"WIR STOLZE MENSCHENKINDER ... "
(Aus dem "Abendlied" von Matthias Claudius)
von
Rudolf Muschalek
4. "Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel."
Bei meiner Vorbereitung auf den nächsten Vortrag in der Volkshochschule
stieß ich gestern auf eine Stelle in den "Werken des Wandsbecker
Boten", die mir als Erläuterung zu dieser vierten Strophe bestens zu
passen scheint.
"Wir Menschen gehen doch wie im Dunkeln, sind doch verlegen in uns und
können uns nicht helfen, und die Versuche der Gelehrten, es zu tun,
sind brotlose Künste. Auch ist das Gefühl eigner Hilflosigkeit zu allen
Zeiten das Wahrzeichen wirklich großer Menschen gewesen ...
Der Mensch hat einen Geist in sich, den diese Welt nicht befriedigt,
der ... sich sehnet nach seiner Heimat. Auch hat er hier kein Bleiben
und muß bald davon. So läßt es sich an den fünf Fingern abzählen, was
ihm geholfen sein könne mit einer Weisheit, die bloß in der sichtbaren
und materiellen Natur zu Hause ist ... Sie kann ihm nicht genügen. Wie
könnte sie das, da es die körperliche Natur selbst nicht kann und sie
ihn auf halbem Wege verläßt
...? Was ihm genügen soll, muß in ihm, in seiner Natur und unsterblich wie er sein ..."*
Claudius sagt in Vers drei unserer Strophe: "Und wissen gar nicht
viel;" Sokrates sagt nach Piaton sogar: "Ich weiß, daß ich nicht weiß"
- und Sokrates ist doch wohl ein "wirklich großer Mensch" gewesen!
Dieser geht also noch weiter als unser Claudius.
Und doch sind wir stolze, aufgeblasene, eingebildete Menschenkinder.
Wir brüsten uns mit unserer materiellen "Kultur", mit unserem
Fortschritt, mit unserem Aufgeklärt-sein. Ach, was waren unsere Eltern
und Großeltern und Urgroßeltern doch dumm! Heute ... !
Claudius schließt die Strophe: "Und kommen weiter von dem Ziel." Dieses
Ziel aber liegt in der Ewigkeit; es ist der Himmel, die beglückende
Anschauung Gottes.
Wenn Claudius auf das Geistige im Menschen und auf das Ewige seines
Zieles hinweist, so muß man daran denken, daß er zu seiner Zeit gegen
den ersten Aufkläricht zu kämpfen hatte. Karl Marx, der so viel Unheil
über die Welt gebracht hat (Atheismus, Materialismus, Kommunismus), und
Ludwig Feuerbach, der Gottfried Keller auf dem Gewissen hat, waren ja
ihm noch unbekannt. Um wie viel mehr müssen wir uns zur Wehr setzen,
die wir es schon mit dem zweiten Aufkläricht zu tun haben!
Sorgfältig will ich mich gegen die Welt abschirmen und mich ihr
durchaus nicht öffnen oder gar angleichen. Richte, o ewiger Herr aller
Dinge, meine Gedanken und mein Herz auf Dich, nur auf Dich! Ziehe, o
lieber Herr auch meines Herzens, meine Seele ganz und gar an Dich!
Fessle sie an das ewige Ziel, das Du in Deiner grenzenlosen Güte, auch
für mich bestimmt hast, daß ich es nur ja nicht verfehle oder gar
weiter von ihm abkomme. Wie lächerlich gleichgültig wird es sein, ob
ich ein Auto habe oder zwei oder kein Auto - wenn Freund Hain kommt!
* Matthias Claudius, Asmus omnia sua secum portans, IV. Teil; Gotta, Seite 263.
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