Auch eine Unverzeihliche
Hinweis auf Cristina Campo (1923 - 1977)
Eine der Tradition und den Musen verpflichtete katholische Essayistin
von
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Zu den verhängnisvollsten kulturellen Folgen der im Tempo der Wilden
Jagd galoppierenden Entchristlichung Deutschlands gehört der fast
völlige Untergang des einst blühenden katholischen Verlagswesens. Viele
namhafte Häuser haben geschlossen oder sich mit grundlegend anders
orientierten Unternehmen zusammengetan oder ihre frühere Ausrichtung
gänzlich aufgegeben. Bis auf den Firmennamen haben die meisten kaum
noch etwas mit jenen Buchverlagen zu tun, die sogar die Verheerungen
des Nationalsozialismus würdig überstanden haben. Nicht wenige von
ihnen reiten auf der "New Age"-Welle, huldigen einem prinzipienlosen
und alle Glaubenswahrheiten zersetzenden Pseudo-Ökumenismus oder
verfolgen sogar einen offen kirchenfeindlichen Kurs.
Dies alles ist nicht neu, ist auch an diesem Ort schon dargelegt und
beklagt worden. Weniger bekannt scheint den Kritikern die Tatsache zu
sein, daß seriöse, jedoch konfessionell ungebundene oder religiös
neutrale Verlagsanstalten überraschenderweise immer wieder Klassiker
christlicher Theologie und Mystik, brauchbare Monographien über
scholastische Philosophie oder die Kirchenväter vorlegen und
gelegentlich sogar katholische Dichter hohen Ranges aus der Versenkung
hervorholen. Ich erwähne bloß einige Beispiele, die mir besonders
erfreulich vorkommen.
Der Verlag Hinder und Deelmann (Gladenbach in Hessen), welcher sonst
überwiegend Bücher über hinduistische Weisheitslehren herausbringt, hat
bereits vor längerer Zeit eine sechsbändige, handliche und noch dazu
preiswerte Gesamtausgabe des von Stefan George, Erich Przywara, Dominik
Jost und Hans Urs von Balthasar bewunderten katholischen Lyrikers
Ludwig Derleth (1870-1948) auf den Markt gebracht.
- Im Klagenfurter Carinthia-Verlag ist mehr als zwanzig Jahre nach
seinem Tode ein bislang unveröffentlichtes Büchlein des katholischen
Philosophen Amadeo Graf Silva-Tarouca (1898-1971) erschienen: "Das
Kamel in der Wüste oder Philosophie in Anekdoten".
- Der Verlag Freies Geistesleben (Stuttgart) hat mehrere
lateinisch-deutsche Ausgaben von Werken des Heiligen Thomas von Aquin
vorgelegt, darunter "Über die Trinität", "Vom Wesen der Engel" und "Der
Prolog des Johannes-Evangeliums".
- Über die Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Darmstadt sind unter
anderem eine komplette lateinisch-deutsche Edition der Thomasischen
"Summe gegen die Heiden" und Anselms von Canterbury "Cur Deus homo"
(gleichfalls zweisprachig) erhältlich.
- Überaus verdienstvoll sind auch die höchsten wissenschaftlichen
Ansprüchen genügenden und wohl deshalb etwas kostspieligen
Übersetzungen der vom Stuttgarter Verlag Anton Hiersemann in Gang
gebrachten "Bibliothek der griechischen Literatur". Diese von dem
Byzantinisten Peter Wirth und dem Patrologen Wilhelm Gessel betreute
Reihe umfaßt mittlerweile über vierzig Bände, darunter Werke folgender
Kirchenväter: Gregor von Nazianz ("Briefe"), Gregor von Nyssa ("Die
große katechetische Rede", "Drei asketische Schriften"), Basilius von
Caesarea ("Briefe"), Johannes von Damaskus ("Philosophische Kapitel"),
Johannes Crysostomus ("Acht Reden gegen die Juden") und Dionysius
Areopagita ("Die Namen Gottes", "Über, die Mystische Theologie und
Briefe", "Über die himmlische Hierarchie", "Über die kirchliche
Hierarchie").
