Chesterton, der Abenteurer der Orthodoxie
von
Karl Pfleger
(aus: "Geister, die um Christus ringen" Salzburg - Leipzig 1934, S. 161-186)
"Ich bin der Mann, der so kühn war, zu entdecken, was schon vorher
entdeckt wurde. Nie hat es etwas Gewagteres noch Leidenschaftlicheres
gegeben als die Orthodoxie."
Chesterton.
Die drei klingenden Worte Gilbert Keith Chesterton auf ein schönes
weißes Blatt Papier hinzumalen, ist nicht schwer. Aber das ungeheuer
lebendige Menschenantlitz, das diesen Namen trägt, dieses persönliche
Zentrum intensivster Menschlichkeit, das unter diesem Namen wie ein
Feuer in seiner Heimat England sprüht und schon lange nach dem
Festland, nach Deutschland und Frankreich vor allem, hinüberzündet -
von diesem prachtvollen Phänomen auf einigen Seiten auch nur eine
Ahnung zu geben, das ist ein erschreckend schweres Kunststück, das
wahrscheinlich nur einer fertigbrächte: Chesterton selber. Man müßte
ihn so sehen und schildern, wie er die Dinge sieht, mit einer kindlich
unbekümmerten Originalität, nein, mit einer göttlich oder wenigstens
gnadenvoll unbekümmerten, unbeschwerten, hemmungslosen Ursprünglichkeit.
Ich habe letzthin eine blaue Schutzbrille aufgesetzt - und habe sie
schleunigst wieder weggeworfen: die siegende Julipracht war ins
trostlose Licht eines Weltunterganges hinabgestürzt. Die meisten
Menschen sehen die Welt durch eine entstehende Brille. Chesterton sieht
sie ohne Brille. Er sagt einmal, ich weiß gerade nicht, wo: "Unter der
Sonne gibt es nur ein Neues - die Sonne sehen." Daß er die Sonne und
was unter der Sonne ist, sieht und ohne Brille sieht, scheint seine
Hauptleistung zu sein, macht ihn förmlich zu einem Unikum unter all
seinen gescheiten Zeitgenossen, die immer erst den vollen Kübel ihrer
persönlichen Stimmungen und Theorien über die Welt ausschütten, bevor
sie sich diese Welt ansehen, mit dem Resultat natürlich, daß sie die
Welt in Schwarz oder Grau oder Rot sehen, auf keinen Fall so, wie sie
ist; was dann von ihrer Vision der Welt übrigbleibt, ist der
gespenstische Schein irgendeiner riesigen, monströsen, sphinxhaften
Realität, die den Beschauer in Ratlosigkeit und Schrecken versetzt.
Hätte Oswald Spengler in England seinen "Untergang des Abendlandes"
geschrieben, so hätte er in Chesterton einen Gegner gefunden, der die
Keule der Kritik noch viel wilder und schonungsloser geschwungen hätte,
als Theodor Haeker in Deutschland es tat.
Warum rückt er immer den Shaw und Nietzsche, den Wells und Maeterlinck,
den Pantheisten, den Rationalisten, den Evolutionisten, den
Materialisten auf den Leib? Weil sie den falschen Blick in die Welt
haben, weil sie die Welt in ein schiefes Licht setzen, weil sie gerade
die wesentlichen Dinge und Gesichtspunkte verrücken und ihr gerütteltes
Maß Schuld daran haben, wenn unser Leben buchstäblich "verrückt" wird.
Diese "Häretiker" des gesunden Menschenverstandes sind es, die er von
seinem ersten bis ins letzte Buch hinein verfolgt. Das ist die Mission,
zu der er sich berufen fühlt. Das ist das Leitmotiv seiner Tätigkeit,
die ihn rastlos vom Schreibtisch an das Rednerpult und vom Rednerpult
wieder an den Schreibtisch treibt. Der Prähistoriker Graf Begouen hat
sich in einem offenen Brief an Chesterton darüber beschwert, daß er in
einem seiner letzten Bücher, "Der ewige Mensch", die verdienten
Forscher menschlicher Vergangenheit mit Hohn und Spott übergieße. Aber
das heißt Chesterton ganz und gar verkennen. Er bekämpft nicht die
Erforscher menschlicher Vergangenheit, sondern die Leugner und
Verleumder der menschlichen Vergangenheit der Menschen, die als
menschliche Vergangenheit die künstliche Vision unmenschlicher Bastarde
ausgeben wollen. Ihm geht es um die Wirklichkeit des Menschen, um die
Rettung des ewigen, geistigen Menschenbildes vor dem Kannibalismus
einer dämonisch hochmütigen, als Selbstzweck sich betrachtenden
Wissenschaft. Er findet, daß die Wissenschaft für den Menschen, aber
nicht der Mensch für die Wissenschaft da ist. Sondern der Mensch ist
für das Leben da, für das echte, rechte, strahlende, in Not und Tod
noch märchenhaft wundervolle Leben, das nicht erst von den Gelehrten
erfunden zu werden braucht, sondern immer da ist. Aber eben dies
scheint ihnen verborgen zu sein, daß die Welt ist und daß die Dinge
sind, was sie sind. "Das Gras sprießt und die Bäume wachsen... Die Luft
rauscht von geflügelten Wundern und in grünen Meerestiefen bewegen sich
stumme Ungeheuer. Seltsame Geschöpfe gehen da auf vier Füßen, und das
allerseltsamste hält sich aufrecht auf zweien: das sind Tatsachen,
neben denen Atome, Evolution und selbst das Sonnensystem nur Hypothesen
sind."
An die elementare, alle unsere Horizonte erfüllende, in all unsere
Sinne hineinwuchtende Urtatsache "Mensch" hält sich Chesterton. Sein
ewiges Thema ist der Mensch. Und er würde sehr gern mit dem
griechischen Philosophen sagen, der Mensch sei das Maß aller Dinge,
wenn er nicht lieber mit der Schrift sagte: Es ist der Menschensohn.
Wenn einer Chesterton nicht kennt, wird er achselzuckend fragen: Warum
soll ausgerechnet dieser Mann nötig sein, um diese rührend alten und
selbstverständlichen Wahrheiten zu verkünden? Als ob ein tüchtiger
Vertreter des philosophischen oder theologischen Faches das nicht
ebenso gut oder noch besser besorgen könnte, besonders, wenn Chesterton
doch nur ein "Außenseiter" ist. - Ach nein, es kommt in dieser Sache,
für die unser Engländer ficht, nicht an auf einen Gelehrten mehr oder
weniger, es kommt auf einen Menschen an, auf eine ganz besondere Art
von Mensch, auf solch einen Menschen, wie gerade Chesterton einer ist.
