QUELLEN DER KIRCHENMUSIK
von
H.H. Dr.theol. Otto Katzer (+)
1. Fortsetzung:
Als ich vor Jahren zum ersten Mal die Pesach-Feier im hebräischen
Original verfolgte, erstaunte ich über deren Ähnlichkeit mit der hl.
Messe. An und für sich ist hier eigentlich kein Grund zum Staunen, nur
meine Unkenntnis verursachte es. Die Pesach-Feier symbolisiert dieselbe
Darbringung, d.i. Messe, dieselbe Opfergabe, wie sie im Neuen Testament
immer wieder von neuem dargeboten wird. "Siehe, das Lamm Gottes, das
hinwegnimmt die Sünden der Welt!" Sein Emporgehobensein während der
blutigen Darbringung am Kreuze steht überall im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit, welche einem rechtgläubigen Israeliten nicht so
unbekannt war, wie wir annehmen. Das Bild des leidenden Erlösers stand
ihm aufgrund der Offenbarungen Gottes in der Heiligen Schrift klar vor
Augen! Wenn es auch nicht viele gab, die so weit herangereift sind -
selbst die Apostel können wir zuerst nicht zu ihnen zählen -, einige
gab es doch! Den wegen dieses Emporgehobenseins zermürbten Jüngern von
Emaus wirft der Herr vor: "O ihr Unverständigen und von langsamer
Fassungskraft, um alles zu glauben, was die Propheten verkündet habe.
Mußte der Messias nicht dies leiden, um so in seine Herrlichkeit
einzugehen?"(1) Es mag sein, daß sie die Worte Jesu beim Einzug in
Jerusalem nicht gehört hatten: "Ich aber werde, wenn ich von der Erde
erhöht bin, alle an mich ziehen."(2), sicher waren ihnen aber die Worte
dos Propheten Isaias bekannt: "Nunc consurgam, dicit Dominus: nunc
exaltabor, nunc sublevabor!" ("Jetzt werde ich aufstehen", sagt der
Herr, "jetzt werde ich erhöht werden, jetzt werde ich emporgehoben
werden"(3), Worte, welche sich, wie der hl. Hieronymus bemerkt (4) auf
den Messias beziehen. Stets müssen wir vor Augen haben, daß "das Neue
Testament im Alten vorgebildet ist und das Alte im Neuen geoffenbart"
(5) Deshalb darf es uns auch nicht wundern, daß es bei der hl. Messe,
d.i. bei der hl. Oblation (Anaphora = Darbringung) ebenso ist. Ein
kurzer Überblick wird uns davon überzeugen. Wir benützen das in den
Apostolischen Konstitutionen angegebene Formular der Messe.
a) Das Morgengebet am Sabbat.
1. Lesung aus den Büchern Moses (Parascha).
2. Lesung aus den Propheten (Haftra).
3. Predigt.
4. Gebete für verschiedene Stände und Bedürfnisse.
5. Der Segen Aarons.
6. Gebet um Frieden für ganz Israel.
b) Das letzte Abendmahl.
1. Das Eingießen von Wein und Wasser in den Kelch.
2. Psalm 113, 9,lf nach der Vulg.
3. Das Nehmen von Brot und Wein.
4. Psalm 114-115 und das Opfergebet Christi. (Luk. 22,17.)
5. Psalm 116-117.
6. Psalm 135 oder 134.
a) Ps. 135,1-3.
b) Ps. 135,4-7.
c) Ps. 135,8-12.
d) Ps. 135,13-14.
e) Das Konsekrationsgebet Christi.
f) Ps. 135,15-2o. g) Ps. 135,21.