Handelt es sich bei den bislang genannten Autoren überwiegend um
bereits vor längerer Zeit Verstorbene, so überraschte der Verlag
Matthes & Seitz vor wenigen Jahren mit dem Band einer erst 1977
heimgegangenen katholischen Lyrikerin, Übersetzerin und Essayistin, die
in keinem der heute gängigen Lexika und Literaturgeschichten genannt
wird. Der Name, unter dem sie ihr schmales, aber hochkarätiges Werk in
die Öffentlichkeit entließ, ist ein Pseudonym: Cristina Campo. Hinter
ihm verbirgt sich die tiefgläubige, hochgebildete und mit der
Weltliteratur nicht nur des christlichen Abendlandes wohlvertraute
Italienerin Vittoria Guerrini. Sie wurde am 28. April 1923 in Bologna
geboren und starb am 10. Januar 1977 in Rom, wo sie seit 1955 gewohnt
hatte. Da Cristina Campo mit einem Herzfehler zur Welt gekommen war und
überdies lange Zeit an Klaustrophobie litt, blieben ihr durch diese
Gebrechen viele Bereiche des sogenannten normalen Lebens unzugänglich.
Schon früh stieß sie auf die Dichtungen Hugo von Hofmannsthals
(1874-1929), des neben Rilke, Theodor Däubler und Alexander
Lernet-Holenia bedeutendsten Dichters, den Österreich im 20.
Jahrhundert aufzuweisen hat. Anhand des Hofmannsthal'schen Romantorsos
"Andreas oder die Vereinigten" hat die italienische Dichterin die
deutsche Sprache erlernt.
Entscheidend für Cristina Campos geistig-geistlichen Lebensweg wurde
die Auseinandersetzung mit den Schriften von Simone Weil (1909-1943),
die einer französisch-jüdischen Arztfamilie entstammend, sich
platonischer Philosophie und katholischem Glauben weitgehend ergeben
hatte, ohne jedoch zu konvertieren. Nicht minder bedeutsam war für ihr
Dichten und Denken die Begegnung mit dem "traditionalistischen"
Religionsphilosophen Elémire Zolla. Ein Teil von Cristina Campos Lyrik
ist in der von Zolla begründeten und geleiteten Zeitschrift "Conoscenza
religiosa" erschienen. Wie wenig der "Traditionalismus" Elémire Zollas
mit bloßer Nostalgie oder unmetaphysischem "Konservatismus" zu tun hat,
mögen seine grundsätzlichen Worte andeuten. "... die TRADITION par
excellence, jene, welche um der Exaktheit und keineswegs um
rhetorischer List willen, mit Großbuchstaben geschrieben werden muß,
ist die Überlieferung des besten und höchsten Gutes, das Wissen um das
vollkommene Sein ... Jedes vergängliche Ding ist bestimmt durch den
Grad seines Seins, seiner Nähe zum oder seines Abstands vom
vollkommenen Sein. Die TRADITION - groß geschrieben! - ist die
Weitergabe der Idee des Seins in seiner höchsten Vollendung, also der
Hierarchie zwischen den relativen und geschichtlichen Seinsformen,
einer Hierarchie, die sich auf den Grad ihres Abstandes vom höchsten
Punkt gründet. Die TRADITION konkretisiert sich in einer Reihe von
Mitteln: in Sakramenten, Symbolen, Riten, Definitionen..."
Elémire Zollas Wesensbestimmung der groß geschriebenen Tradition, die
mit innerer Notwendigkeit heilige Überlieferung ist, ja im Heiligsten
gründet, hat sich Cristina Campo entschieden zu eigen gemacht. Sie
könnte das Motto des hier abschließend kurz, aber nachdrücklich
anzuzeigenden Buches sein, das im Verlag Matthes & Seitz 1996
erschienen ist: "Die Unverzeihlichen". Wer diese Unverzeihlichen sind,
hat sie selbst mit schneidender Klarheit ausgesprochen: es sind die von
"Leidenschaft für die Vollkommenheit" Ergriffenen.
