HILDEGARD VON BINGEN
von
Manfred Jacobs
Das Jahr 1979 lenkt unseren Blick auf eine große Frauengestalt des
Deutschen Mittelalters, die mit ihrer Ausstrahlung bis in unsere Zeit
hinein wirkt, und deren Bedeutung und Leuchtkraft auch noch in den
nachfolgenden Generationen aufstrahlen wird.
Es ist die hl. Hildegard von Bingen, deren 800. Todestag wir am 17.9. dieses Jahres feiern.
Von Geburt aus zart und immer kränklich leistete diese Klosterfrau in
einer politisch und geistig stark bewegten Epoche, im Auftrage Gottes,
ganz Außergewöhnliches.
Allein ihr Korrespondentenkreis hat ein erstaunliches Ausmaß. Er
erstreckt sich nicht nur über den größten Teil des Heiligen Römischen
Reiches Deutscher Nation, sondern er dehnt sich auch aus über England,
die Niederlande, Frankreich, Elsaß-Lothringen, die Schweiz, ja bis nach
Italien, Griechenland und Jerusalem. Namen von höchstem Rang aus dem
geistlichen und weltlichen Stand sind unter den Briefempfängern. So
Bernhard von Clairvaux, die Päpste Eugen III., Athanasius IV., und
Hadrian IV.. Im weltlichen Bereich sind es König Konrad III. und Kaiser
Friedrich I. (Friedrich Barbarossa), sowie die Königin Bertha von
Griechenland und die Kaiserin Irene von Byzanz. Auch Kardinäle,
Erzbischöfe und Bischöfe wandten sich an Hildegard. Am zahlreichsten
aber sind ihre Briefe an Äbte, Priester und Mönche, Äbtissinnen und
einzelne Nonnen, sowie an ganze Mönchs- und Nonnenkonvente.
In all den etwa 500 Schreiben die wir kennen, bezeugt Hildegard
Klugheit, Mut, Reichtum des Geistes, Aufgeschlossenheit,
Einfühlungsgabe und nicht zuletzt die Lauterkeit ihres Herzens. Die
Briefe zeugen von einer leidenschaftlichen Wahrheitsliebe, und so war
sie, die sich selbst nur immer "einen einfältigen Manschen" nannte,
auch zugleich Sachwalterin des öffentlichen Rechtes.
Aber Hildegard wäre nicht die Heilige und die Große, hätte sie sich nur
Kaisern und Fürsten, Bischöfen und Äbten und anderen Hohen aus Kirche
und Welt gewidmet. Ihre Fürsorge galt in nicht geringerem Umfang auch
den Niedrigen. Viele einzelne Laien, Männer und Frauen aus allen
Ständen, die sich an Hildegard wandten, erhielten teilnehmend Antwort.
Pilger und Kreuzfahrer, Ritter und Kaufleute, Scholaren und Bettler,
vornehme Damen und heimatlose Mädchen, Winzer, Bauern, Jäger, Fischer,
Fünstler, Tagelöhner und Gelehrte, Gesunde und Kranke gingen in dem,
von Hildegar gegründeten Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen, dem
Hildegard als Äbtissin vorstand, ein und aus, und besprachen sich mit
der Heiligen. Die große Frau geht hierbei entsprechend den Anfragen und
den persönlichen Anliegen ihrer Brief- oder persönlichen
Gesprächspartner, auf die verschiedensten Themen ein, und gibt Rot,
Belehrung, Trost und Ermahnung. Hier wird das mütterliche Herz und die
nie rastende Liebe Hildegards zu allem Erschaffenen erkennbar, wie sie
versucht die Probleme zu lösen. Viele befreite sie von seelischen und
körperlichen Leiden und Bedrängnissen.
Es sollte noch erwähnt werden, daß die Mehrzahl der Schriften
Hildegards theologischen Inhalts sind, trotz der umfassenden Kenntnisse
in Philosophie, Heilkunde, Natur- und Wetterkunde, die die Äbtissin
besaß.
