DER VERGESSENE PARTISAN
von
Renate Sprung
Es war im 2 Weltkrieg, als Leutnant Jürgen Baum mit seiner
Piomereinheit zum Bunkerbauen an die mittlere Welikaja geschickt
wurde-Sie fuhren mit dem Schiff bis Riga, durchquerten im Guterwagen
Lettland bis zur russischen Grenze, wo sie auf Lastkraftwagen
umstiegen. In dem Städtchen Ostrow verließen sie den mit seiner Fracht
ostwärts fahrenden Konvoi, um die letzten paar Kilometer zu Fuß
zurückzulegen. Anfangs marschierten sie in Dreierreihen, im Schutze der
Hauserwande, über das holprige Kopfstempflaster. Später, als der eisige
Ostwind sie auf schneeverwehter Landstraße ansprang, schoben sie sich
mit hochgeschlagenem Mantelkragen schräg gegen den Wind vorwärts. Beim
Passieren eines inflacher Mulde gebetteten Dorfes entzifferte der
Leutnant im Vorübergehen das Ortsschild. Die kyrillischen Buchstaben
hatte er im Offizierslehrgang gelernt. Jerijocha, klingt wie Jerijo,
dachte er kopfschüttelnd. Klein Palästina im hohen Norden! Nach seinen
Informationen gab es in dieser Gegend keine jüdischen Dörfer. Was mag
es wohl mit diesem Namen für eine Bewandnis haben, daß er nach 25
Jahren Atheismus noch seine Gültigkeit besitzt?1 grübelte er und
beschloß sich am Bestimmungsort danach zu erkundigen.
Auf der Ostrower Kommandantur hatte man ihnen den Weg gewiesen. Sie
konnten nicht fehlgehen. Trotzdem hielt es der Leutnant für angebracht,
nochmals anhand der Karte die Marschroute zu überprüfen Die Position
stimmte. Das Dorf in der Mulde und das zweite vor ihnen auf der Anhöhe
überm Fluß, Sitz des Regimentsstabes, Jerusalimka, dort müssen sie hin.
"Na denn auf ins gelobte Land", ermunterte der Leutnant seine sich die
Fuße vertretenden Leute mit grimmigem Lachen, "in den Weinberg des
Herrn!" Das letzte klang ein wenig spöttisch, denn vom Weinberg des
Herrn war weit und breit keine Spur zu entdecken. Kein Kirchturm und
kein Gotteshaus, nur spärliche Dorfer, halbhohe Kiefern, vermischt mit
kümmerlichen Birkenstämmchen, die auf Sandboden und mooriges Gelände
schließen ließen, dazu Schnee soweit das Auge reichte, einen halben
Meterhoch, stellenweise zu meterhohen Schneewehen aufgetürmt und
blaugraue, frostdampfende Luft, die den Horizont verdeckte.
Am späten Nachmittag erreichten sie ihren Bestimmungsort Jerusalimka
Zwei Hauserreihen entlang der breiten ungepflasterten Straße, aus rohen
Stämmen gefugte Holzhäuser dahinter Stall, Scheune und Schuppen oft
unter einem Dach, und am Ende des Dorfes neben Schule und
Verwaltungsgebäude die flachen, weitläufigen Kolchosställe und ein
wenig abseits auf der Wiese, die zum Fluß hin abfällt, zwei schwarz
geteerte Feldscheunen Nachdem sich die Neuankömmlinge in der zum Kasino
umgebauten Schule aufgewärmt und gestärkt hatten, wurden sie von dem in
der Kolchosverwaltung residierenden Stab in die Quartiere eingewiesen
Der Leutnant Jürgen Baum bezog mit einem Unteroffizier die Hütte des
betagten Ehepaares Ilja und Jelisaweta Tumanow, die sich abseits, drei
Steinwurfe von der Dorfstraße entfernt, auf freiem Feld befand. Ein
Trampelpfad führte durch hüfthohe Schneewande zu dem dürftigen Anwesen.
Hier sind wir von allen guten Geistern verlassen, fuhr es dem Leutnant
beim Anblick des hölzernen Ziehbrunnenschwengels und des in der Mitte
eingesunkenen Strohdaches durch den Kopf, und auch dem Unteroffizier
war nicht ganz wohl bei dem Gedanken an die Abgeschiedenheit ihres
Quartiers. Der alte Bauer, der sie hatte kommen sehen, empfing sie mit
freundlichen Wortschwall auf der niedrigen Schwelle, reichte ihnen Brot
und Salz zur Begrüßung und hieß sie in gebrochenem Deutsch eintreten.
