Rundschreiben AETERNI PATRIS
unseres Heiligen Vaters
Papst Leo XIII.
Vorbemerkung der Redaktion:
Die Enzyklika „Aeterni Patris Unigenitus“ Papst Leos XIII. vom 4.
August 1879 war der Versuch, einer historisierenden Philosophie ein
Konzept erprobter Begrifflichkeit entgegenzusetzen, welches Leo XIII.
in der Philosophie de hl. Thomas von Aquin gefunden zu haben glaubte.
Er begründet seine Haltung unter Punkt 24 selbst:
"An die Stelle der alten Schule trat hie und da eine neue Methode zu
philosophieren, die jedoch nicht die erwünschten und heilsamen Früchte
trug, welche die Kirche und selbst die bürgerliche Gesellschaft gern
gesehen hätten. Infolge der Bestrebungen der Neuerer des sechzehnten
Jahrhunderts liebte man es zu philosophieren ohne jede Rücksicht auf
den Glauben, indem man sich die Freiheit wechselseitig herausnahm und
gewährte, alles Beliebige nach Willkür und Gutdünken vorzubringen. Als
nächste Folge hiervon ergab sich eine ungesunde Vervielfältigung der
philosophischen Systeme mit verschiedenen und sich widersprechenden
Anschauungen auch bezüglich der Gegenstände, welche für die menschliche
Erkenntnis die wichtigsten sind. Diese Menge von Ansichten führte sehr
häufig zur Ungewissheit und zu Zweifeln; wie leicht aber der
menschliche Geist vom Zweifel in den Irrtum sinkt, sieht jedermann ein."
Er stellte dieser falschen Philosophie, die Ursprung privater wie
sozialer Übel ist, die „gesunde“ entgegen, die den Glauben vorbereitet,
seine Annahme als vernünftig erweist, ihn tiefer erfassen läßt und
verteidigt. Auf die Philosophie des Thomas von Aquin wird von ihm
deshalb hingewiesen, weil er das Erbe der Väter und die Philosophie der
Antike aufgenommen und geistig durchdrungen hat. Die Kirche erkennt ihm
einen Primat der Lehre zu. Die Enzyklika gab der Neuscholastik starke
Impulse. (Vgl. W. Kluxen, Aeterni Patris Unigenitus, in: LThK3 I 187.)
Jener Text war bis zum heutigen Tag das einzige päpstliche Dokument auf
solcher Ebene, das ausschließlich der Philosophie gewidmet war. Leo
XIII. griff die Lehre des I. Vatikanischen Konzils über das Verhältnis
von Glaube und Vernunft auf und entwickelte sie weiter, indem er
zeigte, daß das philosophische Den-ken ein grundlegender Beitrag zum
Glauben und zur theologischen Wissenschaft ist. Er schrieb:
"Im selben Augenblick, in dem er (der hl. Thomas), wie es sich gehört,
den Glauben vollkommen von der Vernunft unterscheidet, vereint er die
beiden durch Bande wechselseitiger Freundschaft: er sichert jeder von
ihnen ihre Rechte zu und schützt ihre Würde".
Es klingt jedoch etwas eigenartig, wenn Johannes Paul II. in seiner
Enzyklika „Fides et ratio“ vom 14. September 1998, in der er
Feststellungen über den Zusammenhang von Glaube und Vernunft getroffen
hat, auch auf die Bedeutung der philosophi-schen Denkweise des hl.
Thomas von Aquin zu sprechen kommt. "Die einflußreichsten katholischen
Theologen dieses Jahrhunderts, deren Denken und Forschen das II.
Vatikanische Konzil viel zu verdanken hat, sind Kinder dieser
Erneuerung der thomistischen Philosophie. So stand der Kirche im Laufe
des 20. Jahrhunderts eine starke Gruppe von Denkern zur Verfügung, die
in der Schule des Doctor Angelicus herangebildet worden waren.“ Sollten
es gerade Gedanken von jenem "engelgleichen" Lehrer sein, die
mitbestimmend waren für die derzeitige Auflösung?
Wir geben diese Enzyklika hier wieder, weil sie als Grundlage zu gelten
hat, ohne deren Beachtung eine wirkliche Weiterentwicklung der
Philosophie im kirchlichen Raum nicht geschehen darf. Eine solche wird
aber von Leo XIII. ausdrücklich gefordert, wenn sich herausstellen
sollte, daß die Lehre des hl. Thomas Fehler oder Mängel aufweisen
sollte. Unter Punkt 31 schreibt er ausdrüclich:
"Wenn etwas mit den ausgemachten Lehrsätzen der späteren Zeit weniger
übereinstimmt, oder endlich in welcher Weise dies nur immer sein mag,
unhaltbar sich zeigt, so gedenken Wir das keineswegs unserer Zeit zur
Nachfolge vorzuhalten."
In diesem Sinne hoffe ich auf ein nur an der Wahrheit orientiertes Forschen.
Eberhard Heller
***
An alle Ehrwürdigen Brüder, die
Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe und Bischöfe der katholischen Welt,
welche in Gnade und Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhle stehen
über die Erneuerung der Wissenschaft auf der Grundlage der philosophischen Prinzipien des heiligen Thomas von Aquin
vom 4. August 1879
Ehrwürdige Brüder!
Gruß und Apostolischen Segen
1 Der eingeborene Sohn des ewigen Vaters, der auf Erden erschien, um
dem menschlichen Geschlechte das Heil und Licht der ewigen Wahrheit zu
bringen, hat der Welt eine wahrhaft große und wunderbare Wohltat
erwiesen, als er bei seiner Auffahrt zum Himmel den Aposteln gebot, daß
sie hingingen und alle Völker lehrten[1], und die von ihm gegründete
Kirche als gemeinsame und oberste Lehrerin aller Völker zurückließ.
Denn die Menschen, welche die Wahrheit befreit hatte, sollten in der
Wahrheit erhalten werden, und die Früchte der göttlichen Lehren, durch
welche dem Menschen das Heil geworden, wären nicht lange geblieben,
hätte Christus der Herr nicht zur Unterweisung der Geister im Glauben
ein fortdauerndes Lehramt eingesetzt. Die Kirche aber, von den
Verheißungen ihres göttlichen Urhebers getragen und in Nachahmung
seiner Liebe, hat der Art ihren Auftrag erfüllt, daß sie dahin immer
strebte, darnach ganz besonders verlangte, die Religion zu lehren und
die Irrtümer beständig zu bekämpfen. Dies ist das Ziel der Arbeiten und
Wachsamkeit aller Bischöfe, dies das Ziel der Gesetze und Verordnungen
der Kirchenversammlungen, und besonders der täglichen Sorge der
römischen Päpste, denen als Nachfolger des heiligen Petrus, des Fürsten
der Apostel, im Primate das Recht und die Pflicht zukommt zu lehren und
die Brüder im Glauben zu stärken. Weil aber, wie der Apostel mahnt,
durch Weltweisheit und leeren Trug[2] die Gemüter der Christgläubigen
häufig getäuscht und die Reinheit des Glaubens in den Menschen verletzt
wird, darum haben die obersten Hirten der Kirche immerdar es für ihre
Amtspflicht erachtet, auch die wahre Wissenschaft mit allen Kräften zu
fördern, und zugleich mit besonderer Wachsamkeit dafür zu sorgen, daß
alle menschlichen Wissenschaften überall der Regel des katholischen
Glaubens gemäß gelehrt würden, besonders aber die Philosophie, von
welcher nämlich zum großen Teile der richtige Verstand der übrigen
Wissenschaften abhängt. Gerade hierauf haben auch Wir unter anderem in
Kürze aufmerksam gemacht, Ehrwürdige Brüder, als Wir das erste Mal
durch ein Rundschreiben zu Euch allen gesprochen; nun aber drängt uns
die Wichtigkeit des Gegenstandes und die Zeitlage, von neuem mit Euch
die Art und Weise der philosophischen Studien zu besprechen, welche
sowohl dem Glaubensgute vollständig gerecht wird, als auch der Würde
der menschlichen Wissenschaften selbst entspricht.