Diese Leidenschaft umfaßt in gleicher Weise Kunst, Ethik und Religion.
Sie "ist ein aristokratischer Zug oder, mehr noch, die Aristokratie
selbst, in der Natur, in der Gattung, im Denken. In der Natur ist es
die Kultur". Es ist Vollkommenheit, wenn "betende Hände zu gotischen
Spitzbögen werden". Vollkommen ist der aufrechte, anmutige Gang des
einen Tonkrug auf dem Haupt tragenden Mädchens von der Goldküste.
Vollkommen ist der reinste Gregorianische Choral, der wahrhaft
meditierende Mönch, das Schweigen des Trappisten, das kurze bittersüße
Gedicht "Welle der Nacht" von Gottfried Benn, die sich dem Gehabe eines
sich selbst zu ernst nehmenden Zeitgeists verweigernde Prosa des
Fürsten Giuseppe Tomasi di Lampedusa, die Mimik Lawrence Oliviers in
einer bestimmten Szene von Shakespeares "Heinrich V." und das Gefieder
des australischen Waldsingvogels namens Leierschwanz.
Vollkommen ist alles, so fährt Cristina Campo fort, was heute "verfemt,
verleugnet und vernichtet wird": "Jede Erinnerung an die himmlische
Zeit soll verdrängt, für alle Zeiten vergraben werden im Garten des
Töpfers. Vor allem aber soll der Mensch der Vollkommenheit abschwören,
weil sie das ist, was er verloren hat: Ausdauer, Ruhe, Reglosigkeit.
Oder, will man es mit theologischen Begriffen sagen: Klarheit,
Vorsicht, Behendigkeit und Gelassenheit - die vier Eigenschaften
verklärter Leiber. Da die Dinge nun einmal so stehen, ist vor allem der
Dichter unverzeihlich..."
Der Dichter und der wahre Mystiker sind unverzeihlich in einer durch
massiven "Betrieb" und bodenlose Unaufmerksamkeit gekennzeichneten
Welt. Zu den Königen unter den Dichtern höchsten Ranges zählt Cristina
Campo drei Katholiken, von denen einer als Heiliger gilt: Dante,
Manzoni und Johannes vom Kreuz. Von dem zuletzt genannten sagt sie (S.
110):
"Der Mystiker, dessen geschliffene Formulierungen durchaus den
präzisesten wissenschaftlichen Traktaten ebenbürtig sind, ohne daß die
Schwingen seiner Worte ihren purpurnen Schimmer eingebüßt hätten, ist
der heilige Johannes vom Kreuz."
Cristina Campo ist eine leidenschaftliche, eine begnadete, mit dem Sinn
für das Vollkommene versehene Leserin. Sie zeigt sich bewandert in der
Geisteswelt der östlichen wie der abendländischen Christenheit. Die
"Apophtegmata Patrum" sind ihr ebenso vertraut und lieb geworden wie
die "Erzählungen eines russischen Pilgers", die "Philothea" des
Heiligen Franz von Sales und die Bekenntnisse der Heiligen Margareta
Maria Alacoque. Ihnen allen widmet sie in ihrem Buch von innigster
Bewunderung durchglühte Sätze. Alles, was sie lesend aufliest und
erliest, wird strahlend, leuchtend und groß. Es wird "auf wundersame
Weise zum wirkmächtigen Lebenszeichen", wie Guido Ceronetti treffend
bemerkt.
