DIE HAUPTIRRTÜMER DER GEGENWART
NACH URSPRUNG UND URSACHEN
Denkschrift an Seine Eminenz Kardinal Fornari vom 19. Juni 1852
von
Donoso Cortes
aus: "Der Abfall vom Abendland", Wien 1948 , (Herder), S.83ff.
Eure Eminenz!
Bevor ich Eurer Eminenz die kurzen Auskünfte, um die Sie mich in Ihrem
Schreiben vom letzten Mai gebeten haben, zum freundlichen Studium
unterbreite, erscheint es mir nötig, bereits hier die Grenzen
festzulegen, die ich mir selbst bei der Abfassung dieser Denkschrift
gesetzt habe.
Unter den heute vorherrschenden Irrtümern gibt es keinen einzigen, der
sich nicht aus einer Häresie ableiten ließe. Unter den modernen
Häresien gibt es keine einzige, die nicht auf eine andere
zurückzuführen wäre, die schon von altersher von der Heiligen Kirche
verurteilt wurde. Mit den seinerzeitigen Irrtümern hat die Kirche auch
die gegenwärtigen und die zukünftigen verworfen. Obwohl sie
untereinander völlig gleich sind, wenn man sie ihrem Wesen und ihrem
Ursprung nach betrachtet, so bieten diese Irrtümer dennoch das
Schauspiel eines gewaltigen Unterschiedes, wenn man sie nach ihren
Anwendungen beurteilt. Ich nehme mir nun heute vor, sie mehr von der
Seite ihrer Anwendungen zu betrachten, als von der ihres Wesens und
ihres Ursprung´; und zwar noch mehr vom politischen und sozialen
Standpunkt aus gesehen, als von dem rein religiösen. Auch möchte ich
hier mehr das, was an ihnen verschieden ist, als das, was ihnen allen
gemeinsam ist, erwägen; und schließlich auch das, worin sie andauerndem
Wechsel unterworfen sind, als das, worin sie beständig bleiben.
Zwei Gründe haben mich bestimmt, diesen Weg zu beschreiten: Der eine
liegt in meinen persönlichen Verhältnissen, der andere im
eigentümlichen Charakter des Jahrhunderts, in dem wir leben. Was mich
selbst betriift, so habe ich immer geglaubt, daß ich als Laie, aber
auch als Mann des öffentlichen Lebens, die unbedingte Verpflichtung
habe, meine eigene Zuständigkeit zu verneinen, um die heiklen Fragen,
die über verschiedene Gegenstände unseres Glaubens und des Dogmas
gegenwärtig erörtert werden, zu lösen. Was andererseits das Jahrhundert
betrifft, in dem wir leben, so braucht man es nur ein wenig zu
betrachten, um zu erkennen, daß das, was es so traurig berühmt unter
den Jahrhunderten macht, nicht gerade darin liegt, daß es in anmaßender
Weise seine Häresien und Irrtümer theoretisch in alle Welt
hinausposaunt, sondern vielmehr daran, daß es eine satanische Anmaßung
aufbringt, in der Art, wie es die Häresien und die Irrtümer, in die
vergangenen Jahrhunderte gefallen waren, auf die gegenwärtige
Gesellschaft anwendet.
Es gab einmal eine Zeit, in der die menschliche Vernunft sich in
verrückten Spekulationen gefiel und sich schon damit zufrieden gab,
wenn sie es durchgesetzt hatte, im intellektuellen Leben eine
Verneinung einer Behauptung gegenüberzustellen, in der Philosophie
einen Irrtum einer Wahrheit oder in der Religion eine Häresie einem
Dogma. Heute aber gibt sich die gleiche Vernunft nicht damit zufrieden,
wenn sie nicht auch gleichzeitig in die politische und soziale Welt
hinabsteigen kann, um auf diese Weise alles in Unordnung zu stürzen.
Und so bringt sie es zuwege, daß, wie durch eine Zauberei, sich aus
jedem Irrtum ein Zwist ergibt, aus jeder Häresie eine Revolution und
aus jeder ihrer stolzen Negationen ein ungeheurer Zusammenbruch.
