DAS BETT DES PROKRUSTES
von
Werner Nicolai
Von Prokrustes berichtet die Sage, er habe Reisende, die des Weges
zogen, gepackt und auf sein Bett geworfen. Waren sie zu groß, kürzte er
sie, daß sie darauf paßten, waren sie zu klein, dann streckte er sie
gewaltsam.
Wendet man die Methode dieses antiken Folterknechtes auf die Ideologen
alle Schattierungen an, so wird man unschwer Beispiele dafür finden,
wie bis zum heutigen Tag nicht nur einzelne, sondern ganze Völker auf
das Prokrustesbett von Irrlehren oder von Ideologien gepreßt werden.
Wer (sich) nicht (an)paßt, wird zugrundegerichtet.
Da für uns Katholiken das Wort Christi gilt,"... die Wahrheit wird euch
frei machen." (Joh. 8,32), sollte man annehmen, daß derlei
Anwandlungen, nämlich andere nach der eigenen Überzeugung oder was man
dafür hält, zu messen, zu bewerten oder zu be- und verurteilen, nicht
existieren. Denn wer frei ist, verdankt dies der Gnade Gottes, welche
niemals zwingt. So wird ein solcher Mensch, nachdem ihm zehntausend
Talente, die er dem König schuldete, erlassen worden sind, nicht
hingehen, und seinem Mitmenschen, der ihm etwa den millionsten Teil
schuldig ist, die Freiheit nehmen und in den Schuldturm werfen.
Doch die Wahrheit als wahr erkennen und annehmen und danach leben und
handeln sind zwei Dinge, die zusammengehören. Das wird bisweilen
übersehen, und so geschieht es, daß auch bei uns, die wir an dem
überlieferten Glauben festhalten, ihn verteidigen und fördern,
wirkliche oder vermeintliche Abweichungen übel vermerkt werden.
Ich meine nicht das unabläassige Ringen um die zahllosen, in Frage
gestellten katholischen Glaubenswahrheiten, die es gilt, zu vertiefen
und zu erweitern. Auch meine ich nicht den Loslösungsprozeß eines jeden
von uns, der im 'Gleichschritt' mitmarschierte, bis er früher oder
später merkte, daß da andere die Führung übernommen hatten und das
Kirchenvolk immer mehr auf den breiten Weg lenkten, der ins Verderben
führt. Und schon gar nicht meine ich die Verfasser und Herausgeber von
Büchern und Schriften, die uns seit vielen Jahren über die permanente
Verfälschung und Unterdrückung der Wahrheit informieren, denn ohne ihr
selbstloses Wirken hätte ich wahrscheinlich sehr viel länger gebraucht,
um das üble Treiben der Modernisten zu durchschauen.
Wen ich meine, das sind die 'Parteigänger', die mich einem Mann oder
einer bestimmten Gruppe verpflichten wollen, die Besserwisser, die in
liturgischen Fragen sogar Papst Pius XII. noch übertreffen an
Sachverständnis, die Unnachgiebigen, die den nach langem inneren
Kämpfen zu unserem hl. Meßopfer Zurückgekehrten wegen seiner äußeren
Haltung tadeln, die Kritischen, welche nicht müde werden,mit Worten
über jene herzufallen, die sich abmühen um den Fortbestand des hl.
Meßopfers, die Beleidigten, weil ihre Arbeit und ihr Opfer nicht
gebührend gewürdigt wurden, Einseitigen, die nur 'Botschaften' des
Himmels, aber kaum noch ihren Katechismus kennen und schließlich die
Ohrenbläser, die jedem Gerücht Glauben schenken und es unverzüglich,
mit eigenen Zusätzen versehen, weitergeben.
Schließlich sind da noch die Überängstlichen, die es nicht wagen, eine
bei uns angebotene Zeitschrift weiterhin zu beziehen, da einmal etwas
drinstand, was sie ablehnen zu müssen glaubten oder was wirklich nicht
in Ordnung war. Auf die Idee, sich persönlich mit der Sache
auseinanderzusetzen und die eigene Meinung dem Autor mitzuteilen,
kommen diese Leute meistens nicht. Immerhin zwingen sie dem Nächsten
ihre Negativmeinung nicht auf, und somit gehören sie auch nicht zu den
'Prokrustes jungem', obgleich auch ihr Verhalten Schule macht.
Vielleicht sollten wir alle miteinander mehr Geduld haben. Vor allem
jedoch sollten wir das Wort beachten: "Jeder prüfe sein eigenes Tun."
(Gal. 6,3b) (Überhaupt lohnt es sich, auch die übrigen Verse 1 bis lo
zu lesen!) Und weil nur einer, nämlich der Widersacher, daran
interessiert sein kann, uns zu spalten und in jeder Weise zu schaden,
mögen wir uns in acht nehmen, daß wir nicht etwa in vermeintlich guter
Absicht seine Geschäfte betreiben. Wem nützt es denn, wenn man sich
unversöhnlich zerstreitet? Oder wenn man die eigenen Leute (Splitter)
bekämpft und das Treiben der Modernisten (Balken) kaum noch zur
Kenntnis nimmt?
Ist es nicht auch merkwürdig, daß soviel guter Wille vorhanden und
spürbar ist bei Menschen, von denen wir im Glauben getrennt sind? Wir
besitzen die Wahrheit, aber sie haben die Liebe - könnte man oft sagen.
Lernen wir ein wenig von ihnen, denn wenn wir die Wahrheit auch
ernstlich zu leben bemüht sind, werden wir sie schließlich
auch überzeugen.
Zum Schluß noch dies zur Vermeidung von Mißverständnissen: Ich gehöre
zu den traditionstreuen Katholiken, die von ihrem Glauben um kein Jota
abrücken. Damit verbindet sich eine sehr aktive Haltung. Jedoch bin ich
nicht geneigt, vorschnell Brücken abzubrechen wegen irgendwelcher
Vorkommnisse. Wie mir selbst, billige ich auch anderen Fehler und
Irrtümer zu, weil wir dazu neigen. Man kann und man sollte aber darüber
reden, und dabei halte ich an dem bewährten Grundsatz fest: In der
Sache hart (wenn es um Unaufgebbares geht), jedoch in der Form
verbindlich und zuvorkommend.
"Das Ende aller Dinge hat sich genaht. Seid also besonnen und nüchtern
im Gebet. Vor allem habt innige Liebe zueinander, denn die Liebe deckt
eine Menge Sünden zu. Seid gastfrei gegeneinander ohne Murren. Dienet
einander, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als gute Verwalter
der mannigfaltigen Gnaden Gottes. Wer die Redegabe hat, trage Gottes
Wort vor. Wer ein Amt hat, verwalte es mit der Kraft, die Gott
verleiht, damit Gott in allem durch Jesus Christus verherrlicht werde.
Ihm sei Herrlichkeit und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit."
(1.Petr.4,7-11)
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