Diese für das Wunderbare, die Schönheit, das Transzendente und den
geheimnisvollen Hierarchis-mus des Seins, für die Lebensformen des
Eremiten, des Asketen und des homo mysticus aufgeschlossene Frau; die
zarte, zartsinnige und zerbrechliche, zeitlebens leidende und stets dem
Tode nahe gewesene Wahlrömerin Cristina Campo hielt bis zuletzt der
Tridentinischen Messe unerschüttert die Treue. Liebende Verbundenheit
mit der überlieferten Liturgie führte sie zuerst in die Kirche der
Benediktiner von Sant' Anselmo, wo man den Gregorianischen Gesang
pflegte. Als im Gefolge der Umwälzungen nach dem Zweiten Vatikanischen
Konzil die Ordensmänner von Sant 'Anselmo die Heilige Messe in der
Volkssprache abzuhalten begannen, suchte Cristina das von Jesuiten
geleitete Collegium Russicum an der Via Carlo Cattaneo auf, wo der
byzantinische Ritus dem zeitgeistlichen Hang zur Entsakralisierung,
Banalisierung und Trivialisierung zu trotzen vermochte. Sie hat damals
auch Pater Irenäus Hausherr, Mitglied der Gesellschaft Jesu sowie
hervorragendem Kenner und Interpreten des Hesychasmus, der "Philokalia"
und anderer spiritueller Hervorbringungen der östlichen Christenheit,
in Verehrung und Geistesverwandtschaft nahegestanden. Vor 26 Jahren, am
10. Januar 1977, starb Cristina Campo an einem Herzanfall.
"Die Unverzeihlichen", erschienen im Matthes & Seitz Verlag, seien
als geistiges Labsal sowohl schönheitsdurstigen Theologen als auch
glaubenstreuen Ästheten als Lektüre empfohlen. Mich hat dieses leise
und vornehme, aber keineswegs leisetreterische oder bloß nostalgische
Buch einer liturgisch, hagiographisch und mystagogisch gebildeten
Nicht-Theologin mehr bewegt als sämtliche theologischen Bestseller, die
im Laufe der letzten 15 Jahre von den tonangebenden Mediokraten
hochgespielt worden sind.
"Wie etliche eurer Dichter sagen..." rief der Völkerapostel Paulus
einst auf dem Areopag den Athenern zu. Würde er heute zu uns
herabkommen, könnte er sich auch auf einige Dichterinnen berufen und
das Wort Rilkes mit milder Strenge berichtigen: "Ein für alle Male
ist's Orpheus, wenn es singt." Es ist gewiß nicht Orpheus, der uns
entgegentönt aus dem Siegeslied Deborahs, aus dem Lobgesang Annas, dem
Hymnus der Prophetin Mirjam und dem psalmodischen Magnificat, der
größeren Mirjam, der Königin der Propheten wie der Engel. Mit diesem
hohen Namen sei winkegleich angedeutet, in welchen Sphären Cristina
Campo beheimatet ist.
Diese Dichterin und Essayistin katholischen Glaubens erinnert auf ihre
Weise an die Wahrheit, die einem Gerard Manley Hopkins, Paul Claudel,
Ludwig Derleth und Konrad Weiß, einem John Henry Newman, Theodor
Haecker, Hugo Rahner und Louis Lavelle noch völlig einsichtig gewesen,
heutzutage aber weitestgehend vergessen ist: Musen und Religion, Kunst
und Kult, Schönheit und Glaube, Ästhetik und Theologie können und
sollen niemals vermengt, aber auch niemals geschieden sein. Sie dürfen
weder in uns noch in der Kirche als Widersacher aufstehen.
Ich träume von einem akademischen Seelsorger, der von der Kanzel herab
aus Cristina Campos Essay "Aufmerksamkeit und Poesie" zitiert, und von
einem Kloster, wo im Refektorium während der Mittagsmahlzeit von einem
geschulten Lektor zumindest die drei Studien verlesen werden, mit denen
"Die Unverzeihlichen" schließen.