Ich komme einfach nicht drum herum, zu sagen, daß, wäre Chesterton
nicht da, dem zeitgenössischen Leben - nicht etwa ein seltener
Philosoph, ein unentbehrlicher Literat - wohl aber ein seltener und
unentbehrlicher Mensch fehlte.
Das habe ich nicht erst zu beweisen, das beweist er selber mit jeder
Seite, die er schreibt, mit jedem Wort, das er spricht. Und er spricht
auch, wenn er schreibt. Schreiben ist ein Notbehelf, etwas Sekundäres.
Aber Reden und Diskutieren - das ist das Primäre, ist Naturgesetz und
Wesensnotwendigkeit. Wenigstens für den Mann. Der Mann liebt Wirtshaus,
Klub und Parlament, weil er reden muß. Gott will es. "Niemand hat auch
nur das geringste Verständnis für Kameradschaft, der nicht eine gewisse
herzliche Lust am Essen, Trinken oder Rauchen anerkennt, einen
aufrührerischen Materialismus, der vielen Frauen nur als Gefräßigkeit
erscheint. Ihr könnt es eine Orgie oder ein Sakrament nennen,
jedenfalls ist es etwas Wesentliches. Es ist im Grunde der Widerstand
gegen den Hochmut des Individuums. Ja sogar alles Poltern und Heulen
ist voll Demut. Der Kern all des Spektakelns ist eine Art grimmiger
Bescheidenheit; der Wunsch, all die getrennten Seelen in eine Masse
anspruchsloser Männlichkeit zu verschmelzen. Es ist ein lärmendes
Bekenntnis der Schwachheit des Fleisches. Kein Mensch soll über die
Dinge erhaben sein, die den Menschen gemein sind. Diese Art Gleichheit
muß körperlich und derb und komisch sein. Wir sind nicht nur alle im
selben Boot, wir sind auch alle seekrank" (aus: "Was unrecht ist an der
Welt" München 1924, S. 102)
Liebt ihr, versteht ihr solch eine Sprache oder geht es euch wie jener
Versammlung von Sozialisten, die alle hellauf lachten, als Chesterton
ihnen erklärte, in der ganzen Poesie gebe es keine edleren Worte als
"gemeinsame Wirtsstube"? Wenn ja, dann seid ihr für Chesterton verloren
und, was noch schlimmer ist, Chesterton ist für euch verloren. Denn so
spricht er immer. Weil er ein literarischer Clown, ein unheilbarer
Spaßmacher ist? Nein, weil er ein Mensch und kein Pedant ist, ein ganz
natürlicher, unzeremoniöser Mensch mit einer unbändigen Freude am
Dasein, mit einer unverhehlten Freude an Wein, Weib, Gesang und all den
schönen und schönsten Dingen, die Gott in das unscheinbare Gefäß des
normalen, gewöhnlichen Erdenlebens, in den Alltag und in den
Durchschnittsmenschen gelegt hat. Nichts Dümmeres, ja nichts
Verbrecherischeres, als den Durchschnittsmenschen zu verachten. Er,
Chesterton, liebt ihn, verteidigt ihn, verherrlicht ihn, denn der
Durchschnittsmensch - das ist der Mensch überhaupt, "der bierdurstige,
religionsstiftende, kämpfende, unterliegende, sinnliche und respektable
Mensch", der Mensch aller Zeiten, der direkt aus Gottes Händen kommende
ewige Mensch.
Und Chesterton ist der Sänger und Prophet des Durchschnittsmenschen. Er
ist es in einem weniger lyrischen Stil, aber mit einem viel
umfassenderen demokratischen Lebensgefühl als Walt Whitman, mit einem
ebenso starken demokratischen Temperament, das seine Energie im
Gegensatz zum Amerikaner nicht nur in der Geschichte, sondern im
christlichen Ethos und Dogma speist. Chesterton ist ein Berufener.
Zwischen dem Gegenstand, über den er schreibt, und der Art, wie er über
ihn schreibt, besteht eine prästabilierte Harmonie. Daß er ein
rassiger, geborener Literat ist, vergißt man ganz über der Tatsache,
daß er ein riesig lebendiger, weltoffener, realer (nicht:
realistischer) Mensch ist. Daß er soviel weiß wie ein Gelehrter und
subtil ist wie der subtilste Philosoph, übersieht man fast über dem
funkelnden Witz und dem sprühenden Humor, mit dem er drauflos redet.
Und in allem original.: Nicht als ob er nicht von gewöhnlichen Dingen
spräche. Er spricht fast nur von gewöhnlichen Dingen, aber so, daß an
ihnen überraschend Ungewöhnliches sichtbar wird, woran kein Mensch
gedacht, obwohl es alle Menschen höchlichst interessiert. Und wenn man
kein rettungsloser, ausgetrockneter Philister ist, so merkt man, daß
hier eine Seele die Welt mit einer Intensität und Frische erlebt, die
nur die großen Dichter kennen. Freude und Liebe zu Mensch und Welt
erwecken, ist ein schönes Programm; aber der rechte Mann muß dahinter
stehen. Chesterton erhöht durch seine bloße Gegenwart die Temperatur
des Lebens. Diejenigen, die drüben ihn ,the jolliest of the good
fellows" genannt haben, spüren es genau und wissen warum. Er ist, trotz
seiner vollendeten fünf Jahrzehnte, der "fidelste aller guten
Kameraden"; dieser türrahmenfüllende Riese mit dem frohen Kindergemüt,
der Chesterton heißt, ist, um in seiner eigenen burschikosen Art zu
reden, ein Prachtkerl, ein buchstäblich "gelungener" Mensch.
"Weißt du, Hump", sagte er, "die modernen Menschen haben eine gänzlich
verkehrte Meinung über das menschliche Leben, sie scheinen immer zu
erwarten, was die Natur niemals versprochen hat, und dann suchen sie
all das zugrunde zu richten, was die Natur wirklich gegeben hat. In
diesen atheistischen Kirchen Ivywoods sprechen sie alle von Frieden,
von dem vollkommenen Frieden, von dem grenzenlosen Vertrauen, von der
allumfassenden Freude und von den Herzen, die für alle schlagen. Aber
sie sehen um kein Haar freundlicher aus als die andern, und als das
Nächstliegende rissen sie das alte Schiff um und rissen damit tausend
gute Witze, Geschichten, Lieder und treue Freundschaften um... Ich weiß
nicht, ob Gott unter Menschenglück das allumfassende und äußerste von
allem Glück meint. Aber Gott will, daß der Mensch seinen Spaß haben
soll, und ich habe die Absicht, ihn weiterbehalten zu wollen."