Zuweilen ist man geneigt, das Mittelalter als eine Idealzeit des
Katholizismus anzusehen, ganz ein Werk der Kirche, und ganz beherrscht
von ihrem Geiste. Aber Ideal Zeiten gab es nie, wenigstens nie
ungetrübte. Immer sind an den Göttlichen Dingen M e n s c h e
n am Werk gewesen, Menschen mit ihren Unzulänglichkeiten und
Fehlern, und sie haben die übermenschlichen Gedanken der christlichen
Religion oft in den Staub gezogen, so daß Reformatoren kommen mußten
sie zu reinigen und sie in ihrem Glänze wieder erstrahlen zu lassen,
woh-lgemerkt, es ist von Reformatoren die Rede, nicht von Umstürzlern,
Struktur- oder Systemveränderern, nicht solche also, die das Bestehende
zerstören. W a h r e Reformatoren sind h e i l i g e
Menschen, deren Reformwille der unversehrten Glaubenslehre, den
unvergänglichen Heilsquellen und den ewig gültigen Sittengesetzen
entspringt. An solchen Menschen war innerhalb der katholischen Kirche
in der Vergangenheit kein Mangel, und auch die hl. Hildegard von Bingen
zählt zu diesen w i r k l i c h e n Reformatoren.
Geboren im Spätsommer des Jahres Io98 auf Burg Böckelheim bei Kreuznach
als zehntes Kind des Edelfreien Hiltebertus de Vermersheim
(Bennersheim) bei Alzey in Rheinhessen (Nahegau) und dessen Gemahlin
Mechtild (wahrscheinlich aus dem Hause Merxheim an der Nahe) gehörte
Hildegard dem Hochadel an. Früh schon zeigte sie ein außerordentlich
hoch entwickeltes Geistesleben. Sie war feinhörig für Dinge, die
gewöhnliche Menschen nicht gewahrten. Sie s a h Geistiges.
"Im dritten Jahr meines Lebens", so bezeugt sie, "sah ich ein so großes
Licht, daß meine Seele erzitterte, doch ich konnte meines jugendlichen
Alters wegen nichts darüber äußern". Von ihrem fünften Jahre an zeigte
ihr das Licht "feste Gestaltung und innere Deutung verborgener
wunderbarer Gesichte." "Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahre redete
ich in Einfalt über die vielen Dinge, die ich sah.
Diese zehn Jahre kindlicher Unbefangenheit, die das gleiche Schauen bei
allen Menschen vermutet, münden in das erschütternde Bewußtsein der
außerordentlichen Gabe. Da erfaßte sie große Furcht, und sie "verbarg
so viel wie möglich die Schau" ihrer Seele. Wenn die Gewalt der Schau
sie aber doch reden machte, so schämte sie sich nachher sehr; sie
"weinte oft und wäre froh gewesen, alles wieder mit Schweigen zudecken
zu können, wenn es möglich gewesen wäre."
In der Mitte ihrer Lebensjahre, im Jahre 1141 als die Seherin
zweiundvierzig Jahre und sieben Monate alt war, wird ihr von Gott der
Auftrag erteilt, das was sie sah und hörte niederzuschreiben und der
Welt zu künden. "Ich sah einen sehr großen Glanz. Eine himmlische
Stimme erscholl daraus. Sie sprach zu mir: 'Gebrechlicher Mensch, Asche
von Asche, Moder vom Moder, sage und schreibe, was du siehst und hörst!
Doch weil du schüchtern bist zum Reden, einfältig zur Auslegung und
ungelehrt, das Geschaute zu beschreiben, sagte und beschreibe es nicht
nach der Redeweise der Menschen, nicht nach der Erkenntnis menschlicher
Klügelei noch nach dem Willen menschlicher Abfassung, sondern aus der
Gabe heraus, die dir in himmlischen Gesichten zuteil wird: wie du es in
den Wundern Gottes siehst und hörst. So tu es kund wie der Zuhörer, der
die Worte seines Meisters erlauscht und sie ganz, wie der Meister es
meint und will, wie er es zeigt und vorschreibt, weitergibt. So tu auch
du, o Mensch! Sage, was du siehst und hörst, und schreibe es, nicht wie
es dir noch irgendeinem anderen Menschen gefällt, sondern schreibe es
nach dem Willen dessen, der alles weiß, alles sieht, alles ordnet in
den verborgenen Tiefen seiner geheimen Ratschlüsse. ' Und wiederum
hörte ich die Stimme vom Himmel: 'Tu kund die Wunder, die du erfährst.
Schreibe sie auf und sprich! '"
Hier erkennt sich die Seherin als Gesandte Gottes. Die Bücher "Scivias"
d.h. "Wisse die Wege" beginnen zu entstehen. Wie sie im Vorwort zu
diesen Büchern schreibt, hat sie niemals eine Ekstase erlitten.