7. Brotbrechen.
8. Danksagung bevor dem Trinken aus dem Kelche.
9. Kommunion.
10. Danksagung nach dem Trinken des Kelches.
a) Messe der Katechumenen.(6)
1. Lesung aus den Büchern Moses.
2. Lesung aus den Propheten. Psalmengesang zwischen den Lesungen, Epistel, Evangelium.
3. Predigt.
4. Gebete für verschiedene Bedürfnisse und Stände.
5. Segen.
6. "Der Friede des Herrn sei mit euch allen." (Antwort:) "Und mit deinem Geiste."
b) Messe der Gläubigen. (7)
1. Das Eingießen von Wein und Wasser in den Kelch.
2. Litanei mit Gebet.
3. Das Darbringen von Brot und Wein zum Altar.
4. Das Opfergebet (Secreta).
5. Präfation, Sanktus u. Benediktus.
6. Kanon.
a) Lobpreis der Vollkommenheiten Gottes.
b) Dank für die Schöpfung.
c) Dank für die Heilsvorbereitungen im Alten Testamente.
d) Dank für die Erlösung durch Christus.
e) Die Konsekration
f) Anamnese, Opferung, Epiklese, memento.
g) Schluß Doxologie.
7. Brotbrechen.
8. Gebet vor der Kommunion.
9. Kommunion.
10. Gebet nach der Kommunion.(8)
Man mag, was Einzelheiten anbelangt, Abweichungen von diesem Schema
finden, im Wesentlichen aber entspricht es den Tatsachen. Es kommt ja
auch nicht auf Einzelheiten an, sondern auf das Gesamtbild! Um dieses
zu verstehen, ist es unumgänglich, eine kurze historische-Übersicht
vorausgehen zu lassen.
Das Christentum bildet die Krone der Menschheit, deren Wurzeln in der
vor-abrahamitischen Zeit liegen (was natürlich nicht ausschließlich
historisch zu nehmen ist), deren Stamm das Alte Testament bildet und
organisch in die Krone übergeht. Diese Tatsache drückt der Heiland mit
den Worten aus: "Glaubt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die
Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um sie aufzuheben,
sondern um sie zu erfüllen."(9) Deshalb dürfen wir uns auch nicht
wundern, wenn in der ersten Zeit die wachsende Christenheit von der
mosaischen Umwelt kaum zu unterscheiden war. Israel war die Kirche des
Alten Testamentes, die Kirche ist das Israel des Neuen Testamentes. Die
Sendung war ja immer dieselbe: Den Glauben an einen wahren Gott in
einer der Vielgötterei verfallenen Umwelt aufrecht zu erhalten, nach
diesem Glauben auch zu leben, uns sich (wie die ganze Umwelt) auf das
Kommen des Erlösers vorzubereiten: bei der hl. Kommunion, beim Tod und
dem letzten Gericht.
Bei den Kindern Israels, welche in die alte Heimat eingezogen waren,
machten sich zwei Strömungen bemerkbar. Wie sehr sich Moses auch bemüht
hatte, die ihm anvertrauten Kinder Abrahams ihrer historischen Sendung,
Priesterschaft unter den Völkern zu sein, zurückzugewinnen, von Dauer
war sein Wirken nicht. Infolge des sich immer mehr durchsetzenden
Diesseitsstreben erwuchs das völkische Bewußtsein. Den ersten Anlaß zum
äußeren Durchbruch dieser unheilvollen Gesinnung und der damit
verbundenen verhängnisvollen Spaltung gab das sittenlose Leben der
Söhne des letzten Richters Samuel. Da versammelten sich die Ältesten
Israels, kamen zu Samuel nach Ramatha und sagten zu ihm: "Du bist nun
alt geworden, und deine Söhne wandeln nicht auf deinen Wegen. Setze
also einen König über uns ein, daß er uns regiere, wie es bei allen
Völkern Sitte ist!" Als Samuel sich beim Herrn darüber beklagte, denn
Israel sollte kein Volk sein, wie die anderen es waren, sondern eine
Kanal, d.i. Kultgemeinschaft, Kirche, deren oberster Herr GOTT war,
bekam er von ihm als Antwort: "Höre auf das Verlangen des Volkes in
allem, was es von dir fordert! Nicht dich haben sie verworfen, sondern
micht, daß ich nicht länger König über sie sei!"(10)
So können wir von nun an zwei Richtungen in dieser Menschengruppe
verfolgen. Eine materialistische, die von Tag zu Tag stärker wurde, und
eine geistige, die immer mehr abnahm.