Der so spricht, ist der Kapitän Patrik Dairoy, abgesetzter englischer
Seeoffizier, politischer Abenteurer und nicht nur politischer, sondern
universaler, wesenhafter Abenteurer, Abenteurer der Seele und des
Lebens. In dem Sinne, in dem alle Helden von Chestertons Romanen und
Novellen, in dem er selber ein Abenteurer ist. Für Chesterton ist das
Leben das romantischste aller Abenteuer, und nur der Abenteurer
entdeckt es. Der Kapitän und sein Jugendfreund Humphrey Hump, Wirt zum
Alten Schiff, sind die Helden des Romans "Das fliegende Wirtshaus". Sie
entdecken das Geheimnis des rechten, gesunden Lebens im Augenblick, da
man es ihnen nehmen will. Aber man will ihnen doch nur den Alkohol und
das unbeschränkte Recht auf Alkoholverkauf nehmen? Nur an einigen
bestimmten Orten, denen als Zeichen der Berechtigung das
Wirtshausschild verbleibt, darf auf die Verfügung des Premierministers
Ivywood hin starkes Getränk verabreicht werden. Da packen die beiden
das Wirtshausschild, ein Fäßchen Rum und das letzte große Käserad, und
in ewiger Flucht vor der Polizei tragen sie singend und zechend diese
letzten Sinnbilder freien, unbekümmerten Menschenlebens durch die
gesetzlich entnüchterte Wirklichkeit. Das fliegende Wirtshausschild
wird zur Fahne der Empörung gegen die Unterdrückung des natürlichen
Menschen durch die moderne soziale Gesetzgebung. Und Lord Ivywood ist
der Vertreter des modernen Geistes, dessen innerstes Wesen in dem
lapidaren Dialog zwischen Ivywood und dem beim Schnapsverkauf
erwischten Apotheker Krug enthüllt wird: "Glauben Sie vielleicht, Sie
haben die Welt gemacht und Sie können jeden Tag daran herumpfuschen?" -
"Die Welt war nicht gut gemacht, und ich will sie besser machen", sagte
Philipp Ivywood dumpf. In all den grotesken Abenteuern des "Fliegenden
Wirtshauses" kämpft die gesunde Natürlichkeit ihren im tiefen Kern
idealen und göttlichen Kampf gegen die Unnatur des modernen,
grenzenlosen, heimatlosen, religionslosen Menschen, der darum auch, in
Ivywood versinnbildet, dem Wahnsinn verfällt.
Ich habe die Chronologie von Chestertons Werken nicht genau feststellen
können. Sie ist für den, der sich sein geistiges Bild klarmachen will,
auch nicht wesentlich. Bevor er von der anglikanischen zur katholischen
Kirche übertrat, erzählte er letzthin dem französischen Schriftsteller
F. Lefèvre, habe er viele katholische Ideen gehabt und er habe als
Katholik seine alte Art, die Welt zu sehen, kaum ändern müssen. Ich
vermute, er hat sie nicht einmal ändern müssen, als er aus der
Kirchenlosigkeit seiner Sturm- und Drangperiode zum Jugendglauben der
anglikanischen Kirche zurückkehrte. Was ihn zur Kirche, zur
anglikanischen wie zur katholischen, fast unvermeidlich trieb, das war
ja eben die ihm angeborene Schau des Lebens. Das Leben war für ihn
gemäß direkter Intuition ein buchstäbliches gottvolles Wunder, das dem
Menschen geschenkt ist; sogleich stand in ihm fest, daß er sich nicht
darum betrügen lassen würde, sondern sich und anderen soviel als nur
möglich zum vollen Bewußtsein und Genuß des Lebenswunders verhelfen
müßte. In dieser, im Grund schon metaphysischen Erfühlung und Wertung
von Mensch und Leben steckt der ganze spätere Chesterton. Er ist immer
ein von der evidenten Wahrheit des Anthropozentrismus besessener Mensch
gewesen. Und da nun das moderne Leben diese Lebenswahrheit mit einem
Schutthaufen von intellektuellen, moralischen, politischen,
ökonomischen Irrtümern und Lügen zudeckt, so wird, so muß er ebenso
systematisch oder vielmehr ganz unsystematisch, mit der Impulsivität
seiner Natur, mit der ganzen Leidenschaft seiner lebenstrotzenden
Persönlichkeit diesen Schutthaufen abtragen und die alte, unsterbliche
Wahrheit des Menschen ausgraben. "Gott weiß", sagt der Kapitän Dairoy,
"ich halte mich nicht für gut, aber manchmal muß ein Sünder ebenso
gegen die Welt ankämpfen wie ein Heiliger." Er sagt es für Chesterton.
Der hält sich, auch nach seiner Konversion, nicht für einen
Kirchenvater, ebensowenig wie Peguy und noch weniger als Leon Bloy sich
dafür hält. "Was erzählt er denn immer in seinen unaufhörlichen
Konferenzen?" fragt Lefèvre eine englische Dame. "Oh, alles mögliche,
im Grunde genommen aber nur das eine, daß die Demut eine große
katholische Tugend ist und daß sie uns allen ganz schauderhaft abgeht."
Daß Chesterton lärmt, das ist eben "das lärmende Bekenntnis der
Schwachheit seines Fleisches"; aber daß er lärmend kämpft, nicht
aufhört, gegen die Welt zu kämpfen, und von allem Anfang an gegen sie
Front gemacht hat, das ist etwas, was Chesterton, der Sünder, mit dem
köstlichen Radaubruder Dairoy als Verdienst sich anrechnet. Und
anrechnen darf! Nehmt es ihm nicht übel, wenn er einmal im Eifer des
Gefechtes auf die falsche Adresse losschlägt, so, wenn er im "Ewigen
Menschen" den Pazifismus ungebührlich hart hernimmt. Und wenn man
übrigens gerade vom christlichen Standpunkt aus bezweifeln darf, daß
der Krieg wirklich in Gottes Weltordnung ein nicht zu überspringendes
Glied ist, so wird anderseits auch durch den christlichen Standpunkt
nahegelegt, daß der Krieg als eine Erscheinungsform des Kampfes
zwischen Gut und Böse wohl ein ewiges Schicksal des Menschen sein wird.
So faßt ihn Chesterton auf. Kampf muß sein, nicht zugunsten irgendeines
Imperialismus, den er selber wild bekämpft; sondern Kampf gegen alles,
was das Menschenleben eng, niedrig und sinnlos macht.
Lest sein Kampfbuch par excellence "Was unrecht ist an der Welt", und
ihr wißt, wie er es meint. Was ist denn so unrecht an ihr, daß er gegen
sie "den polternden Theoriengalopp" dieses stürmischen Buches reitet?
