes aus der Vergangenheit auftaucht, oder wenn irgend etwas Drohendes in der Gegenwart oder der Zukunft auf die Seele zukommt.
Das wäre zunächst eine Art Bestandsaufnahme. Vielleicht aber muß man, was sich hier in der Seele regt, doch auch noch im Zusammenhang betrachten. Und da möchte ich dies sagen: Es handelt sich bei diesen Gebetsrufen, mögen sie auch in dem einen oder andern Falle kombiniert oder leicht abgeändert erscheinen, um feste Gebetskerne, sozusagen Kristalle. Andere tauchen, unwillkürlich jedenfalls, nicht auf diese aber immer wieder. Sie werden, meistens jedenfalls, auch nicht gelenkt oder provoziert, sie tauchen von selbst auf und sind da. Freilich, sie gehen auch wieder fort.
Wann tauchen sie auf? Eine Regel kann ich nicht feststellen. Ich neige dazu zu sagen: wann Gott es will - natürlich abgesehen von den Fällen, in denen ich sie ausdrücklich herbeirufe, wie jetzt. Und welche Wirkung haben sie? Vor allem diese: ein kaum zu beschreibendes beglückendes Gefühl der Geborgenheit in Gott,und im Gefolge davon ruhige, ich möchte beinahe sagen: lächelnde Gelassenheit allen tatsächlichen oder möglichen irdischen Gegebenheiten gegenüber. Was gäbe es auch, was unglücklich machen könnte, wenn man der Überzeugung sein darf, im Herzen Gottes zu ruhen?
Es scheint aber Gelegenheiten zu geben, bei denen die genannten Gebetsrufe besonders gern auftauchen. Die eine ist: bei seelischen Wirrnissen aller Art, auch wenn sie schuldhaft sind, d.h. bei Sünden. Hier wurde m.E. ganz zu Recht darauf hingewiesen, daß wohl niemand von uns so wahnsinnig sein würde, sich mit erhobener Faust vor Gott hinzustellen. Wenn dem aber so ist, dann scheint es mir, daß die genannten Rufe mit einem gewissen Rechte auftauchen, vielleicht stöhnend, aber doch, auch in der Sünde. Man watet vielleicht in ihr, aber - möglicherweide ohne es ausdrücklich zu wollen, man versinkt nicht in ihr, bleibt in ihr nicht einmal stehen, sondern watet weiter, und ein mal wird man hindurchgewatet sein.
Eine andere Gelegenheit ist gegeben bei Enttäuschungen, die man erfährt: im Beruf, in der Familie, in der Ehe. Hier geschieht es denn, daß, wenn frühmorgens im Bett die Augen sich nicht mehr schließen wollen, die Hände sich wie von selbst falten und, während drüben die Gattin ruhig atmend schläft, jene Gebetsrufe wie Stöße durch die Seele beben.
Eine dritte Gelegenheit sei noch erwähnt, nämlich in Lebensgefahr und Todesnot und, wenn man aller Freizeit beraubt ist. Südlich Prag, in der Nähe von Pilsen, wurde ich an einem Donnerstag, am 10.5.1945, es war der Tag Christi Himmelfahrt, etwa um 17.oo gefangengenommen; endlos schleppte sich dann der Zug der Gefangenen in Richtung der Hauptstadt Böhmens. Neben mir ging ein junger Arzt, der bald von meiner Seite weggerufen wurde. Er sah mich von der Seite an und flüsterte, wie ich denn das ertragen könne. Ohne den Kopf zu wenden, flüsterte ich zurück, ich sei überhaupt nicht da; sie glaubten, ich sei da; ich sei es nicht. - Übrigens durfte man nicht merken lassen, daß man zusammen sprach; sonst konnte man die Nagaika der mitreitenden Kosaken auf dem Kopf spüren.
Wir haben heute den Tag des Hl. Josephs. In meiner Jugend lernte ich ihn verehren als Patron des innerlichen Lebens. Als solchen verehre ich ihn heute noch. Ich bin glücklich, daß ich meine Ausführungen machen durfte gerade heute, an seinem Festtag. Und noch etwas anderes erfüllt mich am Schluß mit dankbarer Zufriedenheit: St. Joseph ist ja auch der Patron einer guten Sterbestunde. Sehen Sie, daß ich Ihnen das alles heute sagen durfte, betrachte ich als eine besondere Gnade. Ich bin jetzt über 66 Jahre alt; aber wem durfte ich bis jetzt je solches sagen? Mit einzelnen Menschen konnte ich gelegentlich darüber sprechen, es waren Geistliche oder Laien. Doch hatte ich immer den Wunsch, in einem Kreise gleichgesinnter Freunde ein~mal davon sprechen zu dürfen, bevor ich sterbe. Dieser Wunsch ist mir heute in Erfüllung gegangen; dafür bin ich dankbar.
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