Das Bild des Erlösers der gesamten Menschheit (aus der Knechtschaft der
Sünde) wurde bei der zunehmenden Unterjochung unter fremde Herrscher
durch die Gestalt eines nationalen Befreiers ersetzt, von dem man
hoffte, daß er zuletzt König über die ganze Welt sein werde.
Nicht genug, daß bei solchen Zuständen die zahl der wirklich Religiösen
offensichtlich geringer wurde, sie war dazu noch, besonders in der Zeit
der Griechenherrschaft (332-314) einer scharfen Verfolgung ausgesetzt.
Wie einst der "kraft des Fleisches Geborene den kraft des Geistes
Geborenen verfolgte"(l1), so ging es auch zu dieser Zeit. Das mag
vielleicht die Qumranbewegung ins Leben gerufen haben. Sie mußten sich
in die Höhlen der Wüste Juda zurückziehen, oft nur, um das bloße Leben
zu retten. Kein Wunder, wenn in der Fülle der Zeiten, der Erlöser vom
Großteil des jetzt regierenden Volkes abgelehnt wurde und Ihn dem Tode
überlieferte.
Das Eintreten des Christentums in die Geschichte war nicht nach und
nach erfolgt, es war auch keine Evolution, noch eine geistige
Revolution, es war buchstäblich eine Explosion; das ermöglichte die
Zerstreuung der Juden über das ganze römische Reich. So singt ein
jüdischer Poet bereits im Jahre 14o vor Christus: "Erde und Meer sind
deiner voll"(12), was durch die Zahl der Proselyten, d.i. NichtJuden,
die den jüdischen Glauben angenommen haben, noch erhöht wurde. Harnack
berechnet, daß zur Zeit des Kaisers Augustus 7 % der Bevölkerung des
römischen Reiches Juden waren. Die rege Verbindung untereinander und
die innigen Beziehungen mit der mütterlichen Stadt Jerusalem
gestatteten dem Christentum, sich blitzschnell nicht nur über das ganze
römische Reich, sondern auch die angrenzenden Länder zu verbreiten, so
daß wir mit Recht die Worte des Buches der Weisheit diesbezüglich
benützen können: "Die Gerechten werden glänzen, und wie Funken im
Geröhre hin und her fahren."(13)
"Die Verbindung mit der jüdischen Synagoge wurde nicht gleich von der
Gemeinde der christusgläubigen Juden in Jerusalem und in Palästina (wie
auch anderswo; O.K.) abgebrochen. Das Volk Israel sollte ja für den
Glauben an Jesus als den Messias gewonnen werden. Die Apostel wie die
ersten Christen hörten nicht auf, frommgläubige Juden zu sein. Sie
besuchten den Tempel zur Zeit der Opfer und der Gebete, nahmen Teil an
den religiösen Festen und benutzten die Gelegenheit der Versammlung
ihrer Stammesgenossen in den Hallen des Tempels um ihnen Jesus als den
Messias zu verkünden. Wie an den Tempe] besuch, so konnten sich die
Apostel dem Beispiele des Herrn gemäß auch den Synagogen anschließen,
wo sie leicht die frohe Botschaft vom Erlöser verkünden konnten unter
Anknüpfung an die Auslegung des Gesetzes und der Propheten. Auch das
jüdische Zeremonialgesetz beobachteten die ersten zum Erlöser bekehrten
Juden; sie blieben Israeliten im vollen Sinne, nur durch den Glauben an
den gekommenen Messias verschieden. Ihrerseits taten die Apostel
nichts, was den großen, von der jüdischen Nation immer noch nicht
aufgegebenen Beruf, Träger und Werkzeug des Messiasreiches zu werden,
hemmen konnte'. Sie fuhren selbst fort, das Gesetz zu beobachten, und
billigten dessen Beibehaltung in der ersten Gemeinde der Judenchristen.
Erst dann sollte jeder Verband der Kirche mit der Synagoge aufhören,
wenn eine göttliche Tat oder eine absolute Unmöglichkeit sich
kundgegeben, wenn die Masse der Juden den erhabenen Beruf völlig
verscherzt und die Synagoge durch ausgesprochene Feindschaft gegen die
Gläubigen Christi sich selbst von allen Ansprüchen auf Berücksichtigung
losgesagt haben würde." (14)
Wenden wir nun unsere Aufmerksamkeit zu den Gebeten, dann sehen wir,
daß wir neben den privaten Gebeten zur dritten, sechsten und neunten
Stunde (unsere 9.-12. und 15. Stunde), schon seit alten Zeiten ein
Officium für die Vigil des Samstags, wie auch anderer Feiertage finden,
dessen Grundgedanke die christliche Vigil schuf; der hebräische Tag
beginnt am Abend.