Der Baum des Irrtums scheint heute zur vollen, von der Vorsehung
zugelassenen Reife gekommen zu sein, gepflanzt durch das erste
Geschlecht verwegener Irrlehrer, begossen nachher immer wieder und
wieder von neuen Geschlechtern im Irrglauben, zeigte er sich in seinem
Blätterschmuck zu den Zeiten unserer Großväter, in seinen Blüten zur
Zeit unserer Väter, und heute steht er vor uns handgreiflich und mit
Früchten behangen. Seine Früchte sollen auf ganz besondere Weise
verwünscht und verflucht sein, wie es in den früheren Zeiten seine
duftenden Blüten waren, wie es die Blätter waren, die ihn bedeckten,
wie es der Stamm war, der sie trug, und wie es schließlich auch die
Menschen waren, die ihn pflanzten.
Ich will damit nicht sagen, daß dasjenige, was einstens verurteilt
worden ist, nicht auch heute noch einmal verurteilt werden soll. Ich
will nur sagen, daß mir eine besondere Versammlung, ähnlich der
besonderen Umwandlung, der vor unseren Augen die alten Häresien im
gegenwärtigen Jahrhundert unterliegen, in jeder Hinsicht notwendig
erscheint. Jedenfalls ist dieser Gesichtspunkt, unter dem ich die
vorliegende Frage betrachte, der einzige, für den ich mich in gewisser
Beziehung zuständig erkläre.
Nach dem einmal auf diese Weise die rein theologischen Fragen für mich ausscheiden, habe ich mich
aussschließlich mit jenen anderen beschäftigt, die, wenn sie auch
theologisch ihrem Ursprung und ihrem Inhalt nach waren, doch allmählich
infolge langsamer und steter Umwandlungen zu politischen und sozialen
Fragen geworden sind. Aber selbst unter diesen sah ich mich wegen
vielseitiger Verpfliditungen und Mangel an Zeit genötigt, einige
auszuschieiden, und zwar diejenigen, die mir nicht so ausschlaggebend
ersschienen. Andererseits jedoch hielt ich es für meine Pflichit,
einige Punkte zu berühren, über die ich nicht zu einer Stellungnahme
aufgefordert worden bin.
Aus den gleichen Gründen, nämlichden allzu vielen Beschäftigungen und
der allzu kurzen Zeit, die mir dafür zur Verfügung steht, war es mir
leider audi nidit möglich, noch einmal die Bücher der modernen
Häretiker durchzulesen, um mir aus ihnen diejenigen Sätze anzumerken,
deren Inhalt bekämpft und verurteilt werden muß. Gleichwohl habe ich
darüber besonders aufmerksam nachgedacht und bin dabei zu der
Überzeugung gekommen, daß dies in den früheren Zeiten weitaus nötiger
war als heute. Denn zwischen damals und heute ist, genau betrachtet,
folgender bemerkenswerter Untersdüed: In den vergangenen Zeiten waren
die Irrlehren in den Büdiern derart verborgen, daß, wenn man nidit in
diesen Büdiern nach ihnen suchte, man sie sonst nirgends finden konnte.
Hingegen ist der Irrglaube in den Zeiten, die wir durchleben, sowohl in
den Büchern wie audi außerhalb derselben anzutreffen; denn er ist
sowohl in ihnen wie auch überall sonstwo. Er ist in den Büchern, in den
gesellschaftlichen Einrichtungen, in den Gesetzen, in den Zeitungen, in
den Reden, in den Gesprächen, in den Lehrsälen, in den Vereinen, im
eigenen Heim und in der Öffentlichkeit, kurz in allem, was gesagt, aber
auch in allem, was verschwiegen wird. Bei meinem großen Zeitmangel habe
ich zuerst nach dem mir Zunächstliegenden gefragt und mir hat all das,
was um mich herum ist, geantwortet.
