An das Töten gewöhnen:
Nach der Abtreibung soll nun die "Sterbehilfe"
gesellschaftlich etabliert werden
von
Mechthild Löhr
Zwei Paukenschläge machten unsere von Zukunftsängsten geplagte,
alternde Gesellschaft in den letzten Wochen darauf aufmerksam, daß wir
vor neuen, lebenswichtigen Fragen stehen: In Hannover eröffnete der
Schweizer "Sterbehilfe-Verein" Dignitas seine erste Filiale in
Deutschland, und in Hamburg forderte wenige Tage darauf der dortige
Justizsenator Roger Kusch (CDU): "Der Staat muß den Wunsch nach
Sterbehilfe respektieren."
Unsere Gesellschaft altert, der familiäre, soziale Zusammenhalt
zwischen den Generationen löst sich zunehmend in unverbindliche
Beziehungen auf. Wer sollte, wer könnte, wer wollte zukünftig die
kinderarme - und teilweise gar kinderlose - Generation noch pflegen,
wenn wir immer älter und kränker, unsere Betreuung immer
pflegeintensiver wird? In dieser Atmosphäre der Verunsicherung und
latenten Ängste wirbt Dignitas für die "aktive Begleitung" in den Tod.
Schon fünf Vereine mit ähnlichem Profil entvölkern inzwischen die
Schweiz und haben sie auch in dieser Hinsicht zu einem touristischen
Reiseziel werden lassen. Bei Dignitas sind rund die Hälfte der "Nutzer"
Deutsche, der Schritt des Vereins nach Norden war also nur
folgerichtig. Immerhin kommentierte der Bundespräsident die Eröffnung
indirekt mit einem Besuch bei der Hospizbewegung und seiner Mahnung,
daß Menschen an der Hand eines anderen und nicht durch dessen Hand
sterben sollten.
Dessenungeachtet fordert der stets jugendlich wirkende Senator Kusch,
die Anpassung der Gesetzgebung an die "gesellschaftliche Wirklichkeit"
als eine Pflicht des Gesetzgebers. Irgendwie kommt uns diese
Argumentation doch bekannt vor ... Richtig, so sollte doch schon einmal
in den vergan-genen Jahrzehnten die Zahl der Abtreibungen gesenkt
werden! Und in der Tat: Der Senator weist in seiner Argumentation
ausdrücklich auf diese Parallele hin - wofür man ihm eigentlich dankbar
sein müßte. Seitdem 1974 der Paragraph 218 verabschiedet wurde, kommt
nämlich allein das Statistische Bundesamt auf mindestens 4,3 Millionen
Abtreibungen, seriöse Schätzungen gehen aber noch von einer weit
höheren Dunkelziffer aus. Die Gesellschaft hat sich dank
flächendeckender Beratungs- und Abtreibungsangebote und steuerlicher
Finanzierung dieses Tötungsgeschehens daran gewöhnt, daß jedes
beginnende menschliche Leben erst einmal zur Disposition gestellt
werden kann. Die Praxis der hundertfachen jährlichen Spätabtreibungen
fügt dem noch weiteres gravierendes Unrecht hinzu, indem inzwischen
zahlreiche, auch leichtere Behinderungen als Anlaß dafür gelten, daß
ein ungeborener Mensch noch bis zur Geburt legal getötet werden kann.
Dies kann auf längere Sicht nicht ohne Folgen bleiben und korrumpiert
inzwischen das Rechts- und Verantwortungsbewußtsein vieler Menschen. In
den Niederlanden zum Beispiel werden Babys, Kleinkinder und
Minderjährige unfreiwillige Opfer der aktiven Sterbehilfe. Über 25
Prozent aller von Sterbehilfe Betroffenen haben dort nachweislich nie
das Verlangen nach aktiver Beendigung ihres Lebens geäußert. Es wurde
für sie entschieden, weil andere glaubten, es sei so viel besser für
sie. Wie viele andere Kranke in Belgien, der Schweiz oder in den
Niederlanden haben sie nur deshalb um Euthanasie gebeten, weil sie vor
allem davor Angst hatten, allein zu sein in ihrer Krankheit oder den
anderen weiter zur Last zu fallen und hohe Kosten zu verantworten.
Sicher, aus Sicht der Befürworter ist es nur konsequent, für Paragraph
216 (Tötung auf Verlangen) eine "Lösung" zu finden, wie dies bei
Paragraph 218 "gelungen" ist. Doch der Schritt von der passi-ven zur
aktiven Sterbehilfe ist nicht, wie Kusch und einige andere meinen,
lediglich ein unwesentlicher: für die Menschen, unsere Gesellschaft und
für das unantastbare Recht auf Leben ist es ein tiefer Graben, den wir
nicht ohne gefährlichen Schaden für unser aller Zukunft überspringen
können.
Wenn unser Lebensrecht und die Berechtigung zu leben, geschützt,
begleitet, behandelt und getröstet zu werden, davon abhängig gemacht
werden, ob sich unser Leben in unseren eigenen Augen oder gar in den
Augen der anderen noch "lohnt", es noch "Lebensqualität" hat, werden
wir es schneller verlieren, als wir uns das heute vorstellen können. In
den Niederlanden gehört inzwischen bereits starke Depression oder
fundierte Angst vor einer schweren Erkrankung zu den legal akzeptierten
Bedingungen, Sterbehilfe zu beantragen. Und in vielen Fällen liegt
zwischen Antrag und Durchführung weniger als eine Woche, obwohl das
Gesetz einen Monat vorschreibt.
Auch Mitgefühl macht aus aktiver Sterbehilfe keine ethisch
verantwortbare Tat. Wer wirklich menschenwürdiges Sterben begleiten
will, findet in den Hospizen und in der Palliativmedizin die
christlichen und humanen Hilfen, die Leben auch mit dem Tod akzeptieren
können. Hier sind politische Signale und Unterstützung für eine
gesellschaftliche Gegenbewegung gefragt, nicht die Offerte einer
reibungslosen und schnelleren Beendigung des Lebens durch dubiose
kommerzielle Sterbehilfevereine oder gar Ärzte.
aus: Junge Freiheit 43/05 21. Oktober 2005
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