2 Wer unsere traurige Zeitlage aufmerksam betrachtet, und die Zustände
des öffentlichen wie Privatlebens vor seinem Geiste vorübergehen läßt,
der erkennt gewiß, daß die eigentliche Ursache sowohl der Übel, die Uns
drücken, als auch jener, die wir noch befürchten, darin besteht, daß
verderbliche Lehren über die göttlichen und menschlichen Dinge, welche
schon vor längerer Zeit aus den Schulen der Philosophen hervorgegangen
sind, unter allen Klassen der Gesellschaft sich verbreiteten und
allgemeine Zustimmung fanden. Denn da es in der Natur des Menschen
liegt, in seinen Handlungen die Vernunft zur Führerin zu nehmen, so
zieht der Irrtum des Verstandes leicht auch einen Fehler des Willens
nach sich; und so geschieht es denn, daß verkehrte Meinungen, welche im
Verstande ihren Sitz haben, die menschlichen Handlungen beeinflussen
und verschlechtern. Umgekehrt, wenn der Geist des Menschen gesund ist
und auf den wahren und gediegenen Grundsätzen sicher ruht, dann werden
hieraus für das öffentliche und private Wohl sehr viele Vorteile sich
ergeben. Allerdings schreiben Wir der menschlichen Philosophie nicht
einen so großen Einfluß und solches Ansehen zu, daß wir dafür hielten,
sie sei hinreichend, alle Irrtümer zu überwinden und auszurotten. Denn
wie bei der Gründung des Christentums durch das wunderbare Licht des
Glaubens, nicht durch überredende Worte menschlicher Weisheit
verbreitet, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft[3], dem
Erdkreis wieder seine frühere Würde zurückgegeben wurde, so hoffen Wir
auch besonders von der allmächtigen Kraft und Hilfe Gottes, daß die
Gemüter der Sterblichen von der Finsternis der Irrtümer, die sie
umfangen, befreit werden und zur Erkenntnis gelangen. Doch sollen wir
die natürlichen Hilfsmittel nicht verschmähen und hintansetzen, welche
durch die Güte der göttlichen Weisheit, die alles mächtig und milde
ordnet, dem menschlichen Geschlechte zu Gebote stehen; unter diesen
aber ist der richtige Gebrauch der Philosophie das vorzüglichste. Denn
nicht umsonst hat Gott das Licht der Vernunft dem menschlichen Geiste
eingepflanzt; und weit entfernt, daß das hinzugekommene Licht des
Glaubens die Kraft der Vernunft vernichte oder mindere, vervollkommnet
es diese vielmehr und macht sie stärker und zu Höherem fähig.
3 Es fordert sonach der Plan der göttlichen Vorsehung selbst, daß wir
auch die menschliche Wissenschaft zu Hilfe rufen, um die Völker zum
Glauben und zum Heile zurückzuführen, ein lobenswertes und weises
Bestreben, das nach den Zeugnissen des Altertums bei den
hervorragendsten Kirchenvätern gewöhnlich war. Jene pflegten nämlich
der Vernunft eine keineswegs geringe und unbedeutende Aufgabe
zuzuschreiben, was alles der große Augustinus ganz kurz zusammengefasst
hat, indem er dieser Wissenschaft das zuschreibt, wodurch der höchst
heilsame Glaube erzeugt, genährt, verteidigt und gestärkt wird[4].
4 Es ist nämlich erstens die Philosophie im Stande, falls sie in
gehöriger Weise von Verständigen betrieben wird, den Weg zum Glauben
gewissermaßen zu ebnen und zu bahnen, und die Gemüter ihrer Schüler zur
Aufnahme der Offenbarung in entsprechender Weise vorzubereiten, deshalb
sie von den Alten bald ein vorläufiger Unterricht im christlichen
Glauben[5], bald eine Vorschule und Hilfe zum Christentum[6], bald eine
Erzieherin zum Evangelium[7] nicht ohne Grund genannt worden ist.
In der Tat hat der barmherzige Gott bezüglich dessen, was die
göttlichen Dinge betrifft, nicht bloß jene Wahrheiten durch das Licht
des Glaubens geoffenbart, welche der menschliche Verstand aus sich
nicht zu erkennen vermag, sondern er hat auch solche kund gegeben,
welche für die Vernunft nicht vollständig unbegreiflich sind, so daß
sie nach Hinzutritt der göttlichen Autorität alsbald und ohne
irgendwelche Beimischung von Irrtum von allen erkannt werden. So ist es
gekommen, daß einige Wahrheiten, die teils von Gott zu glauben
vorgelegt werden, teils mit der Lehre des Glaubens in engem
Zusammenhange stehen, selbst die Weisen unter den Heiden, bloß vom
Lichte der natürlichen Vernunft erleuchtet, erkannten, durch treffliche
Beweisgründe dartaten und verteidigten. Denn das Unsichtbare an ihm
ist, wie der Apostel sagt, seit Erschaffung der Welt in den
erschaffenen Dingen erkennbar und sichtbar, auch seine ewige Kraft und
Gottheit[8]. Und die Heiden, welche das Gesetz nicht haben, zeigen
nichtsdestoweniger, daß das Gesetz in ihre Herzen geschrieben sei[9].
Diese Wahrheiten aber, welche selbst die Weisen unter den Heiden
erkannt haben, zum Vorteil und Nutzen der geoffenbarten Lehre
anzuwenden, ist äußerst zweckmäßig, um so durch die Tatsache zu zeigen,
daß die menschliche Weisheit gleichfalls und das Bekenntnis selbst der
Gegner für den christlichen Glauben Zeugnis ablegt. Daß ein solches
Verfahren nicht erst in unserer Zeit eingeführt wurde, sondern uralt
ist und von den Kirchenvätern häufig angewandt wurde, ist allbekannt.
Es erblicken sogar jene ehrwürdigen Träger und Wächter der religiösen
Überlieferungen ein Gleichnis und sozusagen Vorbild dieses
Verhältnisses in der Geschichte der Hebräer, welche beim Auszuge aus
Ägypten geboten wurde, die silbernen und goldenen Geräte der Ägypter
zugleich mit ihren kostbaren Gewändern mit sich zu nehmen, damit diese
Kostbarkeiten nun zu einem anderen Zwecke verwendet, der Religion des
wahren Gottes geweiht würden, die vordem schmählichen Gebräuchen und
dem Aberglauben gedient hatten. Deswegen lobt Gregorius[10] von
Neocäsarea den Origines, weil er verschiedene Sätze sinnreich den
Lehren der Heiden entnommen, und gleichsam wie Pfeile, die er den
Feinden entrissen, zum Schutze der christlichen Weisheit und zur
Vernichtung des Aberglaubens mit besonderer Gewandtheit auf sie
zurückgeschleudert habe. Die gleiche Kampfesweise loben und billigen
sowohl Gregorius von Nazianz[11] als Gregorius von Nyssa[12] an
Basilius dem Großen; Hieronymus empfiehlt sie ganz außerordentlich an
dem Apostelschüler Quadratus, an Aristides, Justinus, Irenäus und sehr
vielen andern[13]. Sehen wir nicht, sagt Augustinus, mit wie viel Gold
und Silber und Gewändern beladen Cyprian, der höchst liebliche Lehrer
und selige Martyr, aus Aegypten auszog? Mit wie viel Lactantius, mit
wie viel Victorinus, Optatus, Hilarius; um von Lebenden zu schweigen,
mit wie viel zahllose Griechen?[14] Wenn nun aber die natürliche
Vernunft diese reiche Ernte von Wahrheiten schon vorher hervorgebracht
hat, ehe sie durch Christi Kraft befruchtet ward, so wird sie gewiß
eine noch viel reichere hervorbringen, nachdem die Gnade des Erlösers
das angebornen Vermögen des menschlichen Geistes erneuert und
gekräftigt hat. Wer sollte aber nicht einsehen, daß durch eine solche
Weise zu philosophieren ein ebener und leichter Weg zum Glauben sich
darbietet?
5 Hierauf beschränkt sich jedoch der Nutzen nicht, welcher aus jener
Weise zu philosophieren hervorgeht. Tadeln doch die Aussprüche der
göttlichen Weisheit die Torheit jener Menschen, welche aus den
sichtbaren Gütern den nicht begreifen, der da ist, und den
Meister aus seinen Werken nicht erkennen[15]. So ergibt sich zunächst
als große und herrliche Frucht des Gebrauches der menschlichen Vernunft
der Beweis für das Dasein Gottes; aus der Schönheit der Geschöpfe kann
man Schlussweise deren Schöpfer erkennen[16]. Sodann beweist sie, daß
Gott durch den Besitz aller Vollkommenheiten über alles einzig
hervorragt, besonders durch seine unendliche Weisheit, vor der nichts
sich verbergen, und seine höchste Gerechtigkeit, die keine ungeordnete
Neidung besiegen kann; daß daher Gott nicht bloß wahrhaft ist, sondern
die Wahrheit selbst, welche nicht getäuscht werden noch täuschen kann.