Die modernen Häresien sind zahllos; doch haben sie alle, genau
genommen, ihren Ursprung, aber auch ihr Ende in zwei höchst wichtigen
Verneinungen: die eine bezieht sich auf Gott, die andere auf den
Menschen. Die Gesellschaft verneint, daß Gott sich um seine Geschöpfe
sorge. Beim Menschen aber stellt sie in Abrede, daß er in der Erbsünde
empfangen sei. Sein Stolz hat dem Menschen von heute zwei Sätze
zugeflüstert und beide hat er geglaubt, nämlich, daß er keinen Makel
habe und daß er Gott nicht benötige; daß er stark sei und daß er schön
sei. Deswegen sehen wir ihn auf seine Macht so eingebildet und in seine
Schönheit so verliebt.
Wenn man aber die Erbsünde verneint, so verneint man unter vielem
anderen auch folgende grundlegende Lehren: daß das zeitliche Leben nur
ein Leben der Sühne ist, und daß die Erde, auf der sich dieses Leben
abspielt, einem Tränental gleicht; - daß ferner das Licht der Vernunft
nur schwach und flackernd ist; ó daß der Wille des Menschen vielfach
kränklich und schwach ist; - daß der Genuß uns nur als Versuchung
gegeben ist, damit wir uns seines Anreizes erwehren und uns von ihm befreien; - daß der Schmerz
etwas Gutes ist, wenn er aus einem übernatürlichen Beweggrund
freiwillig angenommen wird; - daß uns schließlich die Lebenszeit zu
unserer Heiligung gegeben ist, und daß der Mensch dessen bedarf,
nämlich heilig zu werden.
Wird dies alles aber geleugnet, so kommt man neben vielen anderen zu
folgenden Behauptungen: daß das irdische Leben uns zu dem Zwecke
gegeben sei, um uns durch eigene Kraft und mittels eines unaufhörlichen
Fortschrittes zur höchsten Vollkommenheit zu erheben; - daß der Ort, an
dem wir dieses Leben verbringen, von Grund auf durch den Menschen
umgewandelt werden kann und umgewandelt werden muß; - daß der Mensch
bei gesunder Vernunft sei, und es daher keine Wahrheit gebe, die er
nicht begreifen könne, und daß es andererseits auch keine Wahrheit
gebe, die über die Fassungskraft seiner Vernunft hinausgehen könnte; ó
daß es kein Übel in dieser Welt gebe, das nicht die Vernunft als
solches erkenne, noch auch eine andere Sünde, als jene, von der uns
unsere Vernunft sagt, daß sie Sünde sei; - daß heißt, daß es weder ein
Übel noch eine Sünde gibt als jene, die die Philosophie als eine Sünde
oder ein Übel anerkennt; - daß ferner der Wille des Menschen an und für
sich schon gesund sei und es daher nicht nötig habe, berichtigt zu
werden; - daß wir den Schmerz fliehen und den Genuß suchen sollen; -daß
die Lebenszeit uns gegeben ist, um sie zu genießen.und daß schließlich
der Mensch aus sich heraus gut und unverdorben sei.
Diese Verneinungen und diese Behauptungen in Bezug auf den Menschen
führen zu anderen Verneinungen und zu anderen Behauptungen in Bezug auf
Gott. Unter der Voraussetzung, daß der Mensch nicht in Sünde gefallen
sei, ergibt sich die Leugnung - und es wird auch geleugnet -, daß der
Mensch wiedergeboren wurde. Unter der Voraussetzung, daß der Mensch
nicht wiedergeboren wurde, ergibt sich die Leugnung - und es wird auch
geleugnet - der Mysterien der Erlösung und der Menschwerdung, des
Dogmas vom fleischgewordenen Logos und des Logos selbst. Wenn man
einerseits die natürliche Unversehrtheit des menschlichen Willens
voraussetzt und andererseits sich weigert, anzuerkennen, daß es ein
anderes Übel oder eine andere Sünde gebe, als was die Philosophie dafür
ausgibt, so folgt daraus die Leugnung - und es wird auch geleugnet -
des Einflusses der heiligmachenden Gnade auf den Menschen und damit
gleichzeitig des Dogmas von der dritten göttlichen Person, des Heiligen
Geistes. Aus allen diesen Verneinungen ergibt sich die Leugnung des
erhabenen Dogmas von der Heiligsten Dreifaltigkeit, Eckstein unseres
Glaubens und Fundament aller katholischen Dogmen.