Weiter finden wir ein nächtliches Officium, das erste Morgenofficium,
das ergänzende Officium und endlich das Abendofficium, die Aufopferung,
welche von der Vulgata "Sacrificium vespertinum" genannt wird. Jene
Officien bestehen aus einem lobenden Teil, in dem die Psalmen
überwiegen, aus Bitten mit Gebeten und Segnungen und in der Fastenzeit
mit Litaneien, aus einem eucharistischen Gebet (Dankgebet), welches
eine Ähnlichkeit mit unserer Präfation, oder Anafora aufweist, auf
welches dann der Gesang "Kados" (Sanctus) welcher vom Chor gesungen
wird, anknüpft.
"Kultus und Musik sind bei den Juden, wie im ganzen Orient, so eng
miteinander verwachsen, daß der historische Gottesdienst überhaupt fast
nur ein singendes Beten kennt. Auch der einfachste kurze Segensspruch
wird gesungen. Ja, selbst die hauptsächlich belehrenden und erbauenden
Zwecken dienende Toravorlesung wird von einer eigenartigen Singweise
begleitet. So wurden auch an den Träger des Gottesdienstes, den
Vorbeter (Chasan), nach der musikalischen Seite schon früh hohe
Anforderungen gestellt, was natürlich immer nur innerhalb des jeweilig
zeitgenössischen Könnens zu verstehen ist. (15)
Sünde und Schuldopfer sind dem Bußernst entsprechend vielleicht unter
Schweigen vor sich gegangen. Analogisch tritt das Schweigen während der
hl. Wandlung als eine Selbstverständlichkeit ein. Wer könnte da die
letzten Worte des Herrn am Kreuze unterbrechen, wer könnte da neben der
unter dem Kreuze aufs tiefste ergriffenen Mutter dieses Leben gebärende
Schweigen auch nur mit einem einzigen Worte verletzen! "Bei den Dank
und Gelübdeopfern mit anschließendem Opfermahl herrschte laute Freude
(vgl. Am. 5,23); man erzählte sich dabei in froher festlicher Stimmung
von der erlangten göttlichen Hilfe, der das Opfer galt Ps. 22,23; 26,7.
Um so gehobener war die Stimmung an den hohen Festen, wo sich die
Gläubigen in großer Zahl und auch viele Wallfahrer einfanden und betend
den Altar umstanden oder umzogen (Ps. 26,6f;27,6; Sir 5o,19; vgl. Lc.
1, lo). Wenn der Hohepriester selbst amtierte, war er von einer Schar
dienender Priester und Leviten umgeben (Sir. 5o,12f.). Das Brandopfer
war begleitet von Musik und Gesang des Lebitenchores. Zwischen den
Abschnitten des Gesanges bliesen zwei Priester silberne Trompeten (vgl.
Nu lo,lo), bei deren Schall sich das Volk zur Anbetung niederwarf (2
Chron 29,26ff; Sir 5o,16f.); den Schluß bildete der Segen, den der
(Hohe) Priester mit erhobenen Händen gab und den das Volk kniend
empfing (Nu 6,24-26; Sir o,2of). Den Tempelgesang hörte man angeblich
bis nach Jericho, das 25 km (Luftlinie) entfernt lag."(16)
Die Art des Gesanges war genau festgesetzt, und es war unter dem Bann
der Synagoge verboten, etwas an ihm zu ändern. So w.irJ<'n die fünf
Bücher Moses und andere Geschichtsbücher mit voLlera und süßem Ton
gesungen, die Propheten dagegen derb und ernst, die Psalmen in einem
tieferen Ton, welcher zu Extase und Beschaulichkeit führte, die
"Sprüche" auf eine leichte Weise, der "Prediger" wieder ernst und
streng, das Hohelied fröhlich. (17) Wir müssen uns mit diesen
Ausführungen begnügen. Hier sei nur noch vermerkt, daß der tiefste
gedankliche Untergrund entscheidend ist für die gesamte Art. Die
Synagogalmusik wird zuletzt von Sehnsucht nach dem Erlöser getragen,
welche nicht selten die Verzweifung zum Durchbruch kommen läßt wegen
des Ausbleibens des so sehnsüchtig schon durch Jahrtausende erwarteten
Erlösers, während die katholische Kirchenmusik die Freude des bereits
eingetroffenen Messias und die erfolgte Erlösung zum Ausdruck bringt.