Tausenderlei, was hier nicht gesagt werden kann - schon deswegen, weil
nur Chesterton es sagen kann und immer auf das eine herauskommt: daß
die Zivilisation die Kultur tötet, daß die Maschine dem Menschen den
naturgemäßen Lebensspielraum nimmt, daß der Fachmann den Mann überhaupt
verdrängt und die Herrschaft des Spezialismus die Kameradschaft und
Gleichheit der Demokratie aufhebt, daß die Emanzipation das Wesen der
Frau und die Schule das Wesen des Kindes unterdrückt. Und das kapitale,
allererste Unrecht, das allen diesen Vergewaltigungen des Lebens
zugrunde liegt: wir fragen überhaupt nicht, was recht wäre. "Wir
einigen uns über das Übel; statt dessen sollten wir uns um das Heil
gegenseitig die Augen auskratzen... Die allgemeine Methode der
Soziologen, elendste Armut erst zu zerfasern, Prostitution zu
katalogisieren, ist ganz zwecklos... Der einzige Weg, über das soziale
Übel zu diskutieren, ist, sofort beim sozialen Ideal anzufangen."
Diesen Weg geht Chesterton. Keine soziale Aktion ohne soziales Ideal.
Keine Praxis ohne Theorie. Merkwürdig, wie sehr dieser verblüffend
konkret und praktisch denkende Mensch den Primat des Geistigen betont.
Das Wort vom sogenannten praktischen Mann, der einspringt, wenn alles
schief geht, reizt ihn zum Spott. "Es wäre viel richtiger, zu sagen:
Wenn alles schief geht, brauchen wir einen unpraktischen Mann.
Sicherlich brauchen wir zumindest einen Theoretiker. Ein praktischer
Mann ist einer, der bloß an alltägliche Praxis gewöhnt ist, an die Art,
wie die Dinge gewöhnlich gehen. Wenn die Dinge nicht weitergehen
wollen, braucht man den Denker, den Mann, der etwas davon versteht,
warum sie überhaupt gehen... Wenn ein Aeroplan leicht beschädigt ist,
kann ein geschickter Mann ihn vielleicht heilen. Wenn er aber ernstlich
krank ist, muß höchstwahrscheinlich ein zerstreuter alter Professor mit
wildem, weißem Haar aus einem Kollegium oder Laboratorium
herbeigeschleppt werden, um das Übel zu untersuchen. Je komplizierter
der Schaden ist, um so weißhaariger und zerstreuter muß der Theoretiker
sein, der ihn behandeln soll; und in manchen Fällen könnte niemand
anders als der (wahrscheinlich geistesgestörte) Mann, der das Flugzeug
erfunden hat, überhaupt sagen, was damit los sei."
Es stimmt schon: ein regelrechter Galopp der Theorie ist es, mit dem
Chesterton in den weiträumigen, modernen Apothekerladen mit den tausend
sozialen Gesundheitstränklein, die noch verdächtiger sind als die
Krankheiten, hineinreitet. Ein polternder Galopp, der viel Scherben
zurückläßt, aber zugleich einen neuen Lebensraum schafft für die
unterdrückten Wahrheiten, die die einzigen Heilmittel sind. Hier
leuchtet, mitten unter den konkreten und banalen Nöten des modernen
Lebens, mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit die Erkenntnis
auf, daß nur die Wahrheit rettet. Und was ist die Wahrheit? Chesterton
redet in diesem Buch geflissentlich nicht von der Religion. Aber er
kommt nicht drum herum, zu sagen, daß wir nur die Alternative zwischen
zwei Dingen haben: dem Dogma und dem Vorurteil. "Das Mittelalter war...
ein Zeitalter der 'Lehre'. Unser Zeitalter ist, bestenfalls, ein
Zeitalter des Vorurteils. Eine Lehre ist ein bestimmter Standpunkt; ein
Vorurteil ist eine 'Richtung'. Daß man Ochsen essen darf, während man
Menschen nicht essen darf, ist eine Lehre. Daß von allem so wenig als
möglich gegessen werden soll, ist ein Vorurteil, manchmal auch Ideal
genannt." Die moderne Welt ist von großen, unversöhnlichen Vorurteilen,
von undefinierbaren Tendenzen, von grenzenlosen Strömungen, von vagen
Moden beherrscht. Darum gleitet sie ins Chaos. Die Emanzipation ist
eine Tendenz, die zur Kapitulation der Frau führt, und nur eine "Lehre"
vom Wesen des Weibes kann der Welt die wunderbare Vision des Weibes
erhalten. Den kurzen, allzu kurzen Frauenröcken geht jede Grenze nach
oben verloren, wenn es kein Dogma der Keuschheit gibt. Diese letzte
Bemerkung macht Chesterton erst in diesem Jahr in dem genannten
Gespräch mit Lefèvre; sie ist nur eine zeitgemäße Konsequenz von allem,
was er mit der Tiefe der einfältigen Wahrheit (möchten die Frauen doch
einmal etwas Neugierde für die Modebeurteilung dieses männlichsten
aller modernen Männer haben) über die Frau und ihren Rock sagt in
seinem Weltbuch von 1908. Mit anderen Worten: Chesterton hat schon
damals den Menschen nicht nur aus den fundamentalen Naturgegebenheiten,
sondern aus der religiösen Realität heraus betrachtet oder vielmehr, er
hat damals schon die Religion als ein von der menschlichen
Wirklichkeit, vom ewigen Menschenwesen unabtrennbares Element
empfunden. Er konnte gar nicht anders. Denn er ist ein zu realer, ein
komplett menschlicher Mensch.
Damit kommen wir wieder zum geistigen Bild seiner Persönlichkeit
zurück, die uns hier vor allem interessiert. Erst jetzt sehen wir ihn
auf dem Plan, wo seine Persönlichkeit ins volle Licht tritt, wo das
Geheimnis ihres innersten Wesens, ihrer Fülle und ihres Reichtums
aufleuchtet. Chesterton ist ein wirklicher homo religiosus. Ich denke
mir, daß er unzählige Leser hat, die sich um Religion nicht kümmern.
Ich weiß, daß die literarische Qualität seiner Schriften nach der
Konversion zum Katholizismus sich nicht geändert hat. Daß seither sein
Blick in die Welt noch tiefer und freudiger und sicherer geworden ist,
daß sein Herz und sein Geist durch das sakramental in sein Leben
getretene Mysterium der Gnade gesalbt und beteuert worden ist, das
merkt nur der innerliche Christ, wissen vor allem jene, die persönlich
berührt werden von dem übernatürlichen Fluidum der Wiedergeburt, das
aus dem katholischen Chesterton ausstrahlt. Noch einmal: Auch jener
Leser Chestertons, der sich um Religion grundsätzlich nicht kümmert,
muß sich um die Religion Chestertons kümmern. Denn es gibt eben keinen
Chesterton ohne die Religion. Wie sein Name ausgesprochen wird, klingt
in unserem Bewußtsein ein altes, teures Wort mit herauf: Orthodoxie.