Daraus entspringt das umfassende System des Naturalismus, der den
gründlichen, allgemeinen und vollkommenen Widerspruch aller unserer
Glaubenssätze darstellt. Als Katholiken glauben und bekennen wir, daß
der sündige Mensch immerwährend hilfsbedürftig ist, und daß Gott ihm
diese Hilfe ständig mittels eines übernatürlichen Beistandes gewährt,
in dem seine unendliche Liebe und seine unendliche Barmherzigkeit
zugleich in wunderbarer Weise wirksam sind. Für uns ist das
Übernatürliche die Atmosphäre des Natürlichen, das heißt, jenes
schließt dieses gleichzeitig ein und erhält es, ohne sich fühlbar zu
machen.
Zwischen Gott und dem Menschen gab es einen unergründlichen Abgrund.
Der Sohn Gottes ist aber Mensch geworden und dadurch, daß in ihm beide
Wesenheiten wahrhaft vereint sind, wurde dieser Abgrund ausgefüllt.
Zwischen dem fleischgewordenen Worte Gottes, Gott und Mensch zu
gleicher Zeit, und dem sündhaften Menschen gab es noch eine
unermeßliche Entfernung. Um diese unermeßliche Entfernung zu
überbrücken, setzte Gott zwischen seinen Sohn und sein Geschöpf die
Mutter seines Sohnes, die allerseligste Jungfrau, das Weib ohne Sünde.
Zwischen diesem Weib ohne Sünde und dem sündigen Menschen war die
Entfernung immer noch sehr groß, und Gott setzte in seiner unendlichen
Barmherzigkeit zwischen die allerseligste Jungfrau und den sündigen
Menschen die "heiligen Sünder".
Wer würde nicht eine so erhabene und herrliche, eine so wundervolle und
so vollkommene Anordnung bewundern? Der größte Sünder braucht nicht
mehr, als seine sündige Hand auszustrecken, um den zu finden, der ihm
hilft aus dem Abgrund seiner Sünde auf der Himmelsleiter von Sprosse zu
Sprosse bis zu den Höhen des Himmels emporzugelangen.
Aber dies alles ist nur die sichtbare und äußere Form und, da diese nur
äußerlich uns sichtbar ist, bis zu einem gewissen Grade auch
unvollkommene Form der wunderbaren Wirkungen jener übernatürlichen
Hilfe, mit der Gott dem Menschen beisteht, damit er sidieren Fußes auf
dem rauhen Pfad des Lebens voranschreite. Um sich eine Vorstellung von
dieser wunderbaren Übernatürlichkeit zu machen, ist es notwendig, mit
den Augen des Glaubens in die höchsten und verborgensten Regionen
vorzudringen; es ist nötig, das Augenmerk auf die Kirche zu richten,
wie sie ständig durch die geheimnisvolle Wirksamkeit des Heiligen
Geistes geleitet wird. Es ist notwendig, in das geheime Heiligtum der
Seele einzudringen, um dort zu sehen, wie die Gnade Gottes sie umwirbt
und sie sucht, und wie die Seele des Menschen ihr Ohr jenem göttlichen
Ruf verschjießt oder öffnet, und wie eine stille Unterredung zwischen
dem Geschöpf und seinem Schöpfer sich anknüpft und ständig fortsetzt.