Hieraus folgt augenscheinlich, daß die menschliche Vernunft dem Worte
Gottes die höchste Glaubwürdigkeit und Autorität zuerkennt. In gleicher
Weise erklärt sie, daß die evangelische Wahrheit durch wunderbare
Zeichen zum gewissen Beweise der gewissen Wahrheit schon seit ihrem
Ursprung hervorgeleuchtet hat, und daß darum alle, welche dem
Evangelium glauben, nicht unbesonnen glauben, als ob sie gelehrten
Fabeln folgten[17], sondern in vollständigvernunftgemäßem Gehorsam
ihren Geist und ihr Urteil der göttlichen Autorität unterwerfen. Auch
das ist offenbar von nicht geringerem Belange, daß die Vernunft
augenscheinlich beweist, daß die von Christus eingesetzte Kirche (wie
die Kirchenversammlung vom Vatikan festsetzte) wegen ihrer wunderbaren
Ausbreitung, hervorragenden Heiligkeit und unerschöpflichen
Fruchtbarkeit, die sie allenthalben entfaltet, wegen der katholischen
Einheit und unüberwindlichen Festigkeit ein großer und fortdauernder
Beweggrund der Glaubwürdigkeit ist, und ein unwidersprechliches Zeugnis
ihrer göttlichen Sendung.[18]
6 Sind in solcher Weise die höchst sichern Fundamente gelegt, so findet
immer noch fortwährend und vielfach die Philosophie ihre Anwendung,
damit die heilige Theologie das Wesen, den Charakter und Geist einer
wahren Wissenschaft aufnehme und an sich trage. Denn in dieser
alleredelsten Wissenschaft ist es sehr notwendig, daß die vielen
verschiedenen Teile der himmlischen Lehren zu einem organischen Ganzen
verbunden, alle nach richtigen Gesichtspunkten gegliedert, aus den
ihnen zuständigen Prinzipien abgeleitet werden und in entsprechender
Weise unter sich zusammenhängen; endlich hat die Theologie für jeden
einzelnen Teil die ihm eigentümlichen die unwiderlegbaren Beweise zu
erbringen. Auch darf sie nicht jene genauere und reichere Erkenntnis
der Offenbarungswahrheiten und ein, so viel dies möglich ist, noch
tieferes Verständnis selbst der Geheimnisse des Glaubens
vernachlässigen oder geringschätzen, welches Augustinus und die anderen
Väter gelobt und zu gewinnen bestrebt waren, und das auch die
Kirchenversammlung vom Vatikan[19] als sehr fruchtbringend erklärt hat.
Diese Erkenntnis und Einsicht erlangen aber sicherlich vollständiger
und leichter jene, welche mit der Reinheit des Lebens und dem Eifer im
Glauben einem durch die philosophischen Studien ausgebildeten Geist
verbinden, zumal da dieselbe Kirchenversammlung vom Vatikan lehrt, man
müsse ein solches Verständnis der heiligen Lehren sowohl der Analogie
mit dem, was auf natürlichem Wege erkannt wird, als dem Zusammenhange
der Geheimnisse selbst unter sich und mit dem letzten Ziel des Menschen
entnehmen[20].
7 Auch das endlich ist die Aufgabe der philosophischen Wissenschaften,
die von Gott geoffenbarten Wahrheiten sorgfältig zu verteidigen und
denen, welche sie zu bekämpfen wagen, entgegenzutreten. Zu dieser
Beziehung verdient die Philosophie großes Lob, da sie als eine
Schutzwehr des Glaubens und ein festes Bollwerk der Religion gilt. Es
ist zwar, wie Clemens von Alexandrien bemerkt, die Lehre des Erlösers
vollkommen in sich und bedarf nichts weiter, da sie Gottes Kraft uns
Weisheit ist. Daher macht der Hinzutritt der griechischen Philosophie
die Wahrheit nicht stärker; da sie aber die Gegenbeweise der Sophisten
entkräftet und die hinterlistigen Anschläge gegen die Wahrheit abweist,
wurde sie ein passender Zaun und eine Mauer des Weinberges genannt[21].
In der Tat, wie die Feinde des katholischen Namens, um die Religion zu
bekämpfen, ihre Waffen gemeinhin der Philosophie entlehnen, so schöpfen
die Verteidiger der göttlichen Wissenschaften vielfach aus dem Gebiete
der Philosophie dasjenige, womit sie die geoffenbarten Lehren
nachdrücklich verteidigen. Und es ist dies als kein geringer Triumph
des christlichen Glaubens zu erachten, daß die menschliche Vernunft
selbst wirksam und leicht die Angriffe der Gegner, die sich auf
Scheingründe der Vernunft stützen, zurückweist. Auf diese Art des
religiösen Kampfes, deren der Heidenapostel selbst sich bediente, weist
der heilige Hieronymus hin, indem er an Magnus schreibt: Der Führer des
Christenheeres und unbesiegbare Prediger Paulus benutzte in seinem
Streite für die Sache Christi sogar eine zufällig sich findende
Inschrift zum Beweise des Glaubens; denn er hatte von dem, der in
Wahrheit ein David war, gelernt, das Schwert den Händen des Feindes zu
entreißen und das Haupt des übermütigen Goliath mit dessen eigener
Waffe abzuhauen[22]. Und die Kirche selbst rät nicht bloß, sondern
befiehlt sogar, daß die christlichen Lehrer der Philosophie zur
Verteidigung des Glaubens zu Hilfe rufen sollen. Denn nachdem die
fünfte Kirchenversammlung vom Lateran erklärt hatte, daß jede dem
erleuchteten Glauben widersprechende Aufstellung durchaus falsch sei,
weil das Wahre dem Wahren keineswegs widerspreche[23], gebietet sie den
Lehrern der Philosophie, sich mit Eifer mit der Lösung von täuschenden
Einwendungen zu beschäftigen, da, wie Augustinus bezeugt, jeder Grund,
welcher gegen die Autorität der heiligen Schriften vorgebracht wird,
wenn er auch noch so spitzfindig sein sollte, durch Wahrscheinlichkeit
täuscht; denn wahr kann er nicht sein[24].
8 Damit aber die Philosophie im Stande sei, diese kostbaren Früchte,
die Wir erwähnten, hervorzubringen, ist durchaus notwendig, daß sie
niemals von der Bahn abweicht, welche das ehrwürdige Altertum [der
Väter] gegangen ist. Und die Kirchenversammlung vom Vatikan feierlich
durch ihre Autorität gutgeheißen hat. Denn da es keinem Zweifel
unterliegt, daß die übernatürliche Ordnung sehr viele Wahrheiten
enthält, welche weit hinausragen über die Fassungskraft jedweder
Intelligenz, so darf die menschliche Vernunft im Bewusstsein ihrer
Schwäche es nicht wagen, sich über ihre Schranken zu erheben, noch
diese Wahrheiten zu leugnen, noch sie mit ihrem eigenem Maße zu messen,
noch nach Willkür zu erklären; vielmehr soll sie dieselben mit vollem
du demütigem Glauben annehmen, und es sich zur höchsten Ehre rechnen,
daß sie gleich einer Dienerin den himmlischen Lehren nachfolgen, ihnen
ihre Dienste leisten und von ihnen durch Gottes Gnade einigermaßen ein
Verständnis gewinnen darf. Bezüglich jener Lehrpunkte dagegen, welche
die menschliche Intelligenz auf natürlichem Wege erkennen kann, hat,
wie ganz billig, die Philosophie ihrer Methode, ihrer Prinzipien und
Beweise zu bedienen, doch nicht derart, daß es den Anschein gewinnt,
als wolle sie keck der göttlichen Autorität sich entziehen. Da es
vielmehr feststeht, daß das, was die Offenbarung lehrt, höchst gewiß,
und was ihr entgegengesetzt ist, auch der gesunden Vernunft
widerstreitet, so soll der katholische Philosoph der Überzeugung sein,
daß er die Rechte des Glaubens und der Vernunft zugleich verletzt, wenn
er einen Satz annimmt, von dem er weiß, da er der Offenbarung
widerspricht.