Ein Wort, das über seinem berühmtesten, reichsten, originellsten Buche
steht und über einem der besten Bücher des zeitgenössischen
Christentums, das nicht ausgeschöpft ist, auch wenn man es ein
halbdutzendmal gelesen hat. Ein Wort, das für die modernen Gehirne
schon längst langweilig und leer und tot war und das durch Chesterton
so lebendig wurde wie das Leben selbst. Und leer und tot waren nur die
modernen Gehirne. Denn das war die wundervolle Entdeckung, die
Chesterton gemacht hat: daß die Orthodoxie und das Leben identisch
sind. Er hat es nicht etwa aus gelehrten Traktaten herausbekommen, daß
das Christentum eine alte, verehrungswürdige, auch für unsere modernen
Zeiten nicht unbrauchbare Einrichtung ist. Nein, er hat an Ort und
Stelle des modernen Lebens, heute und hier handgreiflich und
augenscheinlich festgestellt, daß das Christentum die modernste aller
Sachen ist. Als er auf die Suche ging nach dem geistigen Terrain, auf
dem "ein tätiges und erfindungsreiches, ein pittoreskes und von
poetischer Neugierde erfülltes Leben, wie es, wenigstens im Abendlande,
stets begehrenswert erschien", möglich wäre, da fand er es gegeben - im
Apostolischen Glaubensbekenntnis.
Diese Entdeckung war das grundlegende geistige Abenteuer seines Lebens.
Denn wenn einer sich eines schönen Tages aufmacht, um im uferlosen
Meinungsmeer heutigen Geistes oder Ungeistes die Wahrheit zu suchen, so
ist das ein direkt unwahrscheinliches, ein wahrhaft phantastisches
Abenteuer. So phantastisch, daß ihr es gar nicht glauben könnt, wenn
ihr nicht Chestertons Bericht gelesen habt. Nur einen vorläufigen Blick
in den Bericht, auf diese Kapitelüberschriften etwa: Der Irrsinnige -
Der Selbstmord des Gedankens - Die Ethik des Feenlandes - Die Weltfahne
- Die Paradoxe des Christentums - Die immerwährende Revolution - Die
Romantik der Orthodoxie - Die Autorität und der Abenteurer -: und ihr
ahnt, daß es da ziemlich toll hergeht; und dazu ist dieser Abenteurer
wahrscheinlich der genialste und sentimentalste Humorist unserer Zeit.
Die Einleitung, einige Sätze der Einleitung müßt ihr euch wenigstens
anhören.
"Ich hatte öfters Lust, den Roman eines englischen Seefahrers zu
schreiben, der auf seiner Reise etwas in die Irre geriet, so daß er in
England eine neue Insel der Südsee zu entdecken wähnte. Man sollte
denken, daß einer, der, bis an die Zähne bewaffnet und in
Zeichensprache redend, eine solche Landung vollzöge, um auf einem
barbarischen Tempel, der sich dann als der Pavillon von Brigthon
herausstellte, die englische Flagge zu hissen, ein etwas dummes Gesicht
machte. Und warum sollte ich leugnen, daß er wirklich recht dumm
dreinsah? Wer aber dachte, daß er sich auch selber sehr dumm vorkam
oder wenigstens, daß das Bewußtsein seiner Torheit sein einziges oder
sein vorherrschendes Gefühl war, der hätte die stark romantische Natur
meines Helden nicht fein genug erkannt. Sein Irrtum war tatsächlich ein
höchst glücklicher Irrtum... Ich bin der Mann, der so kühn war, zu
entdecken, was vorher schon entdeckt wurde. Wenn an dem, was nun folgt,
etwas Spaßhaftes ist, so geht dieser Spaß auf meine eigenen Kosten;
denn es soll hier erläutert werden, wieso ich mich als der erste
dünkte, der den Fuß auf europäischen Boden setzte, und dann ersah, daß
ich als der letzte kam. Und es sollen hier meine groben Mißgriffe bei
meiner Jagd nach dem schon Gegenwärtigen zur Sprache kommen. Niemand
kann meinen Fall drolliger finden, als ich ihn selber finde; kein Leser
darf mir vorwerfen, daß ich ihn hier zum Narren halte; ich selbst bin
der Narr dieser Historie und lasse mich durch keinen Revolutionär von
meinem Throne stürzen. Ich bekenne mich offen zu all den hirnlosen
Ambitionen, die vom Ende des 19. Jahrhunderts datieren. Wie alle
anderen jungen Leute trachtete ich der Zeit voraus zu sein. Ich
trachtete wie sie, um zehn Minuten der Wahrheit vorauszukommen. Und ich
sah, daß ich um 1800 Jahre hinter ihr zurück war. Mit peinlich
jugendlicher Übertriebenheit forcierte ich meine Stimme, um meine
Wahrheiten vorzubringen. Und ich wurde auf eine höchst gerechte und
komische Weise bestraft denn ich behielt meine Wahrheiten. Aber ich
entdeckte, nicht daß es keine Wahrheiten, sondern ganz einfach, daß es
nicht die meinen waren. Ich dachte allein zu sein und befand mich statt
dessen in der lächerlichen Situation, die gesamte Christenheit auf
meiner Seite zu haben. Es könnte ja sein - Gott verzeih mir's -' daß
ich mich wirklich bemühte, originell zu sein; doch erreichte ich weiter
nichts, als auf eigene Faust von den beharrenden Traditionen
zivilisierter Religion eine minderwertige Kopie herzustellen. Jener
Seefahrer hielt sich für den ersten, der England entdeckte; ich dachte,
ich sei der erste, Europa zu entdecken. Ich wollte tatsächlich eine
eigene Sekte stiften und hatte sie glücklich fertiggebracht, als ich
entdeckte, daß sie - orthodox war. Der Bericht dieses erfreulichen
Fiaskos mag für den einen oder andern etwas Ergötzliches haben; es
dürfte einen Freund oder Feind zu lesen unterhalten, wie ich aus der
Wahrheit irgendeiner Legende oder dem Irrtum einer herrschenden
Philosophie allmählich Dinge lernte, die ich aus meinem Katechismus
hätte lernen können - wenn ich ihn je gelernt hätte. So mag es denn
unterhaltlich sein oder nicht, zu lesen, wie ich zuletzt in einem
Anarchistenklub oder einem Babylonischen Tempel fand, was ich in der
nächstbesten Pfarrkirche hätte finden können. Wen es interessieren
sollte, zu erfahren, wie die Blumen auf dem Felde draußen oder ein in
der Trambahn zufällig erlauschtes Wort, politische Zwischenfälle oder
die Leiden der Jugend in bestimmter Reihenfolge sich vereinten, um eine
bestimmte Überzeugung christlicher Orthodoxie hervorzurufen, der wird
diese Sachen vielleicht zu Ende lesen."