Es ist aber auch nötig, einen Blick auf die Gegenseite zu werfen, auf
das, was dort geschieht, auf das, was dort gesprochen wird und auf das,
was dort der Geist der Finsternis sucht. Wir müssen aber auch erkennen,
wie die Seele des Menschen hin- und herschwankt, wie sie sich müht und
ermüdet zwischen zwei ewigen Welten, um schließlich je nach dem Geist,
dem sie folge, im Reich des Lichtes oder im Abgrund der Finsternis zu
versinken. Es ist nötig, zu sehen und zu erkennen, wie uns zur Seite
der schützende Engel schreitet und mit einem leisen Hauche die bösen
Gedanken vertreibt, damit sie uns nicht bedrängen und wie er seine
Hände vor unsere Füße hält, damit wir nicht straucheln. Man muß aber
auch einen Rückblick auf die Geschichte machen, um zu erfassen, in
welch wundervoller Weise Gott die Schicksale der Menschen lenkt zu
seinem eigenen Ruhme, aber auch zum Heile seiner Auserwählten. Trotzdem
er also der Herr über die Geschicke ist, bleibt dennoch der Mensch
zugleich Herr über seine Handlungen. Es ist erforderlich, daß wir
erkennen, wie er zur rechten Zeit die Eroberer und ihre Eroberungen,
die Feldherren und ihre Schlachten auf den Plan ruft. Und wie er wieder
alles aufrichtet und befriedet n einem Augenblicke, in dem er den
Kriegsgeist vernichtet und den Hochmut der Eroberer zu Fall bringt; wie
er zuläßt, daß sich Tyrannen gegen ein schuldbeladenes Volk erheben,
und wie er zugibt, daß aufsässige Völker manchmal zur Zuchtrute ihrer
Tyrannen werden. Wie er ferner die Stämme miteinander vereint und
andererseits die Klassen voneinander trennt oder sogar die Menschen in
alle Winde zerstreut. Wie er die Reiche dieser Erde ganz nach seinem
Willen sich bilden und wieder zerfallen läßt, wie er sie zu Boden
schmettert und wie er sie bis zu den Wolken hinauf erhebt. Und wir
müssen wohl endlich auch sehen, wie die Menschen verloren und blind
durch dieses Labyrinth der Geschichte wandern, einer Geschichte, die
die Nationen der Menschen sich selbst schreiben, ohne daß auch nur eine
dieser Nationen erklären könnte, wie ihr Aufbau ist, wo ihr Beginn und
wo ihr Ende.
Dieses ganze umfassende und großartige System der Übernatürlichkeit,
das den richtigen Schlüssel und die richtige Erklärung für alle
menschlichen Verhältnisse abgibt, wird ausgesprochen oder
unausgesprochen von allen denen geleugnet, die behaupten, daß der
Mensch ohne Sünde empfangen worden sei. Und die solches heute
behaupten, sind nicht etwa bloß einige Philosophen, nein, es sind auch
die Führer der Völker, die herrschenden Klassen, ja, sogar die
Gesellschaft selbst, die vom Gift dieser zersetzenden Häresie
angesteckt ist.
Hier ist die Erklärung für all das, was wir erleben und was uns in
jener Lage berührt, in die wir nach der Logik dieser Häresie geraten
sind. Wenn das Licht unserer Vernunft nicht verdunkelt °st, dann genügt
dieses Licht, um die Wahrheit ohne Hilfe des Glaubens zu erkennen. Wenn
der Glaube nicht notwendig ist, dann °st der Verstand ein unabhängiger
Herr. Die Fortschritte in der Wahrheit sind dann abhängig von den
Fortschritten des Verstandes; die Fortschritte des Verstandes aber sind
abhängig von dessen beständiger Übung. Diese Übung vollzieht sich am
besten in der Diskussion. Darum ist die Diskussion das wahre
Grundgesetz der modernen Gesellschaft und der einzige Schmelztiegel, in
dem sich, einmal geschmolzen, die Wahrheiten von den Irrtümern
scheiden. Auf diesem Grundsatz beruhen die Freiheit der Presse, die
Immunität der Abgeordneten und die wahre Oberhoheit der Parlamente.