Die folgenden Zitate sind diesem Buch entnommen, das uns - ein
aufschlußreiches Zeichen unserer Zeit - nicht ein katholischer, ja
anscheinend nicht einmal ein dem Christentum verpflichteter Verlag
dankenswerter Weise endlich zugänglich gemacht hat.
Worte Cristina Campos
"Die Aufmerksamkeit ist der einzige Weg zum Unaussprechlichen, der
einzige Pfad zum Mysterium." - "Im Grunde ist jede menschliche,
poetische und geistige Verirrung nichts anderes als Unaufmerksamkeit."
"Fordert man von einem Menschen, jeglicher Zerstreuung zu entsagen,
seine Aufmerksamkeit unentwegt all den irreführenden Einbildungen und
der trägen, hypnotischen Gewohnheit zu entreißen, so führt man ihn
seiner höchsten Vollendung entgegen. - Man würde von ihm ein Leben
verlangen, das dem der Heiligen gleicht, in einer Zeit, die mit
blindem, kaltem Eifer nur ein Ziel zu kennen scheint: die
unwiderrufliche Trennung des menschlichen Geistes von der Fähigkeit zur
Aufmerksamkeit. Frömmigkeit beginnt in den Augen."
"Daß die Annäherung an das Göttliche den fünf Sinnen die große
Gelegenheit zu einer Metamorphose bietet, ist seit mindestens zwei
Jahrhunderten nur schwer begreiflich zu machen. In der christlichen
Geistlichkeit überleben mögliche Streiter für ein spirituelles Leben
des Leibes nur noch am Wegesrand, in Grotten, die für Vorübergehende
nicht wahrzunehmen sind. Die Liturgie, diese erhabene Streiterin,
leuchtet nur noch verhüllt auf den unzugänglichsten Felsen ..."
"Nicht durch Zufall wurde die bedeutendste Abhandlung über die
Mysterien der Opferung und des Priestertums, verfaßt von Pater Charles
de Condren, nur innerhalb eines auserwählten Kreises von Geistlichen
bekannt und verschwand in weniger als einem Jahrhundert aus
Bibliotheken, Seminaren und Gedanken."
"Nachdem er die heiligen Weihen empfangen hatte, sprach der griechische
Mystiker Symeon Metaphrastes folgendes Gebet: '... Reinige mich, wasche
mich rein, mache mich schön... Mache mich zur Wohnung des Heiligen
Geistes und nicht mehr der Sünde, damit wie aus dem Feuer jede
schlechte Tat von mir fliehe, jede Leidenschaft, weil ich Dein Tempel
geworden bin.' In dieser Bitte wird offenkundig, wie das Erlangen
übernatürlicher Sinne den Gewinn der natürlichen nach sich zieht:
Letztere werden in jene hineingeworfen, in ihnen entzündet und
verbrannt wie die kostbaren Harze bei der Mischung des heiligen
Chrisam."
Die Sinne des Säuglings verhalten sich sozusagen zu unseren Sinnen wie
unsere Sinne zu denen verklärter Leiber, gesegnet mit Klarheit,
Feinheit, Beweglichkeit und Gleichmut, und imstande, durch Wände und
verschlossene Türen zu schreiten ... Und dies ist das Knospen und
Erblühen dieser neuen, unvergleichlich feinen Organe und Sinne: Augen,
die sehen, wohin ein anderer nicht zu sehen vermag, jenseits der
Schleier des Raumes und in die Grotten des Bewußtseins; Ohren, die
unbekannte Sprachen und Melodien vernehmen; Nüstern, die das Grauen und
die Gnade wittern; Zungen, die in der Hostie den Geschmack von heiligem
Manna kosten ... Aus den Poren träufelt der Duft von Blumen, Myrrhe,
Weihrauch (...)."