Vielleicht. Warum denn: "vielleicht"? Beschleicht auf einmal bänglicher
Zweifel am allgemeinen Interesse seines Abenteurers den frohgemuten
Sinn des Erzählers? Das nicht. Aber er weiß, daß er manche Leute wild
macht mit seiner Treibjagd auf Paradoxa. Sie können es nicht ausstehen,
daß er im Angesicht der ernstesten und heiligsten Dinge immer irgend
etwas oder irgend jemand verulken muß. Das ist ja auch sonderbar,
gesteht Chesterton zu, aber es sei nun einmal so, daß er, je mehr er
Allotria treibe, um so unfehlbarer auf den rechten Weg komme. Und das
ist gar kein närrischer Einfall und Zufall. Schon in dem der
"Orthodoxie" vorangehenden Buch "Häretiker" hat er ganz klar erkannt,
daß "das Paradoxon nichts anderes ist als eine gewisse Freude der
Herausforderung, die dem Glauben eigentümlich ist". Der Gläubige ist
kein Leisetreter und darf keiner sein, wenn er seinen Glauben ernst
nimmt und Jesus Christus als den Heiland der Welt ansieht. Der hat
nicht lang Zeremonien gemacht, sondern die Leute ins Gesicht hinein
gefragt, ob sie verdammt oder gerettet zu werden wünschten. Er hat so
unwahrscheinliche und sozial so umstürzende Dinge gesagt wie das
berühmte Wort von den Ersten, die die Letzten, und von den Letzten, die
die Ersten sein würden. Scheinbar hat er die Dinge auf den Kopf
gestellt. In Wahrheit standen die Dinge auf dem Kopf, und er hat sie
wieder auf die Beine, das heißt in die ursprüngliche Lage, gebracht.
Das Gesetz und Wort der Gnade muß paradox sein, weil die Sünde zuerst
den Menschen in eine paradoxe Situation versetzt hat. Also ist auch
Chesterton paradox, und wenn die steifen, feierlichen Pedanten rasend
werden, daß er ihnen Niespulver unter die Nase hält, so ist Chesterton
entzückt, ihren unaufrichtigen Ernst dem Gelächter ausgeliefert zu
haben. Denn mehr verdienen sie nicht. Es gibt einen teuflischen Ernst,
und es gibt einen göttlichen Leichtsinn.
Das ist der Abenteurer der Orthodoxie. Man braucht viele verschiedene
Christen, um eine Christenheit zu machen, man braucht allerlei
Pfarrkinder zu einer Pfarrei, meint Peguy, und Chesterton ist gewiß der
letzte, der ihm widerspricht. Und gerade deswegen, weil er so ganz
anders ist als andere "Pfarrkinder" Christi, gehört er in dieses Buch
herein, das eine kleine Mustersammlung charakteristischer Typen aus der
großen Geisterfamilie Christi darstellen möchte. Auch er ist ein Ringer
mit Christus. Nicht in jenem pathetischen Sinne, daß er in Christi
Hände fällt als in die Hände des lebendigen Gottes, mit dem um das Heil
der unsterblichen Seele gerungen wird. Sondern in diesem Sinn, daß er
durch die Hände Christi in eine für ihn ungeahnt neue, herrliche Vision
der Welt hineingehoben wird und sich nun verpflichtet und berufen
fühlt, den Kosmos Jesu Christi zu predigen und zu preisen, ihn den
Seelen aufzuschließen, die Seelen für ihn aufzuschließen. Er scheint in
seiner Auseinandersetzung mit Christus nicht übermäßig viel Zeit für
seine eigensten persönlichen Angelegenheiten verloren zu haben.
Wahrscheinlich hat er keine besonderen mystischen Erlebnisse gehabt wie
Bloy, Gide, Solovjeff. Sondern er hat einfach begriffen, daß das ganze
Leben eine ungeheuer mystische Sache ist, und daß nur im Christentum
sich der Instinkt für den mystischen, romantischen Charakter des Lebens
erhalten hat. Im Christentum ist Platz für "Staunen, Neugier,
moralische und politische Abenteuerlust, gerechte Empörung", weil es
Platz hat für den persönlichen, überweltlichen Gott. Der Pantheismus
muß seinem Wesen nach alles gleich gelten lassen, da alles göttlich
ist; alles ist gleich gültig, und darum wird alles auch gleichgültig;
der Mensch ist und bleibt in ehernen Notwendigkeiten eingemauert und
abgeriegelt von jeder Möglichkeit einer Entwicklung zu etwas Neuem.
Höchstens lassen manche Religionen dem Menschen noch die Möglichkeit,
die Spuren des Göttlichen im Labyrinth des eigenen Ich zu verfolgen.
"Aber einzig nur zu uns Christen wurde gesagt, daß wir Gott als wie
einem Adler im Gebirge nachjagen sollten: und wir haben alle Ungeheuer
auf dieser Jagd erlegt."