Ferner, ist der Wille des Menschen nicht angekränkelt, dann genügt ihm
schon die Anziehungskraft des Guten, um seiner Spur zu folgen, ohne den
übernatürlichen Beistand der göttlichen Gnade. Wenn der Mensch dieses
Beistandes nicht bedarf, dann benötigt er weder die heiligen
Sakramente, die ihm einen solchen Beistand gewähren können, noch auch
die Gebete, die ihm dazu verhelfen. Wenn das Gebet nicht erforderlich
ist, dann ist es also müßig. Wenn es müßig ist, dann ist auch das
kontemplative Leben nur Müßiggang. Ist aber das kontemplative Leben
müßig und unnütz, dann sind es zum größten Teil auch die religiösen
Orden und Genossenschaften. Damit erklärt sich aber auch, warum überall
dort, wo diese Auffassung Platz gegriffen hat, auch jene Orden
aufgelöst wurden. Wenn der Mensch nicht mehr die heiligen Sakramente
benötigt, dann braucht er natürlicherweise auch niemanden, der sie ihm
spendet; und wer Gott nicht benötigt, der bedarf auch nicht seiner
Mittler auf dieser Welt. Daraus entspringt die Verachtung und die
Vertreibung der Priester dort, wo diese Ideen Wurzel gefaßt haben. Die
Mißachtung des Priestertums läuft überall auch auf eine Mißachtung der
Heiligen Kirche hinaus; und die Mißachtung der Kirche kommt einer
Mißachtung Gottes selbst überall gleich.
Wenn man den Einfluß Gottes auf den Menschen leugnet und wenn man
dadurch auch neuerdings - soweit es überhaupt möglich ist - zwischen
dem Schöpfer und seinem Geschöpf einen unergründlichen Abgrund
aufreißt, dann trennt sich auch in einem Augenblick die Gesellschaft
instinktiv von der Heiligen Kirche im gleichen Maße. Darum ist dort, wo
Gott in seinen Himmel verbannt wird, auch die Kirche in ihr Heiligtum
verbannt; und umgekehrt, dort, wo der Mensch der Herrschaft Gottes
Untertan ist, unterwirft er sich auch selbstverständlich und
gefühlsmäßig der Herrschaft seiner Heiligen Kirche. Alle Jahrhunderte
bezeugen diese ewige Wahrheit, und davon legt ebenso das gegenwärtige
Jahrhundert wie die vergangenen ein beredtes Zeugnis ab.
Nachdem aber auf diese Weise alles, was übernatürlich ist, beseitigt
und die Religion in einen unklaren Deismus umgewandelt wurde, wendet
der Mensch, der ja nun nicht mehr der Kirche, die in ihrem Heiligtum
verschlossen wird, bedarf, noch auch Gottes bedarf, der in seinem
Himmel gefangen ist, so wie der Gigant Enkelados unter seinem Felsen, -
dann wendet also dieser Mensch sein Augenmerk der Erde zu und widmet
sich ausschließlich der Pflege seiner materiellen Interessen. Das ist
das Zeitalter der Utilitätsprinzipien, der Expansion des Handels, des
Industrialisierungsfiebers, des Übermutes der Reichen und des Unwillens
der Armen. Diesem Zustand des materiellen Reichtums und der religiösen
Dürftigkeit folgt immer eine jener ungeheuren Katastrophen, die
Überlieferung und Geschichte für ewig dem Gedächtnis der Menschen
einprägen. Zu ihrer Beschwörung kommen dann die Klugen und Schlauen im
Rate zusammen. Die Sturmflut aber stürzt unaufhaltsam einher, wirft
ihre Pläne mit einem plötzlichen Stoß über den Haufen und verschlingt
alle samt ihren Beschwörungen.
Damit will ich sagen, daß es völlig ausgeschlossen ist, den Ausbruch
von Revolutionen wie auch das Auftreten von Tyrannen zu verhindern.Denn
beides ist ja im Grunde ein und dasselbe, da beide sich nur auf eine
Gewaltherrschaft stützen, die allein noch zu regieren vermag, nachdem
man die Kirche in ihr Heiligtum und Gott in seinen Himmel verbannt hat.