Doch es blieb nicht allein bei den jüdischen Einflüssen. "Die
griechische Kulturgemeinschaft war bereits für sich stark und
weitverzweigt; vollends seit der Eröberungszüge Alexanders des Großen
hat der Hellenismus ein stärkstes geistiges Band auch um die Völker der
alten Welt geschlungen. Auch das Judentum in Jerusalem und erst recht
in der Diaspora war durch es in ein neues Stadium der geistigen
Entwicklung hineingezogen worden. Diese nähere geistige Berührung
zwischen Judentum und Hellenismus, die auch zur Entstehung der
Septuaginta, d.i. der um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr.
vollendeten griechischen Übersetzung der heiligen Schrift (Altes
Testament) geführt hatte, war innerhalb der göttlichen HeiJsordnung das
große Vorspiel, dem als Erfüllung die christliche Kirche folgte,
ausgestattet mit der Bestimmung, We]tkirche zu sein. Mit dem Auftreten
des Apostels Paulus auf dem Apostelkonzil im Jahre 49 war für das
Verhältnis von Christentum und Hellenismus die entscheidende Wendung
zum Ausdruck gebracht: Die Heidenchristen standen von nun an auf der
Stufe der Gleichberechtigung mit den Judenchrirsten. Von hier über den
Prolog des Johannes-Evangeliums, die Apologeten des 2. Jahrhunderts und
die katholische Gnosis des Klemens Alexandrinus bis zu Origines führt
eine ungebrochene Linie einer immer tiefergehenden hellenistischen
Durchdringung christlichtheologischer Spekulation, einer immer klarer
sich ausdrückenden Vermählung von Christentum und Hellenismus.
Von der Apostelsynode an war prinzipiell die Bahn frei auch für die Eingliederung griechischer Musik in die Liturgie.
Aber in diesen Musikanschauungen selbst lag eine große Gefahr. Das
Verhältnis von Tonkunst und Religion hatte in der hellenistischen Zeit
eine Wendung genommen, die das innerste Wesen der Musik berührte und
die Existenz einer religiösen Kunst ernstlich in Frage stellte. Der
weltflüchtige Charakter der neu-platonischen Philosophie, die Sehnsucht
nach Erlösung durch unmittelbare göttliche Offenbarung verstatteten der
Kunst als solcher keinen Raum mehr.
Diese Musikanschauungen gehören mit zum ersten, das im jungen
Christentum Eingang gefunden hatte, vor allem in der christlichen
Gemeinde zu Korinth, so daß der Apostel Paulus, der ja prinzipiell die
Auseinandersetzung zwischen Christentum und Heidentum aufgreift, seine
Stimme gegen sie erheben mußte. Zugleich wollte er jene anderen
Mysterienfeiern treffen, die sich nicht zuletzt einem schwelgerischen
Genuß der Instrumentalmusik hingaben.
Indem der antiken Kunst der Weg in die christliche Liturgie
erschlossen, der Pseudo-Ästhetik aber der Zugang verwehrt wurde, sind
zwei Entscheidungen von größter Tragweite getroffen worden: Nun konnte
die Werdostunde auch einer christlichen Musik im Geiste der antiken
Dicht- und Tonkunst, d.i. namentlich der Hymnodik, einsetzen; ferner
ist der vokale Grundcharakter der christlich-liturgischen Musik mit
Nachdruck festgestellt. Gegen eine mystisch symbolische Askese betont
Paulus den aus der Liturgie sich ergebenden Gemeinschaftsgedanken und
fordert zum lauten, gemeinsamen und - wie die choraltechnischen Termini
besagen - respondíerenden oder akklamatorisehen Gebet und Lobgesang
auf.(18) Der Einfluß der Synagoge setzt sich hier durch.