9 Wir wissen wohl, daß manche die Fähigkeiten der menschlichen Natur
über Gebühr erheben und behaupten, durch die Unterwerfung unter die
göttliche Autorität verliere sie ihre ursprüngliche Würde und werde
gewissermaßen unter da Joch der Knechtschaft gebeugt und so in ihrem
Aufschwunge zur höchsten Wahrheit und Vollkommenheit vielfach
zurückgehalten und gehemmt. Doch das ist alles Irrtum und Täuschung und
zielt nur dahin, daß die Menschen in höchst törichter Weise, und nicht
ohne des Verbrechens der Undankbarkeit sich schuldig zu machen, die
höheren Wahrheiten verwerfen und die göttliche Wohltat des Glaubens
freiwillig von sich weisen, aus dem doch alle Güter, auch für die
bürgerliche Gesellschaft, hervorgegangen sind. Denn da der menschliche
Geist in gewisse und dazu recht enge Grenzen eingeschränkt ist, ist er
verschiedenen Irrtümern ausgesetzt und in Bezug auf viele Dinge
unwissend. Der christliche Glaube dagegen ist der zuverlässigste Lehrer
der Wahrheit, da er auf der Autorität Gottes ruht; wer ihm daher folgt,
wird weder von Irrtümern umstrickt noch von den Wogen ungewisser
Meinungen hin- und hergeworfen. Jenen philosophieren daher am besten,
welche das Studium der Philosophie mit der Hingabe an den christlichen
Glauben verbinden, indem der Glanz der göttlichen Wahrheiten, welcher
die Seele durchdringt, auch die Intelligenz selbst erhebt, und sie in
ihrer Würde nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern dieselbe vielmehr
in hohem Grade adelt, schärft und kräftigt. In würdiger und nützlicher
Weise machen sie aber von ihrer Vernunft Gebrauch, wenn sie zur
Widerlegung von Sätzen , die dem Glauben widerstreiten, und zur
Begründung jener, die mit dem Glauben im Einklange stehen, den
Scharfsinn ihres Geistes aufbieten; bezüglich jener decken sie die
Ursachen des Irrtums auf und legen die Fehler in der Beweisführung dar,
auf welche sie sich stützen; bezüglich dieser aber erfassen sie die
Beweise, welche sie gründlich erhärten und einen jeden Vernünftigen
überzeugen. Wer aber leugnet, daß durch solche Bestrebungen und
Tätigkeit die Kräfte des Geistes sich stärken und entwickeln, der muß
törichterweise behaupten, daß der Unterschied zwischen Wahr und Falsch
für die geistige Ausbildung keine Bedeutung habe. Mit Recht weist darum
die Kirchenversammlung vom Vatikan mit diesen Worten auf die herrlichen
Wohltaten hin, welche durch den Glauben der Vernunft zu Teil werden:
Der Glaube befreit die Vernunft von Irrtümern und bewahrt sie vor ihnen
und bereichert sie mit mannigfaltigen Kenntnissen[25]. Der Einsichtige
wird darum den Glauben nicht tadeln, als sei er ein Feind der Vernunft
und der natürlichen Wahrheiten, sondern muß vielmehr Gott deswegen Dank
sagen, und sich hoch erfreuen, daß bei den vielen Ursachen zur
Unwissenheit und mitten unter den Wogen der Irrtümer ihm der
hochheilige Glaube leuchtet, der wie ein freundliches Gestirn ohne jede
Furcht vor Verirrungen auf den Hafen der Wahrheit hinweist.
10 Wenn Ihr daher, Ehrwürdige Brüder, auf die Geschichte der
Philosophie zurückblicket, werdet Ihr alles, was Wir eben gesagt haben,
in der Tat bestätigt finden. Wahrhaftig, auch jene unter den alten
Philosophen, welche für die weisesten gehalten wurden, aber die Wohltat
des Glaubens nicht genossen, fielen in verschiedene, höchst schmähliche
Irrtümer. Denn neben einigem Wahren haben sie, wie Ihr wisst, so oft
Falsches und Widersinniges, so viel Ungewisses und Zweifelhaftes
gelehrt über das wahre Wesen Gottes, den ersten Ursprung der Dinge, die
Regierung der Welt, die göttliche Vorsehung, die Ursache und den Grund
des Bösen, das letzte Ziel des Menschen und seine ewige Seligkeit, in
Bezug auf Tugend und Laster und anderes, was in Wahrheit und mit
Gewissheit zu erkennen dem menschlichen Geschlechte mehr als alles
andere notwendig ist. Dagegen haben die ersten Väter und Lehrer es
unternommen, die Schriften der alten Weisen zu durchforschen und ihre
Meinungen mit den Lehren der Offenbarung zu vergleichen, indem sie wohl
eingesehen hatten, daß Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit[26],
in dem alle Schätze der Weisheit und Wissenschaft verborgen sind[27],
nach dem Plane der göttlichen Vorsehung auch die Wissenschaft erlöst
hat; und was sie an wahren Aussprüchen und weisen Gedanken in ihnen
fanden, das wählten sie sorgfältig aus und nahmen es mit Verbesserung
oder Verwerfung alles übrigen an. Denn wie Gott in seiner höchst weisen
Vorsehung zur Verteidigung der Kirche die todesmutigen Martyrer, die
freudig ihr Leben dahingaben, der Wut der Tyrannen gegenüber erweckte,
so stellte er den falschen Philosophen oder Häretikern durch Weisheit
hervorragende Männer entgegen, welche den Schatz der geoffenbarten
Wahrheiten auch durch die Waffen der menschlichen Vernunft
verteidigten. So standen gleich bei Gründung der Kirche höchst
erbitterte Gegner des katholischen Glaubens auf, welche, die
christlichen Lehren und Einrichtungen verspottend, mehrere Götter
annahmen, einen Anfang und Urheber der Materie leugneten und
behaupteten, dieser Weltlauf sei durch eine blinde und unabänderliche
Notwendigkeit bestimmt, und werde nicht nach dem Plan der göttlichen
Vorsehung geregelt.
11 Mit diesen Lehrern einer wahnsinnigen Meinung nun nahmen alsbald
weise Männer den Kampf auf, die wir Apologeten nennen, welche unter der
Leitung des Glaubens auch der menschlichen Weisheit die Beweisgründe
entlehnten, durch welche sie die Notwendigkeit eines einzigen
vollkommenen Gottes begründeten, sowie die Schöpfung aller Dinge aus
dem Nichts durch dessen allmächtige Kraft, die dann durch seine
Weisheit bestehen und sämtlich zu den ihnen bestimmten Zielen
hingelenkt und bewegt werden. Unter diesen nimmt der heilige Martyrer
Justinus die erste Stelle in, der die berühmtesten griechischen
Akademien, gleichsam um sie zu prüfen, durchwandert und eingesehen
hatte, daß, wie er selbst gesteht, nur die geoffenbarte Lehre den Durst
nach Wahrheit vollständig stillt, der dann mit ganzer Glut seiner Seele
sich ihr hingab und sie den Verleumdungen gegenüber rechtfertigte, vor
den römischen Kaisern nachdrücklich und mit Gelehrsamkeit verteidigte
und die Übereinstimmung nicht weniger Aussprüche der griechischen
Philosophen mit ihr nachwies.
12 Dasselbe leisteten in vortrefflicher Weise zu derselben Zeit
Quadratus und Aristides, Hermias und Athenagoras. Auch Irenäus, der
standhafte Martyrer und Bischof der Kirche von Lyon, erwarb sich auf
demselben Gebiete keinen geringern Ruhm, indem er die verkehrten
Meinungen der Orientalen, welche die Gnostiker über das gesamte
römische Reich verbreitet hatten, mit aller Kraft widerlegte und den
verschiedenen Ursprung der einzelnen Häresien (wie Hieronymus bezeugt)
sowie ihre Quellen in den Lehren der Philosophie, aus denen sie
geflossen ... darlegte[28]. Allbekannt sind aber die Abhandlungen des
Clemens von Alexandrien, welche derselbe Hieronymus also ehrenvoll
erwähnt: Was ist in ihnen ohne Gelehrsamkeit? Vielmehr was ist nicht
tief philosophisch?[29] Hat er doch mit unglaublicher Mannigfaltigkeit
geschrieben, was für die Herstellung der Geschichte der Philosophie,
für die richtige Anwendung der Dialektik, für das einträchtige
Zusammengehen von Glaube und Vernunft von höchstem Nutzen ist.