Das ist es vor allem, warum Chesterton mit solch stürmischer Freude
Christ, katholischer Christ geworden ist: er ist ganz auf Frohsinn,
Kampf und Abenteuer eingestellt, und das Christentum führt ihn in die
Arena angespanntester geistiger Aktivität. Christus hat zu allen Zeiten
in seiner Familie intellektuelle Geister gehabt, die vor allem
kämpfend, in einem kämpfenden Bekennertum sich für ihn einsetzten. An
Apologeten fehlt es vielleicht heute weniger als an Leuten, die sich
von ihnen belehren lassen. Sie sind manchmal zu schwerfällig und zu
feierlich, legen zu viel Gelehrtheit oder zu viel Frömmigkeit in ihre
Schaufenster. Man hat Bloy als einen Skatologen bezeichnet, weil er
auch dem anrüchigsten Ausdruck nicht aus dem Wege ging. "Wenn ich als
radikal religiöser Schriftsteller mir erlauben würde, so saft- und
kraftlos und langweilig zu schreiben" so erwiderte er -, "dann läse
mich kein Mensch, und den Schaden hätte die Sache Christi." Das hat
Chesterton unzweifelhaft vor Bloy und überhaupt allen in diesen
Blättern geschilderten christlichen Geistern voraus, daß er sich
keinerlei Gewalt antun muß, um mit seinem Publikum im allerlebendigsten
Kontakt zu bleiben. Er ist nie allein, wenn er schreibt, denn er
schreibt genau genommen gar nicht, er diskutiert und polemisiert, er
spricht mit vor Ergriffenheit verhaltenem Atem, er flüstert, schreit
und lacht unbändig, wie der geborene Redner, dem die Seelen seiner
Zuhörer ebenso offen liegen wie die Gesichter. Liest man ihn, so hat
man immer den Eindruck eines Kampfspieles: da steht ein gleichsam
allgegenwärtiger Fechter, der mit ewig kreisendem Degen nach allen
Fronten sich wendet in unermüdlicher, zielsicherer Eleganz. Ja, ein
Fechter, ein Gladiator Christi, und was für einer! Und diese plötzliche
Erkenntnis fährt wie ein Sturmwind in manche zeitgenössischen Gehirne
und bläst dicken Staub von allerhand Begriffen fort, die hier nur noch
eine schemenhafte Existenz fristen. "Streiter Christi" ist so ein
verstaubtes Überbleibsel aus dem Katechismusunterricht, und man denkt
sich dabei einen altchristlichen Märtyrer oder einen mittelalterlichen
Mönch, vorausgesetzt, daß man sich überhaupt etwas dabei denkt. Da
kommt dieser Chesterton daher und beweist einfach durch sein Dasein,
daß moderner Geist in seiner gescheitesten, witzigsten,
weltmännischsten Form gerade gut genug ist für dieses altertümliche Amt
des Streiters Christi; und daß das Christentum, weit entfernt, die
Angelegenheit weltfremder, frommer und mürrischer Priester zu sein, die
einzige Türe zu einem frohen, kraftvollen, abwechslungsreichen,
romantischen Leben auf dieser Menschenerde ist.
Eine ganz eigentümliche, selten getriebene Art von Apologetik, eine von
einer mächtigen, personalen Lebensfülle geschwellte Apologetik, die
sich nicht mit einer abwehrenden Verteidigung der Glaubenspositionen
zufrieden gibt, sondern im Glauben das Wunder- und Märchenland
aufzeigt, in das den Menschen schon die wagemutige Entdeckungsfahrt des
gesunden, unverdorbenen Verstandes hineinführt. Vielleicht ist das
gerade die Apologetik, die der moderne Durchschnittsmensch, den
Chesterton liebt und für den er schreibt, am dringendsten nötig hat.
Ich bin überzeugt, könnte man den Durchschnittsmenschen dazu bringen,
das Leben nach Chestertons Art zu betrachten, mit diesem
unbestechlichen, ehrlichen Blick, mit diesem unbedingten Willen zu
vollem, ausgewachsenem Menschtum, müßte er zu guter Letzt mit Stolz und
Inbrunst "orthodox" werden. Nicht als ob er ohne weiteres an jenen
schlechthin übernatürlichen Punkt gelangte, wo die Wahrheit, in sich
selbst ruhend und einfach unbezweifelbar, unseren ganzen Horizont
versperrend, sich aufzwingt, einen Punkt im geistigen Dasein, den nur
der Gläubige kennt. Das nicht; aber er würde mit Staunen wahrnehmen,
wie nach und nach die geistige Lebensluft frei würde von all den
Chimären und Phantomen, von all den Illusionen und Truggestalten, die
sie bis jetzt verwirrten und verpesteten. Es würde ihm so gehen wie
Chesterton. Der gesteht zu, daß seine Parteinahme für das Christentum
eine rationelle ist; aber deswegen ist sie nicht einfach, sondern
beruht auf einer ungeheuren Menge kleiner, übereinstimmender Tatsachen.
"Meine Haltung wurde, wie bei der Norm des Agnostikers, durch eine
Anhäufung verschiedentlicher Feststellungen entschieden. Nur daß bei
der Norm des Agnostikers alle Tatsachen in Verwirrung geraten. Er ist,
aus zahlreichsten Gründen, ein Ungläubiger. Aber diese Gründe sind
nicht richtig. Er zweifelt, weil die mittelalterlichen Zeiten
barbarisch waren, aber dies ist nicht zutreffend; weil der Darwinismus
unwiderleglich ist, aber es ist nicht wahr; weil keine Wunder
geschehen, aber es geschehen welche; weil die Mönche sich als untüchtig
erwiesen, aber sie waren sehr tüchtig; weil Klosterfrauen unglücklich
sind, aber sie sind ansehends heiter; weil die christliche Kunst blaß
und melancholisch war, aber sie gefiel sich in prunkenden,
golddurchwirkten Farben; weil die moderne Wissenschaft sich vom
übernatürlichen entfernt, aber sie steuert im Gegenteil mit der
Geschwindigkeit eines Eisenbahnzuges auf das Übernatürliche zu."
Dieser letzte Satz macht mich leider darauf aufmerksam, daß meine eben
auf den Durchschnittsmenschen gesetzte Hoffnung durch allzu großen
Optimismus sündigt. Der Durchschnittsmensch ist kein Chesterton, und
Chesterton ist kein Durchschnittsmensch. Gewiß leben in ihm alle guten
Eigenschaften des Durchschnittsmenschen, aber in einer gereinigten,
erhöhten, unglaublich potenzierten Form. Er ist der
Durchschnittsmensch, wie er sein sollte, sein könnte, aber leider nicht
ist. Wo ist heute der Durchschnittsmensch - sei er nun "der Mann der
Straße", der Wissenschaftler, der Schriftsteller -' der mit dem
gesunden, natürlich-offenen Verstand, der unbegrenzten seelischen
Aufnahmebereitschaft für die Wahrheit den Dingen und gar erst den
Geheimnissen - der Welt gegenübertritt, die Chesterton angeboren sind?