Hildegard ist mit offenen Augen und Ohren, in wachem Zustand und mit
nüchternem, klarem Geist in die Visio hineingestellt. Zuweilen weist
sie auch auf zukünftige Geschehnisse hin oder deutet sie an. Doch
nehmen diese Aussagen einen unbedeutenden Raum in ihrem Gesamtwerk ein.
Wird Hildegard nach der Zukunft des Menschen gefragt, so pflegt sie das
persönliche Einzelschicksal nicht vorauszusagen, das Gott ihr verborgen
hat, weil dieser Fürwitz nicht von Nutzen ist . "In der Schau meiner
Seele sehe ich viele Wunder Gottes und verstehe durch Gottes Gnade die
Tiefe der Heiligen Schrift. Doch was und welcher Art die zukünftigen
Geschicke der Menschen sind, das wird mir darin nicht geoffenbart ...
Geliebte Herrin, ich maße mir nicht an, die Zukunft des Menschen (von
Gott) zu erfragen, weil es zum Heil der Seele besser ist, sie nicht zu
kennen", schreibt Hildegard an eine Witwe.
Hildegard ist keine "Weissagerin", sondern sie gleicht in ihrer Schau
und ihrer Sendung vielmehr den alttestamentlichen Propheten, besonders
Ezechiel und Daniel, wohl auch dem Verfasser der Apokalypse steht sie
nahe. Es wäre daher verfehlt, Hildegard von Bingen an den Anfang der
Linie zu stellen, die von ihr zu den Mystikerinnen Gertrud von Helfta,
Mechtild von Magdeburg und Teresa von Avila führen würde.
Sicherlich ist über die Natur, oder Übernatur der Gesichte Hildegards
viel gestritten worden, und es sollte nicht verwundern, wenn der,
allerdings völlige unzulängliche, Versuch gemacht würde, vor allem im
Hinblick auf die körperliche Verfassung Hildegards, diese Gesichte mit
einfacher Hysterie zu erklären. Der Befund der Hysterie wäre ein
billiges und primitives Mittel um über das Rätsel einer überragenden
Kraft des Geistes, der die Fesseln des Körpers abgeworfen hat, der sich
in keine normale Synthese mit dem Körper einläßt, hinwegzukommen.
Medizinisch gesehen ist das Mißverhältnis zwischen Geist und Körper
etwas unnormales und wird darum als krankhaft bezeichnet. Hildegard
litt selbst ihr ganzes Leben lang ungeheuerlich an diesem
Mißverhältnis. Eine nachträglich gestellte "Diagnose" kann und darf
aber nicht dahin führen, über die geistigen Eigenschaften einer hoch
über den Großen der Zeit stehenden Persönlichkeit und über die Kraft,
Gesundheit und Objektivität dieses Geistes ein völlig unrealistisches
Urteil zu fällen.
In den letzten Jahren seines Lebens äußerte Goethe Eckermann gegenüber,
daß jede geistige Fruchtbarkeit, jeder große Gedanke über alle irdische
Macht erhaben sei und in niemandes Gewalt stehe: "Dergleichen hat der
Mensch als unverhoffte Geschenke von oben, als reine Kinder Gottes zu
betrachten, die er mit freudigem Dank zu empfangen und zu verehren hat
.... In solchen Fällen ist der Mensch oftmals als Werkzeug einer
höheren Weltregierung zu betrachten, als ein würdig befundenes Gefäß
zur Aufnahme eines göttlichen Einflusses."
Eine solche Betrachtungsweise trifft viel eher den Kern, denn Hildegard
war ein Autodidakt, die nie gelehrten Unterricht genossen hatte. Ihr
war alles Wissen gegeben. Sie hatte nichts erworben.
Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1Io5 hatte die kleine
Hildegard, sie war damals gerade acht Jahre alt, ein Erlebnis welches
sie sicherlich tief erschütterte. Sie sah die tiefste Erniedrigung
eines einst stolzen Herrschers, und das große seelische Leid eines
Vaters. Auf seinem Weg nach Ingelheim führte der niederträchtige und
treulose Heinrich V. seinen Vater, Heinrich IV. als Gefangenen nach
Schloß Böckelheim.
Einige Monate nach diesem weltgeschichtlichen Ereignis verließ
Hildegard im Jahre 1106 ihr Elternhaus um sowohl dem Wunsche ihrer
Eltern, die das Kind bei der Geburt Gott geweiht hatten, als auch
ihrem eigenen, schon früh geoffenbarten N e i g u n
g, zu folgen, um Schülerin der frommen und gottesfürchtigen
Jungfrau Jutta, einer Schwester des Grafen von Sponheim, zu werden.