Origines, der auf ich folgte, ausgezeichnet als Lehrer der
Alexandrinischen Schule, sehr erfahren in den Lehren der Griechen und
Orientalen, veröffentlichte sehr viele und mühevolle Werke, die
wunderbar geeignet sind zur Erklärung der Heiligen Schrift und
Beleuchtung der christlichen Dogmen; wenn sie gleich, wenigstens wie
sie gegenwärtig vorliegen, nicht völlig irrtumslos sind, so enthalten
sie dennoch einen Reichtum von Ideen, welche die Anzahl und Gewissheit
der natürlichen Wahrheiten erhöhen. Tertullian kämpft gegen die
Häretiker mit der Autorität der Heiligen Schrift; mit den Philosophen,
indem er die Art der Waffen wechselst, auf philosophischem Wege; diese
aber widerlegt er so scharfsinnig und gelehrt, daß er ihnen öffentlich
und mit Zuversicht den Vorwurf macht: Weder in der Wissenschaft noch in
den Sitten, wie ihr wähnt, kommt ihr uns gleich[30]. Auch Arnorbius,
durch seine Herausgabe der Bücher gegen die Heiden, und Lactantius,
besonders durch seine Unterweisungen, suchten eben so beredt als
gründlich von den Lehren und Vorschriften der katholischen Weisheit
ihre Leser zu überzeugen, nicht indem sie, wie die Akademiker pflegten,
durch Verachtung der Philosophie[31], sondern teils durch deren eigene
Waffen, teils durch jene, welche die Streitigkeiten der Philosophen
unter sich ihnen darboten, sie gewannen[32]. Was aber die menschliche
Seele, die göttlichen Eigenschaften und andere höchst wichtige Fragen
der große Athanasius und Chrysostomus, der Fürst der Redner, in ihren
Schriften hinterlassen haben, ist nach dem Urteile aller so
hervorragend, daß sich, wie es scheint, in Hinsicht und Scharfsinn und
Fülle nichts hinzuzufügen läßt. Und um in Aufzählung der einzelnen
nicht zu weitläufig zu werden, nennen wir unter der Zahl der
großen Männer, deren wir bereits Erwähnung getan, den großen Basilius
und die beiden Gregorius, welche von Athen, der Heimat aller Bildung,
in dem Gesamtgebiete der Philosophie wohl unterrichtet, ausgingen und
ihr reiches Wissen, das sie in eifrigem Studium sich erworben hatten,
zur Widerlegung der Häretiker und zum Unterrichte der Christen
verwandten.
13 Allen aber scheint Augustinus gewissermaßen die Palme entrissen zu
haben, der mächtigen Geistes und voll tiefer Gelehrsamkeit in den
heiligen wie profanen Wissenschaften gegen alle Irrtümer seiner Zeit
mit höchster Glaubenskraft und ebenso großem Wissen tapfer gestritten
hat. Welche philosophische Frage hat er nicht berührt? Oder vielmehr,
worüber hat er nicht sorgfältige Untersuchung angestellt, mochte er die
tiefsten Geheimnisse des Glaubens sowohl den Gläubigen
auseinandersetzen als auch gegen die törichten Angriffe der Gegner
verteidigen oder nach Vernichtung der Hirngespinste der Akademiker und
Manichäer die Grundlagen und Gewissheit der menschlichen Erkenntnis
sicherstellen, oder Wesen, Ursprung und Ursache der Übel, welche auf
dem Menschen lasten, untersuchen? Wie viele äußerst scharfsinnige
Untersuchungen hat er angestellt über die Engel, die Seele, den
menschlichen Geist, Wille und Freiheit, Religion und Seligkeit, Zeit
und Ewigkeit, über das Wesen der wandelbaren Körper selbst! Nachher
haben im Orient Johannes Damascenus, den Fußstapfen des Basilius und
Gregors von Nazianz folgend, im Occident dagegen Boethius und Anselmus,
auf Grund der Lehren des heiligen Augustinus, das Gebiet der
Philosophie vielfach bereichert.
14 Hierauf haben die Lehrer des Mittelalters, welche Scholastiker
genannt werden, ein großes Unternehmen begonnen, nämlich die reiche und
fruchtbare wissenschaftliche Ernte, welche in den ausgedehnten Werken
der heiligen Väter sich zerstreut findet, sorgfältig zusammenstellen
und zum Nutzen und Gebrauch der Nachwelt gleichsam an einem Orte
niederzulegen. Ursprung, Wesen und Vorzug der Scholastik aber mögen
hier, Ehrwürdige Brüder, die Worte Unseres höchst weisen Vorgängers
Sixtus´ V. eingehender dartun: „Durch die Gnade dessen, welcher allein
den Geist der Wissenschaft, der Weisheit und des Verstandes verleiht,
und seiner Kirche im Laufe der Jahrhunderte nach Bedürfnis und
Wohltaten spendet, neue Waffen bereitet, haben unsere höchst weisen
Voreltern die scholastische Theologie ausgebildet, welche besonders
zwei ruhmvolle Lehrer, er englische heilige Thomas und der seraphische
heilige Bonaventura, die berühmtesten Meister dieser Wissenschaft ...
durch ihre ausgezeichnete Geisteskraft, ihr unermüdliches Studium,
viele Mühen und Nachtwachen bearbeitet und vervollkommnet, in bester
Weise gegliedert und mit reichen und vortrefflichen Erklärungen
versehen, der Nachwelt überliefert haben.
15 Die Kenntnis nun und Übung in dieser so heilbringenden Wissenschaft,
welche ihre reichen Quellen in der Heiligen Schrift, den Bestimmungen
der Päpste, sowie den Lehren und Entscheidungen der heiligen Väter und
Kirchenversammlungen hat, konnte gewiß zu jeder Zeit der Kirche von
Nutzen sein, teils zum richtigen und gesunden Schriftverständnis und
deren Auslegung, teils um die Väter mit mehr Sicherheit und Nutzen zu
lesen und zu erklären, teils um die verschiedenen Irrtümer und Häresien
aufzudecken und zu widerlegen; in diesen jüngsten Tagen aber, da
bereits jene gefährlichen Zeiten gekommen sind, die der Apostel
beschreibt, und die stolzen Gotteslästerer und Verführer zum Verderben
zunehmen, selbst im Irrtum und zum Irrtum verleitend, ist sie
wahrhaftig äußerst notwendig, um die katholischen Lehrsätze zu erhärten
und die Häresien zu widerlegen.“[33]
16 Wiewohl diese Worte sich nur auf die scholastische Theologie zu
beziehen scheinen, so ist doch klar, daß sie auch von der Philosophie
und ihrem Lobe gelten. Denn die herrlichen Eigenschaften, wodurch die
scholastische Theologie den Feinden der Wahrheit so furchtbar wird,
nämlich, wie derselbe Papst hinzusetzt, „jener richtige und innige
Zusammenhang der Gegenstände und Fragen unter sich, jene einer
aufgestellten Schlachtreihe ähnliche wohlgeordnete Gliederung, jene
durchsichtigen Begriffsbestimmungen und Unterscheidungen, jene Kraft in
den Beweisen und äußerst scharfsinnige Entwicklungen, durch welche das
Licht von der Finsternis, das Wahre vom Falschen unterschieden, die
Lügen der Häretiker, die viele Kunstgriffe und gewundene Redensarten
gebrauchen, in ihrer Blöße aufgedeckt und enthüllt werden“[34]; alle
diesen herrlichen und wunderbaren Eigenschaften, sagen wir, gehen
einzig aus dem richtigen Gebrauche jener Philosophie hervor, deren die
Lehrer der Scholastik mit Fleiß und reifer Überlegung auch bei
theologischen Untersuchungen vielfach zu bedienen pflegten. Da außerdem
dies den scholastischen Theologen in ganz besonderer Weise zukommt, daß
sie zwischen der menschlichen und göttlichen Wissenschaft den innigsten
Bund schlossen, so hätte gewiß die Theologie, in welcher jene sich
auszeichneten, nicht so viel Ehre und Ruhm in der öffentlichen Meinung
erlangt, wenn sie eine mangelhafte oder unvollkommene oder nur
oberflächliche Philosophie angewendet hätten.
17 Unter den Lehrern der Scholastik ragt aber nun weit hervor der Fürst
und Meister aller, Thomas von Aquin, der, wie Cajetanus bemerkt, weil
er die alten heiligen Lehrer aufs höchste verehrte, darum gewissermaßen
dem Geist aller besaß[35]. Ihre Lehren sammelte und fasste Thomas, wie
die zerstreuten Glieder eines Körpers, in Eins zusammen, teilte sie
nach einer wunderbaren Ordnung ein und vervollkommnete sie vielfache
derart, daß er mit vollem Recht als ein ganz besonderer Hort und
Schmuck der katholischen Kirche gilt. Ausgerüstet mit einem gelehrigen
und scharfsinnigem Geiste, einem leicht fassenden und treuen
Gedächtnisse, von höchst reinen Sitten, einzig die Wahrheit
liebend, an göttlicher und menschlicher Wissenschaft überreich, hat er
der Sonne gleich den Erdkreis durch die Glut seiner Tugenden erwärmt
und mit dem Glanz seiner Lehre erfüllt. Es gibt kein Gebiet der
Philosophie, das er nicht scharfsinnig und zugleich gediegen behandelt
hätte; seine Untersuchungen über die Gesetze des Denkens, über Gott un
die unkörperlichen Substanzen, über den Menschen und die übrigen
sinnlichen Dinge, über die menschlichen Handlungen und ihre Prinzipien
sind derart, daß in ihnen sowohl eine Fülle von Stoff, als passende
Anordnung der Teile, die zweckmäßigste Methode, Sicherheit der
Grundsätze und Kraft der Beweise, Klarheit und Genauigkeit im Ausdrucke
wie nicht minder eine Leichtigkeit sich findet, ach das Dunkelste
aufzuhellen.