Seine vom Alter gebeugte Gestalt steckte in einem mit einem Strick um
die Hüften gegurteten Schafpelz, dessen blankgescheuerte Borten eine
weitläufige Kreuzstickerei aufwiesen. Das runde, faltige Gesicht war
von dem bis auf die Brust fallenden Bart sichelförmig eingerahmt und
das weiße, schulterlange Haar gelichtet. Seine Füße steckten in
strohgefütterten Holzschuhen. Nachdem er die Tür sorgfältig verriegelt
hatte, tippte er mit dem Zeigefinger auf seine Brust und sagte mit
breitem Lächeln: "Man nennt mich Ilja, auf deutsch Elias", und auf
seine Frau deutend "Elisabeth". Auch der zahnlose Mund der Alten verzog
sich zu freundlichem Lächeln, während sie den beiden zwei Stühle
zuschob und ihnen mit einladender Geste bedeutete, Platz zu nehmen.
Wie Juden sehen sie nicht aus, eher wie Russen, dachte der Leutnant.
Ihm war unbehaglich. Die ihnen entgegengebrachte Freundlichkeit, die
gute Aufnahme - da stimmte doch etwas nicht. Schließlich waren sie
nicht als Freunde gekommen. Möglicherweise hegten sie ungute Gefühle
gegen die Eindringlinge, die sie nun hinter der Maske unterwürfiger
Freundlichkeit zu verbergen suchten. Das konnte ein Motiv sein.
Unterdessen hatte der Alte mitbehäbiger Umständlichkeit den Docht der
kleinen Sturmlaterne entzündet. Er blinzelte verschmitzt und bedeutete
alsdann den ungebetenen Gästen mit feierlich - geheimnisvoller Geste,
sich ruhig zu verhalten "Papa gleich zurück", sagte die Alte, während
der Greis eine verborgene Falltür öffnete und in den Keller hinabstieg.
Währenddessen unterzog der Leutnant den einzigen Raum der Hütte einer
flüchtigen Musterung. Viel Staat war damit nicht zu machen. Außer dem
traditionellen Ofen, auf dem die beiden Alten schlafen mochten, war an
Mobilar nur noch ein Tisch eine Wandbank zwei Stühle und zwei
Wandbretter mit Töpfen und etwas Geschirr vorhanden. Von der Decke
hingen an eisernen Haken, wahrscheinlich um sie dem Zugriff der Ratten
zu entziehen - mit Stricken befestigte Leinensäckchen mit Salz, Zucker
und Getreidevorräten.
Minute um Minute verstrich. Von unten herauf drang das dumpfe Geräusch
aufschlagender Erdschollen, hin und wieder unterbrochen vom pfeifenden
Atem des Greises. Leutnant und Unteroffizier wechselten, beunruhigt
durch das seltsame Gebaren der alten Leutchen einen fragenden Blick.
Sollte man ihnen eine Falle gestellt, sie in einen Hinterhalt gelockt
haben? Womöglich buddelte der Alte den Eingang eines Stollens frei?
Während beide noch solche und ähnliche Gedanken erwogen, tauchte auch
schon der schweißnasse Kopf des Greises über der Bodenluke auf. Im Arm
hielt er ein erdverkrustetes Paket fest an die Brust gedrückt und seine
Augen strahlten wie kleine Sonnen, als er es behutsam, wie einen
kostbaren Schatz, auf den Tisch legte "Halleluja", sagte der Alte
feierlich mit leiser Stimme. Er faltete die Hände in Brusthöhe und
verharrte in dieser Stellung eine Zeitlang, während die Alte, die neben
ihn getreten war, lautlos die Lippen bewegte. Darauf umarmte er die
fremden Gäste, wandte sich alsdann schweigend seinem Fund zu und
begann, vorsichtig den verrotteten Bindfaden zu lösen. Gold oder
Schmuck, tippte der Leutnant, Silberbesteck oder ein Revolver, der
Unteroffizier. Während Hülle um Hülle fiel und das stattliche Paket zu
einem schmalen Päckchen zusammenschrumpfte, lag der Abglanz einer
feierlichen Stille über dem Raum. Draußen, vor den kleinen blinden
Fenstern glitt die graue Schneedämmerung in den Abend hinüber und das
flackernde Lichtlein der Sturmlaterne übergoß die Gesichter der beiden
Alten mit rosigem Schein. Als die letzte Hülle gefallen war, bot sich
den verblüfften Blicken der Soldaten eine zerlesene Bibel mit
stockfleckigen, vergilbten Blättern dar, eine Spur von Goldstaub auf
dem abgegriffenen Deckel dort, wo das Kreuz gewesen war. Die Hand des
Alten glitt mit scheuer, zärtlicher Gebärde darüber hin, als er mit
leiser andächtiger Stimme sprach "Gottes Wort". Nur diese zwei Worte,
aber sie klangen, als schlössen sie sein ganzes Leben ein, einen Bogen
zwischen Geburt und Tod spannend.