Theodor Haeker sprach in einem Vortrag das bittere Wort, daß "unsere
Gebildeten, selbst als Philosophen, gar nicht die Wahrheit, sondern die
Macht oder die Lust oder das Leben wollen". Chesterton will auch die
Lust und die Macht des Lebens, aber in der Wahrheit und durch die
Wahrheit. Seine Bücher sind ein einziger, sich steigernder Schrei nach
Freude, nein, ein Schrei der Freude. Denn er hat sie, die Freude, als
ein Mensch, der weiß, daß er unter den Augen Gottes lebt, gebadet im
ewigen Geisteslicht, das allen Menschen leuchtet, mag auch sein Quell
wie die flammende Sonne in triumphierender Unsichtbarkeit ihnen
verborgen sein. Wenn er das Christentum liebt, so doch gerade deswegen,
weil es ihm das letzte Geheimnis der Freude enthüllt. Keine Freude,
wenn es keinen Gott gibt. Das frohe Heidentum ist eine Fabel. Die
Heiden freuten sich über die kleinen Dinge und betrübten sich über die
großen. "Giotto lebte in einer düstereren Stadt als Euripides, aber er
lebte in einem froheren Universum... Das Christentum erfüllt plötzlich
den antiken Instinkt des Menschen, seine gerade Haltung einzunehmen; es
erfüllt ihn vollkommen, indem kraft seines Glaubens seine Freude zu
ungeheurer Macht heranwächst, während seine Trauer sich sozusagen
spezialisiert und verringert. Das Himmelsgewölbe ist nicht länger taub,
da das Universum leblos ist; das Unfaßbare ist nicht herzlose
Unfaßbarkeit einer unbegrenzten und ziellosen Welt. Vielmehr ist das
weite Schweigen um uns her ein gemütvolles und erbarmungsvolles
Schweigen, wie die lauschende Stille in einem Krankenzimmer. Vielleicht
ist uns die Tragödie als eine Art mitleidsvoller Komödie bewilligt:
weil wir von der Sturmesgewalt göttlicher Dinge überwältigt würden wie
von einer trunkenen Posse. Wir können unsere eigenen Tränen leichter
verwinden, als wir den namenlosen Jubel der Engel verwinden könnten. So
verbleiben wir vielleicht in einem schweigenden Sternenraum, weil das
Gelächter der Himmel zu laut ist, um von uns vernommen zu werden."
Was ist das? Wunderbar geschliffene Prosa eines meisterlichen
Literaten, lyrische Raserei eines heimlichen Dichters oder...? Fragen
wir nicht lang: es ist der Durchbruch des Mystikers Chesterton durch
die Oberfläche des von ihm so stürmisch kultivierten und affektierten
Durchschnittsmenschentums. Runden wir das bis jetzt gezeichnete Bild
von Chestertons Persönlichkeit ab, indem wir auf ihr mystisches Element
hinweisen. In einem in sein Wesen sympathisch tief eindringenden
Aufsatz („Hochland", Jänner 1923) schrieb Carl Ch. Bry, daß "ein Mensch
seiner Anlage und Anschauung zum Mystiker werden konnte, wozu ihm aber
das letzte Unnennbare fehlte". Mag sein, daß man im strengsten Sinn des
Wortes ihn nicht so heißen darf. Es ist in ihm und seinem Werk eine so
intensive Hingegebenheit an die bunte Vielfalt des äußeren Lebens, daß
das, was den eigentlichen Mystiker ausmacht, das inbrünstige Ringen um
das Verhältnis der Seele zu Gott und das Erleben Gottes in der Tiefe
der Seele, zurücktritt oder wenigstens nicht überwältigend hervortritt.
Er würde es selber als Arroganz empfinden, neben den Mystiker Newman
gestellt zu werden - um nicht gleich die erhabensten Namen anzurufen.
Aber zwischen Bloy und Solovjeff wäre er schon am rechten Platz. Unter
den vorwiegend literarischen und philosophischen Mystikern - diesen Typ
gibt es eben einmal - darf er seinen Platz in Ehren behaupten. Durch
seine Bücher tanzen alle Dinge der Welt, aber in jenem harmonischen
Tanz, in dem wiedergefundenen göttlichen Gleichgewicht, das nur durch
die vollkommene Gravitation um das mystische Lebenszentrum möglich ist.
Die christliche Mystik west nicht in der Verneinung des realen
Universums, sondern in der Bejahung des geistigen Universums.
Chesterton hat wie Pascal oder Bossuet in seinem "Discours sur
l'histoire universelle" von der natürlichen Welt eine durchaus
übernatürliche Vision. Seine Welt ist die Welt der "Orthodoxie", die
Welt des hl. Franziskus, dem er ein von tiefer mystischer
Verwandtschaft zeugendes Werk gewidmet hat, und ist die Welt des
"Ewigen Menschen". Wenn seine ersten Bücher etwas wie ein Triumph des
gesunden Menschenverstandes waren, so sind die beiden letzten der
Triumph des gesamten geheimnisvollen Menschenwesens, das sich mit
seinem innersten Kern in den seligen Abgründen Gottes verankert weiß.
Doch: das "Unnennbare" des Mystikers finde ich auch in Chesterton. Ich
kann gar nichts von ihm lesen, ohne es zu finden. Vor allem in seinen
Romanen und Novellen. Zwar behandelt er nicht, wie etwa Bernanos jetzt
in Frankreich, direkt die höchsten Themen des mystischen Lebens, aber
seine immer wieder um Religion und Irreligion kreisenden Geschichten
(besonders der Roman "Ball and Croß", den die "Revue Universelle" ins
Französische übersetzte) haben Seiten, die von mystischem Feuer glühen.
Alle seine Novellen sind ungeheuer phantastisch: vor dem mystischen
Blick Chestertons in die Welt enthüllt sich die Wahrheit des
Pascalschen Wortes, daß die Phantastik der Realität die Phantastik der
menschlichen Einbildungskraft überfliegt. Sie sind manchmal
grauenhafter als die Novellen von Poe: es ist aber nicht das Grauen
Poes, sondern das Grauen Dostojewskis vor dem Antichrist, dessen
Gesicht aus der glatten Maske des humanitären Atheismus herausstarrt.
Natürlich hat Chesterton, von dem mystischen Blick abgesehen, mit
Dostojewski nicht die geringste Familienähnlichkeit. Er ist kein
"unterirdischer Mensch". Er ist kein stammelnder Seher vor dem
metaphysischen Abgrund wie Pascal. Solche Apotheosen würden ihn lachen
machen; denn er ist immer frohen Sinnes. Was er an mystischer Tiefe
besitzt, wird er wohl als selbstverständliche Ausrüstung des
gutgeborenen Durschnittsmenschen ansehen. Und hat mystischer Schwung
ihn unversehens zu Seherhaltung emporgereckt, so macht er sich rasch
wieder klein, schlägt ein homerisches Gelächter an und versichert, der
Herrgott wolle unbedingt, daß der Mensch auf seiner Erde seinen Spaß
habe. Hat er aber einen bestimmten Ehrgeiz, so ist es, wenn ich in
seinem "Franziskus" recht zwischen den Zeilen lese, dieser: so wie der
Poverello ein "Narr Gottes" zu sein und auf eigene Faust und eigene Art
seiner Allmacht Werk, das immerwährende Wunder der Welt, zu preisen.
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