18 Hierzu kommt, daß der englische Lehrer die philosophischen
Schlussfolgerungen aus den Ideen und Prinzipien der Dinge ableitete,
welche von der weittragendsten Bedeutung sind und eine Saat fast
unendlich vieler Wahrheiten gewissermaßen in ihrem Schoße bergen,
welche die nachkommenden Lehrer zur gelegenen Zeit und in
fruchtbringendster Weise entfalten sollten. Da er diese Methode zu
philosophieren auch bei Widerlegung der Irrtümer der Vorzeit anwandte,
so ist es ihm gelungen, daß er allein alle Irrtümer der Vorzeit
überwand und zur Widerlegung jener, welche in beständigem Wechsel in
Zukunft auftreten, unbesiegbare Waffen dargeboten hat. Indem er
außerdem genau, wie es ich gebührt, zwischen Vernunft und Glaube
unterschied, beide aber in einem Freundesbunde einte, hat er sowohl die
Rechte beider gewährt, al für beider Würde Sorge getragen, so zwar, daß
die Vernunft, auf den Flügeln des heiligen Thomas zu ihrer höchsten
menschlichen Vollendung emporgetragen, nun kaum mehr höher zu steigen
vermag, noch der Glaube von der Vernunft kaum weitere oder triftigere
Beweise fordern kann, als er schon durch Thomas erlangt hat.
19 Aus diesen Ursachen haben die gelehrtesten Männer, besonders in der
Vorzeit, die in Theologie und Philosophie rühmlich hervorragen, mit
unglaublichem Eifer die unsterblichen Werke des heiligen Thomas
gesammelt und von seiner englischen Weisheit sich nicht so fast
unterrichten, als vielmehr vollständig durchdringen lassen. Wie
bekannt, haben fast alle Gründer und Gesetzgeber der religiösen Orden
ihren Mitgliedern geboten, die Lehren des heiligen Thomas zu studieren
und gewissenhaft festzuhalten unter dem strengen Verbote für jeden,
auch nur im geringsten von den Fußstapfen dieses großen Mannes
abzuwenden. Um den Orden der Dominicaner zu übergeben, die dieses
hervorragenden Meisters mit Recht als des Ihrigen sich rühmen, sind die
Benedictiner, Carmeliter, Augustiner, die Gesellschaft Jesu und sehr
viele andere Orden, wie die Statuten der einzelnen ausweisen, durch das
gleiche Gesetz verpflichtet.
20 Da gedenkt denn unser Geist mit großer Freude jener so berühmten
Akademien und Schulen, welche ehedem in Europa blühten, jener von Paris
nämlich, Salamanca, Alcala, Douay, Toulouse, Löwen, Padua, Bologna,
Neapel, Coimbra und vieler anderer. Daß der Ruf dieser Akademien mit
der Zeit gewissermaßen nur noch gewachsen ist, und ihre Gutachten,
welche man in schwierigen Fragen einholte, überallhin ein sehr großes
Ansehen genossen, ist jedermann bekannt. Es ist aber außer allem
Zweifel, daß Thomas an jenen großen Stätten der menschlichen Weisheit
gleichsam wie in seinem reiche thronte, und die Gemüter aller, sowohl
der Lehrer wie der Schüler, mit wunderbarer Übereinstimmung auf der
Lehre und Autorität des Einen englischen Lehrers ruhten.
21 Doch, was noch mehr ist, die Römischen Päpste, Unsere Vorfahren,
haben die Weisheit des heiligen Thomas von Aquin durch ausgezeichnet
Lobsprüche und glänzende Zeugnisse geehrt. Denn Clemens VI.[36],
Nicolaus V.[37], Benedict XIII.[38] u. a. bezeugen, durch seine
wunderbare Lehre werde die ganze Kirche erleuchtet; der heilige Pius
V.[39] aber gesteht, durch eben diese Lehren würden alle Häresien zu
Schanden gemacht, widerlegt und vernichtet und die ganze Erde mit jedem
Tage von verderblichen Irrtümern befreit; andere, wie Clemens XII.[40],
bekennen, seine Schriften hätten für die Gesamtkirche die reichsten
Früchte getragen, und ihm sei gleiche Ehre zu erweisen, wie sie den
größten Kirchenlehrern , einem heiligen Gregorius des Großen,
Ambrosius, Augustinus und Hieronymus, gezollt wird. Andere endlich
nahmen keinen Anstand, ihn den Akademien und großen Lyceen als Vorbild
und Meister vorzustellen, dem sie sichern Schrittes folgen könnten. In
dieser Beziehung scheinen besonderer Erwähnung wert die Worte des
seligen Papstes Urbanus V. an die Akademie von Toulouse: Wir wollen und
gebieten euch durch Gegenwärtiges, daß ihr der Lehre des heiligen
Thomas als einer wahrhaften und katholischen folgt und euch mit allen
Kräften bemüht, dieselbe zu fördern[41]. Dem Beispiele Urbanus folgten
Innocentius XII.[42] bezüglich der Universität Löwen und Benedict
XIV.[43] gegenüber dem Collegium des heiligen Dionysius zu Granada.
Diesen Urteilen der größten Päpste über Thomas von Aquin möge aber das
Zeugnis Innocentius´ VI. gleichsam die Krone aufsetzen: Diese (des
heiligen Thomas) Lehre zeichnet sich aus vor allen andern, jenen der
canonischen Bücher ausgenommen, durch Richtigkeit des Ausdrucks,
Maßhaltung in der Darstellung, Wahrheit der Lehrsätze, so daß, die
ihnen folgten, niemals auf einem Irrwege betroffen wurden, und wer sie
angriff, immer im Verdacht des Irrtums stand[44].
22 Und selbst die allgemeinen Kirchenversammlungen, auf denen die
auserlesenen Geister aller Weltteile durch Weisheit hervorragen, ließen
es sich immer angelegen sein, den heiligen Thomas in besonderen Ehren
zu halten. Man kann sagen, daß in den Kirchenversammlungen von Lyon,
Vienne, Florenz, Vatikan der heilige Thomas zugegen war und nahezu
ihnen vorstanden und die Irrtümer der Griechen, Häretiker und
Rationalisten mit unwiderstehlicher Kraft und dem glücklichsten Erfolge
bekämpfte. Aber ein höchstes und ihm ganz eigentümliches Lob, das kein
anderer katholischer Theologe mit ihm teilt, ist ihm dadurch geworden,
daß die Väter auf der Kirchenversammlung zu Trient mitten im
Versammlungssaale selbst zugleich mit den Büchern der Heiligen Schrift
und den Bestimmungen der Päpste die Summe des heiligen Thomas auf dem
Altare aufzulegen geboten, um aus ihr Rat, Beweisgründe und Aufschlüsse
zu schöpfen.
23 Auch die Ruhmespalme endlich schien dem unvergleichlichen
Manne vorbehalten zu sein, daß selbst die Feinde des katholischen
Namens ihm unfreiwillig ihre Huldigungen, Lobpreisungen und Bewunderung
zollten. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, daß unter den Führern
der häretischen Sekten es einige gab, welche öffentlich bekannten, sie
würden, wäre nur einmal die Lehre des heiligen Thomas von der Welt
verschwunden, mit allen katholischen Lehrern leicht den Kampf beginnen,
siegen und die Kirche stürzen[45] können. – Eine nichtige Hoffnung
zwar, aber kein nichtiges Zeugnis.
24 Im Hinblick auf diese Verhältnisse und Gründe, Ehrwürdige Brüder, so
ost wir die Trefflichkeit, Kraft und den vorzüglichen Nutzen jener
philosophischen Wissenschaft erwägen, welche unsere Altvordern liebten,
halten Wir es für ein unbesonnenes Verfahren, daß ihr die gebührende
Ehre nicht immer noch überall gewahrt blieb, zumal da es allgemein
feststand, daß sowohl die beständige Gewohnheit als das Urteil der
bedeutendsten Männer, als auch, was die Hauptsache ist, die Gutheißung
der Kirche für die scholastische Philosophie sprachen. Und an die
Stelle der alten Schule trat hie und da eine neue Methode zu
philosophieren, die jedoch nicht die erwünschten und heilsamen Früchte
trug, welche die Kirche und selbst die bürgerliche Gesellschaft gern
gesehen hätten. Infolge der Bestrebungen der Neuerer des sechzehnten
Jahrhunderts liebte man es zu philosophieren ohne jede Rücksicht auf
den Glauben, indem man sich die Freiheit wechselseitig herausnahm und
gewährte, alles Beliebige nach Willkür und Gutdünken vorzubringen. Als
nächste Folge hiervon ergab sich eine ungesunde Vervielfältigung der
philosophischen Systeme mit verschiedenen und sich widersprechenden
Anschauungen auch bezüglich der Gegenstände, welche für die menschliche
Erkenntnis die wichtigsten sind. Diese Menge von Ansichten führte sehr
häufig zur Ungewissheit und zu Zweifeln; wie leicht aber der
menschliche Geist vom Zweifel in den Irrtum sinkt, sieht jedermann ein.