Jutta hatte auf dem Disibodenberg ein kleines, der benediktinisehen
Regel dienendes Frauenklösterchen (zuerst war es nur eine Klause)
gegründet. Hier unterrichtete die "Meisterin" Jutta Hildegard und noch
eine Gefährtin im Chorgebet, im Psalmensingen, wobei Hildegard die
lateinische Sprache gebrauchen und verstehen lernte, sowie den Gebrauch
der zehnsaitigen Harfe, denn Hildegard war sehr musikalisch.
Hildegard lernte durch die tägliche Gewohnheit, nicht durch ein
besonderes System. Darum fehlen ihr auch die grammatikalischen
Kenntnisse und sie muß ihr ganzes Leben lang immer jemand um sich haben
der ihre lateinischen Schriften und Gedichte sprachlich nachfeilt,
wobei Hildegard jedoch sehr genau darauf achtete, daß an Text, Inhalt
und Stil nicht das allergeringste verändert wurde.
Als die "Meisterin" Jutta 1136 starb, war aus der Klause - wie schon
gesagt - ein kleines Kloster geworden, und die Klosterfrauen wählten
Hildegard, die einst aus den Händen des Bischofs Otto von Bamberg den
Schleier empfangen hatte, zur neuen "Meisterin". Die Nonnen hätten
keine bessere Wahl treffen können. Aber Hildegard selbst, diese
nur G o t t zugewandte Ordensfrau, wehrte sich voll
Entsetzen gegen die Entscheidung ihrer Mitschwestern. Wir können es uns
vorstellen, wie sie unter Tränen darum bat diese schwere Last, die sie
nimmer würde tragen können, nicht auf ihre Schultern zu legen.
Schließlich mußte sie aber doch annehmen.
Die neue "Meisterin" besaß in hohem Maße die Eigenschaften die zur
Leitung eines Klosters erforderlich sind. Gegen sich selbst streng und
unerbittlich, wußte sie ihren Schwestern gegenüber Kraft und Milde in
schönem Ebenmaß zu paaren.... Einfach, ohne Ziererei, aufrichtig, und
fest suchte sie ihre Untergebenen nicht zu kränken, sondern zu fördern.
Widerspenstige Elemente behandelte sie mit großer Langmut. Sie konnte
schweigen, übersehen, warten, mahnen, sich gedulden, beten. Dann aber
ergriff sie entschlossen das scharfe Messer, um einen abgestandenen
Zweig an dem blühenden Bäume ihrer Klostergemeinde abzuschneiden. Das
war nicht immer leicht, und manch Leid hat die heilige Meisterin
erlebt, und manch bittere Erfahrung hat sie machen müssen.
Zu Beginn ihrer Amtstätigkeit war die Zahl der Klosterfrauen am
Disibodenberg noch nicht sehr groß. Aber bald wuchs die Schar, und der
Platz reichte für die Nonnen nicht mehr aus. Hildegard schlug deshalb
die Verlegung des Klosters auf den Rupertsberg bei Bingen vor, den Ort,
den sie "im Geiste ... nicht mit leiblichen Augen" geschaut hatte. Der
Abt des Benediktinerklosters, der ihr Vorgesetzter war widerstrebte,
weil ihm Hildegards Weggang unlieb war. Nach hartem, auch unter
persönlichen Verunglimpfungen geführten Kampf gelingt es ihr aber
schließlich doch, die Auszugserlaubnis zu erhalten, und sie kann ihr
neues Kloster über den Trümmern der Grabkapelle des hl. Rupertus
errichten. Etwa im Advent des Jahres 1147 verlassen die Nonnen den
Disibodenberg und ziehen nach Bingen.
Hildegards Freude wurde aber bald getrübt, wie denn überhaupt ihr
ganzes Leben eine Kette von Leiden und Kämpfen war. "Sturmwolken zogen
über das Kloster hin" so berichtet sie selbst, "und bedeckten die
Sonne; Mühseligkeiten und Trübsale brachen über mich herein, so daß ich
oft aufseufzte und bittere Tränen vergoß." Widersacher entstanden ihr
im Volke und unter den eigenen Verwandten, die den Umzug nicht
billigten, und auch unter ihren Nonnen trat eine ihr feindlich
gesonnene Mißstimmung auf. " ... Etliche unter ihnen aber sahen bösen
Blickes mich an, fielen insgeheim über mich her und sagten, sie könnten
den unausstehlichen Druck der Zucht ihrer Klosterregel nicht ertragen."