Die Fremden blickten betreten zu Boden. Diese alten Leute, was soll man
dazu sagen, dachte der Unteroffizier, und, absurde Idee, eine Bibel zu
verbergen, als sei sie wunder was für ein Schatz, der Leutnant. Daheim,
in seinem Bücherschrank, standen zwei von der Sorte. Alte Drucke,
preisgünstig auf einer Auktion erworben. Er hatte eine Schwäche für
alte Drucke. Gelesen hatte er dann nie. Seltsam naiver Glaube - Gottes
Wort!. Als ob Gott sprechen könnte. Er zuckte die Achseln und lächelte
betreten. Die Blicke der beiden Alten forschten erst freudig erregt,
dann in ängstlich verhaltener Spannung in ihren Gesichtern. Sie
gehörten einer Gruppe evangelischer Christen an und hatten
jahrzehntelang die gemeinsame Bibel wie ihren Augapfel gehütet. In der
ärmsten Hütte des Dorfes war sie vor fremden Blicken sicher gewesen. In
den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte der englische Lord
Radstock das Evangelium nach Sankt Petersburg gebracht, von wo aus es
deutsche und russische Adlige in die Dörfer hinausgetragen und ihren
Vorfahren die Frohe Botschaft verkündigt hatten, die sie dann an Kind
und Kindeskinder weitergaben bis zum heutigen Tag. Sie hatten den
Zeitungsberichten keinen Glauben geschenkt, hatten es nicht wahrhaben
wollen, daß die Gottlosigkeit im Westen ebenso wie in ihrem eigenen
Land überhand nahm. Nun waren die Deutschen gekommen, die sie als
Brüder in Christi erwartet hatten ..
Der Unteroffizier lächelte gutmütig. Auch seine Großmutter pflegte
täglich in der Heiligen Schrift zu lesen. Er wollte den beiden Alten
gewiß nicht weh tun, als er mit Überzeugung seine vermeintliche
Wahrheit erklärte "Nix Gottes Wort! Nix Gott!"
"Gott lebt", erwiderte der Alte eindringlich mit beschwörender Stimme,
ungläubiges Erstaunen im Blick. Dem Leutnant ging ein Licht auf
Jerijocha, Jerusalimka, deshalb also. Er wußte nun, daß er Christen vor
sich hatte, und es tat ihm leid, daß er sie enttäuschen mußte.
"Vielleicht lebt Gott", sagte er einlenkend mit vager Geste,
"vielleicht lebt er nicht. Du hast ihn nicht gesehen, ich habe ihn
nicht gesehen." "Befürchtet nichts", fügte er beschwichtigend hinzu,
als er die Angst in den alten Augen entdeckte, "ihr könnt eure Bibel
behalten und dann lesen, wann immer es euch danach verlangt. " "Seid
ihr - keine Christen ?" fragte der Alte, um sich zu vergewissern in der
Hoffnung, daß er sich verhört haben könnte. Die beiden schüttelten den
Kopf und antworteten wie aus einem Munde "Gottgläubig!" Sie glaubten an
den Gott der Vorsehung, einen nebelhaften, an Großdeutschland, Partei
und Endsieg gefesselten Gott.
Während der Alte den Worten nachsann, führte die Greisin die Gäste zum
Ofen und sagte "Bitte, hier schlafen Ilja und ich in Stall bei Kuh
schlafen. Dort auch warm."
Die Hände des Greises zitterten, als sie seinen kostbaren Schatz
wiederum in Ölpapier und Lumpen wickelten. Dann stieg er, das Paket im
Arm, in den Keller zurück. Er warf einen letzten Blick auf das Wort
seines Herrn, ehe er es erneut der Erde anvertraute und murmelte
seufzend "Mußt du eben weiter Partisan sein", und mit einem Blick nach
oben kummervoll: "Wie lange noch, Väterchen, wie lange ?"
aus: Kath. Digest, April 1979
|