Diese Sucht nach Neuerung scheint, da ein Nachahmungstrieb in der
menschlichen Natur liegt, mancherorts auch den Geist katholischer
Philosophen angesteckt zu haben, da sie mit Hintansetzung des Erbgutes
der alten Weisheit es vorzogen, lieber Neues auszudenken, als das Alte
fortzubilden und zu vervollkommnen, was gewiß kein weiser Gedanke war,
noch ohne Schaden für die Wissenschaften. Denn diese mannigfaltigen
philosophischen Systeme haben ein wankendes Fundament, da sie auf
dem Ansehen und Gutdünken der einzelnen Lehrer beruhen, und schaffen
eben deswegen keine feste, dauernde und starke, sondern nur eine
wankende und oberflächliche Philosophie. Wenn sie daher kaum den
Angriffen der Feinde gewachsen ist, so hat sie hierfür sich selbst die
Ursache und Schuld zuzuschreiben. Was Wir hier sprechen, soll gewiß
jenen gelehrten und eifrigen Männern nicht zum Tadel gereichen, die
ihren Forscherfleiß und ihre Gelehrsamkeit und die Errungenschaften,
welche die neuen Erfindungen bieten, zum Ausbau der Philosophie
verwenden; denn dies gehört, wie Wir wohl wissen, zum Fortschritt der
Wissenschaft. Aber wohl möge man sich hüten, daß auf den Fleiß und jene
Gelehrsamkeit nicht die ganze oder auch nur die wichtigste
Geistesarbeit sich beschränkt. Dasselbe gilt von der heiligen
Theologie, welche durch die Hilfe mannigfacher Gelehrsamkeit gefördert
und beleuchtet werden soll; durchaus aber ist es notwendig, sie in der
ernsten, gründlichen Weise der Scholastiker zu behandeln, damit sie die
Kraft der Offenbarung mit jener der Vernunft verbinde und so fortfahre,
ein unbesiegbares Bollwerk des Glaubens[46] zu sein.
25 Es war daher ein sehr guter Gedanke, daß nicht wenige unter denen,
welche die philosophischen Wissenschaften pflegen und in jüngster Zeit
auf eine zweckmäßige Erneuerung der Philosophie bedacht waren, dahin
strebten und streben, die herrliche Lehre des heiligen Thomas von Aquin
wieder in Aufnahme zu bringen und ihr den frühern Ruhm wieder zu
verschaffen.
26 Daß mehrere Eurer Amtsgenossen, Ehrwürdige Brüder, in gleicher
Gesinnung denselben Weg betraten, haben Wir zur großen Freude Unseres
Herzens erfahren. Diesen spenden Wir sehr großes Lob und mahnen sie
zugleich, in dem begonnenen Werke auszuharren; alle übrigen aber aus
Euch erinnern Wir, daß Uns nichts so erwünscht ist und so sehr am
Herzen liegt, als daß Ihr alle aus dem reinsten Weisheitsstrome,
welcher von dem englischen Lehrer gleich einem fließenden reichen Quell
ausgeht, der studierenden Jugend in vollem und freigebigsten Maße
mitteilt.
27 Es sind aber mehrere Ursachen, warum wir dieses angelegentlichst
wünschen. Und zwar erstens, da an in dieser unserer Zeit den
christlichen Glauben durch die Kunstgriffe und Arglist einer
trügerischen Weisheit zu bekämpfen pflegt, so müssen alle Jünglinge,
namentlich aber jene, welche zur Hoffnung der Kirche heranwachsen, zu
dem Zwecke mit der Speise einer kräftigen und gesunden Lehre genährt
werden, damit sie, rüstig an Geist und mit Waffen aller Art reichlich
versehen, frühzeitig sich gewöhnen, mit Nachdruck uns Weisheit die
Sache der Religion zu vertreten, immer bereit, wie der Apostel mahnt,
zur Verantwortung gegen jeden, der von uns Rechenschaft fordert über
unsere Hoffnung[47] und in der gesunden Lehre zu unterrichten und die
Widersprecher zu widerlegen[48]. Sodann behaupten viele von denen,
deren Gemüter dem Glauben entfremdet sind und die darum die
Einrichtungen der katholischen Kirche hassen, daß sie bloß der Leitung
und Führung der Vernunft folgen. Um diese nun von ihrem Irrtum zu
heilen und mit dem katholischen Glauben zu versöhnen, ist nach unserem
Dafürhalten außer dem übernatürlichen Beistande Gottes nicht so sehr
geeignet als die gründliche Lehre der Väter und Scholastiker, welche
die unerschütterlichen Fundamente des Glaubens, dessen göttlichen
Ursprung, seine gewisse Wahrheit, die Gründe, welche denselben
erhärten, die Wohltaten, die durch ihn dem menschlichen Geschlechte zu
Teil geworden, dessen vollständige Übereinstimmung mit der Vernunft so
augenscheinlich und nachdrücklich dartun, daß nichts zu wünschen übrig
bleibt, um selbst die noch so sehr widerstrebenden und dagegen
ankämpfenden Geister zu bewegen.
28 Auch die häusliche und selbst die bürgerliche Gesellschaft, welche,
wie wir alle wohl einsehen, durch das Gift verderblicher Meinungen in
höchster Gefahr schwebt, würde ohne Zweifel viel mehr Ruhe und
Sicherheit gewinnen, wenn auf den Akademien und in den Schulen eine
gesündere und dem kirchlichen Glauben mehr entsprechende Lehre
vorgetragen würde, wie sie die Werke des heiligen Thomas von Aquin
enthalten.
29 Denn was der heilige Thomas über die wahre Natur der Freiheit,
welche in unseren Tagen in Zügellosigkeit ausgeartet ist, über den
göttlichen Ursprung jedweder Autorität, über die Gesetze und ihre
Kraft, über die väterliche und heilige und billige Gewalt der höchsten
Obrigkeit, über den Gehorsam, den wir den höheren Gewalten schulden,
über die gegenseitige Liebe, was er über diese und verwandte
Gegenstände lehrt, hat eine äußerst starke und unbesiegbare
Beweiskraft, zur Widerlegung aller jener Grundsätze des neuen Rechtes,
welche der Ruhe des Gemeinwesens und dem öffentlichen Wohle als
schädlich sich erweisen. Alle menschlichen Wissenschaften endlich
müssen im voraus auf Fortschritt hoffen und haben sich eine ganz
bedeutende Förderung von dieser Erneuerung der philosophischen
Disziplinen zu versprechen, die Wir Uns als Aufgabe gesetzt haben. Denn
von der Philosophie als von einer weisen Führerin pflegen die schönen
Wissenschaften ihre wahre Bedeutung und das richtige Maß zu empfangen
und aus ihr, wie aus einer gemeinsamen Lebensquelle, den
beseelenden Hauch zu schöpfen. Die Tatsachen und beständige Erfahrung
beweisen, daß die schönen Wissenschaften dann am meisten blühten, als
der Philosophie die volle Ehre gegeben wurde und sie selbst sich ein
gesundes Urteil gewahrt hatte; daß sie aber vernachlässigt und fast
vergessen wurden, wenn die Philosophie daniederlag und in Irrtümer oder
Torheiten versank. Darum werden auch die Naturwissenschaften, die man
so schätzt und welche überall zu ihrer Bewunderung hinreißen, durch die
Wiederherstellung der Philosophie der Alten nicht bloß keinen Nachteil
erleiden, sondern sehr viel gewinnen. Denn zu dem fruchtbaren Betriebe
derselben und deren Fortschritt genügt nicht die bloße Erkenntnis der
Tatsachen und Betrachtung der Natur; vielmehr hat sie, stehen einmal
die Tatsachen fest, weiter vorzudringen und sorgfältig nach dem Wesen
der körperlichen Dinge zu forschen, die Gesetze zu untersuchen, denen
sie folgen, und die obersten Ursachen, aus denen die Ordnung derselben,
die Einheit in der Mannigfaltigkeit, und die gegenseitige
Verwandtschaft in der Verschiedenheit hervorgeht. Zu solchen
Forschungen wird die scholastische Philosophie, wenn sie in
verständiger Weise betrieben wird, überraschend viel beitragen, Licht
und Hilfsmittel gewähren.