"Die an spekulativen Kräften außerordentlich gesegneten ersten
christlichen Jahrhunderte ließen es sich mit einer rein praktischen
Pflege des Kirchengesanges nicht genügen, sondern suchten ihn auch mit
der antiken Musiktheorie in einen gewissen Einklang zu bringen. Da
entstand das System der acht Kirchentonarten oder der Oktoöchos, der
erstmals, wenigstens soweit bisher bekannt ist, aus der Umgebung des
palästinensischen Abtes Silvanus im 4. Jahrhundert literarisch bezeugt
ist. Auch der antiken Buchstabentonschrift hat man sich in christlichen
Kreisen b. dient - vielleicht nur für die syllabischen Hymnen und
hymnenartigen Gesänge -, wie sii. der Papyrus mit dem Oxyrhynchos
Hymnus trägt, und auch noch aus späteren Nachrichten aus dem
griechischen Osten bekannt ist."(19)
Die Musikzeichen in .der Bibel sind für uns nicht ganz klar. "Neben den
mannigfachen auf Musik bezogenen Bezeichnungen (vornehmlich in den
Psalmen und der Chronik) finden sich in der Bibel auch verstreut
Ausdrücke, über deren Sinn keine volle Übereinstimmung herrscht, die
man jedoch u.a. auch musikalisch zu deuten versucht hat. So finden sich
vor allem in verschiedenen Psalmenüberschriften einzelne Wörter, in
denen man entweder die Angabe eines Instruments zur Begleitung der
Melodie oder die Melodie selber vermutet, z.B. Ps.5,1; 8,1; 9,1; 22,1;
56 u. 57; 46,1 (hebräische Zählung), wo manche in "alamot" ein
Musikinstrument sehen, andere es mit 'Jungfrauenstimme" (=Diskant,
Sopran) übersetzen zu können glauben. Hierher gehört auch das oft
vorkommende "sela" (z.B. Ps.3,9), das als "Pause", aber auch im Sinne
von da Capo, gedeutet wird."(2o)
Die schriftliche Fixierung der Töne ist ein Kunstwerk an s'ich, welches
jedoch schon den alten Ägyptern bekannt war. Belegt für die christliche
Liturgie sind die Neumen erst im 4. Jahrhundert.
Der musikalische Ausdruck der katholischen Liturgie besitzt eine Spezifität, die nur ihr eigen ist.
Es ist klar, daß die Reinheit der Lehre ihren Ausdruck in der Reinheit
der Kirchenmusik fand, und wie die Synagoge war auch die Kirche stets
eine kompromißlose Hüterin der übergebenen musikalischen Schätze.
Anmerkungen:
1) Luk.24,25.
2) Joh.12,32.
3) Is.33,lo.
4) Commentariorum liber in Esaiam.
5) PL 42,623 S.August.Contra adversarium legis et prophetarum.
6) Bilczewski, Eucharystya. Krakow 1898.
7) Bikell, Messe und Pascha, Zeitschrift f. kath. Theologie 188o.
8) 0 msi svaté, Dr. Josef Kupka, Prag 1899,pg.164-165.
9) Matth.5,17.
10) 1 Sam 8,1-7.
11) Gal.4,29.
12) Batiffol, L'Eglise naissante et le catholicisme, S.2. 7 Aufl. Paris 1919.
13) Weish. 3,7.
14) Johann Peter Kirsch, Die Kirche in der antiken griechisch römischen Kulturwelt, S.89. Herder 193o.
15) Jüdisches Lexikon, Band IV.,col.349.
16) Biblische Altertumskunde von Friedrich Notscher. S.33o, Bonner Bibel 194o.
17) De Cantu et Musica sacra, Martinus Gerbert, Tom l.pg.8, San Blas. 1774.
18) Otto Ursprung, Die katholische Kirchenmusik AVA Potsdam S.3-6.
19) ebendort.
20) Jüdisches Lexikon, Band IV, col.359. |