Hildegard schwieg erst dazu, dann aber ergriff sie die Zuchtrute, und
mit der sorgenden Strenge einer Mutter erklärte sie nun, daß diejenigen
zugrunde gehen würden, die in die einstigen Übertretungen
zurückverfallen: "Die früheren Zustände dulde ich um keinen Preis mehr.
Es ist notwendig, daß die Irrenden den Weg der Besserung betreten ... "
Das war der Geist, in dem Hildegard ihren Konvent erzog und leitete.
Sie war bestrebt, die Regel des hl. Benedikt vollkommen zu
verwirklichen. Deshalb fuhr sie, wenn ihr kränklicher Körper es
erlaubte, auch zweimal in der Woche über den Rhein in das 1165 oberhalb
Rüdesheim von ihr gegründete Kloster Eibingen, um dort bei ihren
geistigen Töchtern den Eigentümlichkeiten vieler gerecht zu werden, so
wie es der Gesetzgeber des Mönchtums verfocht.
Absonderlichkeiten, übertriebene Aszese lehnte sie ab. Mit ihrem
scharfen Verstand durchschaut sie die Gefahr eitlen Ruhmes bei
außerordentlichen Bußwerken und die ebenso große Gefahr körperlicher
Zerrüttung in die sich so manche auf Irrwegen zur Heiligkeit strebende
Menschen begaben. Der Äbtissin von Wächterswinkel in der Diözese
Würzburg sendet sie darüber urgesunde Ausführungen: "Die Erde, die
durch den Pflug zu stark zerbrückelt wird, gibt keine rechte Frucht. So
richtet eine unangemessene Enthaltsamkeit das Fleisch eines Menschen
zugrunde ... und er verdorrt. Sicher werden die geflügelten Tugenden,
namentlich die schönsten, Demut und Liebe, Schaden leiden, weil eine zu
strenge Enthaltsamkeit (dem Menschen und damit) den Tugenden die
Triebkraft entzieht. Nur eitler Ruhm sproßt auf, und es begibt sich das
Schreckliche, daß solche für Heilige angesehen werden die es gar nicht
sind."
Selbstverständlich ist Hildegard weit davon entfernt, der Genußsucht
das Wort zu reden. "Köstliche Schmausereien" und starke Weine verbietet
sie nachdrücklich, "dergleichen sollen keusche Menschen die ihre Seele
lieb haben, fliehen." Aber das "rechte Brot" müssen sie haben.
Den Nonnen von Zwiefalten, welches sich in einem trostlosen Zustand von
Unsitte, Zucht losigkeit und Unbotmäßigkeit befand, und die deshalb bei
Hildegard anfragten, wie sie auf den Weg der Besserung zurückkehren
sollen, sandte sie ein begeistertes Loblied auf die Jungfräulichkeit,
warnte aber davor, ohne wahren Beruf, ohne Willen zur Ausdauer diesen
Stand zu wählen. Gefahr ist es, sagt sie, die Welt zu verlassen, ohne
vom Geiste Gottes dazu berufen zu sein. Eine Frau, die ihre Sinne auf
Gott gerichtet hat, "soll ihr Herz nicht zersplittern in den
Eitelkeiten der Erde, soll nicht die krummen Wege des Selbstdünkels
gehen in großsprecherischen glänzenden Reden. Sie soll vielmehr
gefestigt sein in allen Zierden der Tugenden und im Adel der Liebe und
Gerechtigkeit."
(Fortsetzung folgt)
Verwendete Literatur:
1) Hildegard von Bingen "Briefwechsel" nach den ältesten Handschriften
übersetzt nach den Quellen erläutert von Adelgundis Führkötter OSB.
2) "Sci vias".
3) "Die heilige Hildegard von Bingen" von Helene Riesch.
4) "Christliche Gestalten" von Josef Maria Nielen.
5) "Rheinische Heimat" Beilage der Mittel rheinischen Volkszeitung zur Pflege der Heimatkunde, Juli 1929.
6) "Katholischer Kirchenkalender" der Pfarrei Bingen am Rhein für das Jahr 1928.
7) "Herold der Kirche" von Anton Rohrbasser.
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