30 Hierbei wollen Wir nicht vergessen zu erinnern, daß man in höchst
ungerechter Weise dieser Philosophie es zum Vorwurfe gemacht hat, als
ob sie dem Fortschritt der Naturwissenschaften und dem Gedeihen
entgegen sei. Denn da die Scholastiker im Anschlusse an die Anschauung
der Väter in der Anthropologie gemeinhin lehrten, daß die menschliche
Intelligenz nur auf Grund der Sinnenwelt zur Erkenntnis der körper- und
stofflosen Wesen sich erhebt, so drängte sich ihnen von selbst die
Erkenntnis auf, daß nicht so vorteilhaft für den Philosophen sei, als
die Geheimnisse der Natur fleißig zu erforschen und mit dem Studium der
Naturerscheinungen sich lange und viel zu beschäftigen. Dies haben sie
auch durch die Tat bewiesen; denn der heilige Thomas, der große selige
Albertus und die übrigen hervorragenden Scholastiker haben sich nicht
derart der philosophischen Betrachtung hingegeben, daß sie nicht auch
vielen Fleiß auf die Naturforschung verwandt hätten; wir haben vielmehr
auf diesem Gebiete nicht wendige Aussprüche und Grundsätze von ihnen,
welche die neuern Meister in dieser Wissenschaft anerkannt und als
richtig bezeichnen. Außerdem bezeugen gerade in der Gegenwart mehrere
und zwar hervorragende Kenner der Naturwissenschaften offen und
ungescheut, daß zwischen dem gewissen und feststehenden Sätzen der
neueren Physik und den philosophischen Prinzipien der Scholastik kein
eigentlicher Gegensatz bestehe.
31 Indem Wir daher erklären, daß Wir gern und dankbar aufnehmen, was
immer Weises gesagt, was immer Nützliches von irgend jemand gefunden
oder erdacht worden ist, ermahnen Wir dringend Euch alle, Ehrwürdige
Brüder, zum Schutz und Schmuck der katholischen Lehre, zum Besten der
Gesellschaft, zum Wachstum aller Wissenschaften die goldene Weisheit
des heiligen Thomas wieder einzuführen und so weit als möglich zu
verbreiten. Die Weisheit des heiligen Thomas sagen Wir; denn wenn
Scholastiker in manchem zu spitzfindig waren oder anders von ihnen
weniger vorsichtig gelehrt worden ist, wenn etwas mit den ausgemachten
Lehrsätzen der späteren Zeit weniger übereinstimmt, oder endlich in
welcher Weise dies nur immer sein mag, unhaltbar sich zeigt, so
gedenken Wir das keineswegs unserer Zeit zur Nachfolge vorzuhalten. Im
übrigen mögen die Lehrer, die Ihr mit Umsicht auswählet, sich
bestreben, die Lehren des heiligen Thomas dem Geiste ihrer Schüler
einzupflanzen, und seine ganz besondere Gründlichkeit und
Vorzüglichkeit recht anschaulich zu machen. Die Akademien, die Ihr
errichtet habt oder noch errichten werdet, sollen sie erläutern und
Verteidigen und zur Widerlegung der um sich greifenden Irrtümer von ihr
Gebrauch machen. Damit aber nicht eine unterschobene statt er echten
und eine entstellte statt der lautern aufgenommen wird, traget Sorge
dafür, daß die Weisheit des heiligen Thomas aus deren Quellen selbst
geschöpft werde, oder wenigstens aus solchen Bächen, welche nach dem
gewissen und einstimmigen Urteile der Gelehrten aus den Quellen selbst
geflossen und daher rein und ungetrübt geblieben sind; daher sorget
dafür, daß die Gemüter der Jünglinge von jenen ferngehalten
werden, welche als daraus geflossen ausgegeben werden, in der Tat aber
mit fremdem und Ungesundem Wasser vermischt ist.
32 Wir wissen aber wohl, daß Unsere Bestrebungen eitel sind, wenn
Unserem gemeinsamen Beginnen, Ehrwürdige Brüder, der seinen Beistand
nicht verleiht, der in der Heiligen Schrift[49] der Gott der
Wissenschaften genannt wird. Dieselbe erinnert auch, daß jede gute Gabe
und jedes vollkommene Geschenk von oben herab, vom Vater des Lichtes
ist[50]. Und wieder: Fehlt es jemand an Weisheit, der erbitte sie von
Gott, welcher allen sie reichlich gibt und es nicht vorrückt, und sie
wird ihm gegeben werden[51].
33 Folgen Wir darum auch hierin dem Beispiele des englischen Lehrers,
der niemals dem Lesen oder Schreiben sich hingab, ohne vorher Gott um
seine Gnade angefleht zu haben, und der offen eingestand, was er wisse,
das habe er nicht so fast durch seine Mühe und Arbeit sich errungen,
als vielmehr von Gott empfangen; darum lasst uns in demütigem und
einstimmigem Gebete alle zumal Gott anflehen, daß er aussende über die
Söhne der Kirche den Geist der Weisheit und des Verstandes, und ihnen
den Sinn öffne, die Weisheit zu verstehen. Und um noch reichere Früchte
der göttlichen Barmherzigkeit zu erlangen, rufet auch die allerseligste
Jungfrau Maria, welche Sitz der Weisheit genannt wird, um ihren höchst
wirksamen Beistand bei Gott an; zugleich stehet um ihre Fürbitte zu dem
reinsten Bräutigam der Jungfrau, dem heiligen Joseph, und zu den großen
Aposteln Petrus und Paulus, welche den Erdkreis, der von der unreinen
Seuche der Irrtümer verpestet war, durch die Wahrheit wieder erneuert
und mit dem Licht himmlischer Weisheit erfüllt haben.
34 So erteilen Wir denn in der Hoffnung auf den göttlichen
Beistand und im Vertrauen auf Eure Hirtensorge von ganzem Herzen den
apostolischen Segen im Herrn, als Vorboten himmlischer Gaben und
Zeugnis Unseres besonderen Wohlwollens, Euch allen, Ehrwürdige Brüder,
und dem gesamten Clerus, sowie dem Euch anvertrauten Volke.
Gegeben zu Rom bei St. Peter, den 4. August des Jahres 1879, dem zweiten Unseres Pontifikates.
LEO PP. XIII.
http://www.stjosef.at/
[1] Matth. XXVIII, 18.
[2] Coloss. II, 8.
[3] I Cor. II, 4.
[4] De Trin. Lib. XIV, c. 1.
[5] Clem. Alex., Strom. Lib. I, c. 16; l. VII, c. 3.
[6] Orig. ad Greg. Thaum.
[7] Clem. Alex. Strom. I, c. 5.
[8] Röm. I, 20.
[9] Röm. II, 14-15.
[10] Orat. paneg. ad Origen.
[11] Vit. Moys.
[12] Carm. I, Iamb. 3.
[13] Epist. ad Magn.
[14] De doctr. christ. I. II, c. 40.
[15] Weish. XIII, 1.
[16] A. a. O. V. 5.
[17] II Petr. I, 16.
[18] Const. dogm. de Fid. Cath,. cap. 3.
[19] Const. cit. cap. 4.
[20] Ebendas.
[21] Strom. lib. I. I, c. 20.
[22] Epist. ad Magn.
[23] Bulla Apostolici regiminis.
[24] Epist. 143, (al. 7) ad Marcellin., n. 7.
[25] Const. dogm. de Fid. Cath., cap. 4.
[26] Cor. I, 24.
[27] Coloss. II, 3.
[28] Epist. ad Magn.
[29] Loc. cit.
[30] Apologet. § 46.
[31] Inst. VII, cap. 7.
[32] De opif. Dei, cap. 21.
[33] Bulla Triumphantis, an. 1588.
[34] Bull. cit.
[35] In 2m 2ae, q. 148, a. 4 in fin.
[36] Bulla In Ordine.
[37] Breve ad FF. Ord. Praedic. 1451.
[38] Bulla Pretiosus.
[39] Bulla Mirabilis.
[40] Bulla Verbo Dei.
[41] Const. 5a dat. die 3 Aug. 1368 ad Cancell. Univ. Tolos.
[42] Litt. in form. Brev., die 6 Febr. 1694.
[43] Litt. in form. Brev., die 21 Aug. 1752.
[44] Serm. de S. Thom.
[45] Beza-Bucer.
[46] Sixtus V, Bull. cit.
[47] I Petr. III, 15.
[48] Tit. I, 9.
[49] I Kön. II, 3.
[50] Jak. I, 17.
[51] Ebd. V. 5.
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