"Seit Jahrzehnten wehrt der Klerus sich gegen die Auffassung, daß
Krankheit in der Unordnung des Geistes wurzelt; dies zeigt, welch
unendlich weiter Weg ihn bereits vom Wort trennen: 'Geh und sündige
fortan nicht mehr, sonst wird dir Schlimmeres widerfahren ... Der Geist
ist es, der lebendig macht...!"'
"Wer jemals das Glück hatte, einem Heiligen zu begegnen, dem wird es
für den Rest seines Lebens ein Leichtes sein, ohne allzu große
Vorbehalte das Wort Schönheit auszusprechen."
"Wer auch nur ein einziges Mal einer traditionellen Messe beigewohnt
hat, mit Hingabe gefeiert, wird nicht mehr leicht bereit sein, mit dem
Wort Schönheit Handel zu treiben."
"Mit Freunden ein symbolisches Mahl einzunehmen, wo und wie immer es
beliebt, zum Andenken an einen längst verstorbenen Menschenfreund der
durchaus ein außergewöhnliches Ohr für das Wort Gottes besaß, ist nicht
nur die Schändung des Heiligen, sondern auch der Verlust des
Weltlichen, so daß sogar die Idee des gemeinsamen Mahles zu Seinem
Gedächtnis von Tag zu Tag mehr ein rein politisches Anliegen wird, und
es ist nicht einzusehen, weshalb Letzteres nicht wieder einem anderen,
dunkleren Anliegen weichen sollte, sobald es zur Genüge erprobt worden
ist."
Es ist nur natürlich, daß die Kirche des Ostens, die Kirche der
triumphalen Verherrlichungen, der Ort ist, wo am grausamsten gefastet
wird und die Asketen schwere Ketten tragen."
"Was ist ein Dogma letztendlich anderes als ein Kreis, den mit
diamantener Spitze das siebenfach gereinigte Wort um einen Bereich des
Unsagbaren gezogen hat?"
"Die Liturgie webt Schicksale in konzentrischen Kreisen. Die Liturgie
ist traditionellerweise nur der Schatten, den jene andere Liturgie, die
oben im Himmel unablässig gefeiert wird, auf Erden wirft. Die Diakone
sind in diesem Schatten Engel und Erzengel, und der Chor die mystischen
Cherubim, die den himmlischen Herrschern huldigen ... Man versteht in
solchen Augenblicken, wie eine Zeit der Verdammnis, in der jedes
Schicksal verabscheut wird, das sich zart und erhaben an den anderen
scheidet, jene lange Nacht ist, in der der Ritus hingemetzelt wird und
die Liturgie in einem Sack verschwindet."
"Wir können nichts weiter tun, als in der langmütigen Wüste seiner zu
harren, uns von Honig und Heuschrecken zu ernähren, bis es unendlich
langsam und jäh über uns kommt in einem kurzen unwiederbringlichen
Augenblick: das Wort. Die Rede des Herrn ist einfach. Eine Visionärin,
Margery Kempe, (...) hörte am Ende ihres Lebens die Worte des Heiligen
Geistes. Sie tönten, als zwitschere ihr jener kleine Vogel mit Namen
Rotkehlchen sein fröhliches Liedchen ins rechte Ohr. Nachdem sie diesen
Klang vernommen hatte, war sie stets bereit, große Gnade zu empfangen."
"Sind die Menschen erst einmal verwandelt, dann wandelt sich auch die
Welt und bevölkert sich mit Gestalten und Wundern, deren stete Nähe man
nicht einmal ahnte."
"Reife bedeutet, der Welt, die uns von allen Seiten anficht (auch und
vor allem die Welt der Schönheit), unentwegt nur das zu entziehen, was
von vornherein unser war, für uns 'bestimmt' ist. - Es ist, als müsse
man beständig auf dem Gipfel des Berges dem Versucher widerstehen."
Cristina Campo: Die Unverzeihlichen. Eingeleitet von Guido Ceronetti.
Aus dem Italienischen übersetzt von Irmengard Gabler. Matthes &
Seitz Verlag, München. 1996, 332 S. |