Der Versuch, das Vacuum auszufüllen, das ihre Abwesenheit in der
Gesellschaft erzeugt, und zwar dadurch, daß man die öffentliche Gewalt
auf künstliche und wohlbcrechncte Art aufteilt, ist eine törichte
Anmaßung und bleibt vergeblich. Er gleicht hierin dem Unterfangen, da
die Lebensgeister schon gewichen sind, auf künstlichem Wege und durch
rein mechanische Mittel das Wunder des Lebens wieder hervorbringen zu
wollen. Ebenso wie weder die Kirche noch auch Gott eine Form sind, so
könnte auch nicht irgendwelche formalistische Konstruktion die große
Leere, die sie zurücklassen, ausfüllen, wenn sie sich beide einmal von
der menschlichen Gesellschaft zurückgezogen haben; und umgekehrt, es
gibt keine Regierungsform, die von Grund auf gefährlich werden könnte,
solange sich unter ihr Gott und die Kirche frei bewegen können, das
heißt, wenn die Sitten und Gebräuche ihnen entsprechen und die Zeiten
günstig sind.
Es gibt keinen Vorwurf, der merkwürdiger wäre als jener, daß man
einerseits den Katholizismus beschuldigt, die Herrschaft der Massen zu
fördern, andererseits behauptet, daß derselbe Katholizismus die
Erringung der Freiheit behindere, ja sogar die Ausbreitung des Absolutismus
begünstige. Gibt es etwas Widersinnigeres, als das erstere jenem
Katholizismus vorzuwerfen, der nicht aufgehört hat, die blutigen
Revolutionen zu verurteilen und den Gehorsam als heilige Verpflichtung
für alle Menschen einzuschärfen? Gibt es' aber auch etwas
Widersinnigeres, als die zweite Behauptung der einzigen Religion auf
Erden vorzuwerfen, die die Völker lehrt, daß kein Mensch ein Recht über
den anderen habe, da jede Autorität von Gott kommt? Die weiterhin
erklärt, daß keiner Größe besitzen werde, der sich nicht in seinen
Augen als klein erscheint? Daß die Regierungen für das Wohl des
Menschen eingesetzt sind? Daß Befehlen in Wahrheit Dienen heißt, und
daß schließlich die Ausübung der höchsten Gewalt ein Dienst ist, und
damit auch ein Opfer beinhaltet? Diese Grundsätze, die uns von Gott
geoffenbart und von seiner Heiligen Kirche ganz und unversehrt bewahrt
wurden, bilden das öffentliche Recht aller christlichen Nationen.
Dieses öffentliche Recht ist die fortwährende Bekräftigung der wahren
Freiheit, weil es einerseits die fortwährende Verurteilung jenes
Anspruches ist, den sich die Völker anmaßen, wenn sie, statt zu
gehorchen, sich empören; und andererseits auch die Verurteilung jenes
anderen Anspruches, den die Herrscher erheben, indem sie ihre Macht in
eine Tyrannei umgestalten. Die Freiheit besteht ja gerade in der
Verwerfung dieser beiden Ansprüche, und dies ist von solcher Bedeutung,
daß damit die Freiheit unvermeidlich und daß ohne diese Erkenntnis die
Freiheit unmöglich ist. Die Bejahung der Freiheit und die Verwerfung
jener Ansprüche sind, genau betrachtet, nur zwei verschiedene
Ausdrucksweisen für ein und dieselbe Sache. Daraus ergibt sich aber,
daß der Katholizismus weder den Tyranneien noch den Revolutionen
günstig gesinnt ist. Vielmehr, daß er allein sie bekämpft hat. Nicht
nur, daß er kein Feind der Freiheit ist, hat er allein mit jener
doppelten Verurteilung den wahren Begriff der wirklichen Freiheit
enthüllt.
Nicht weniger widersinnig ist die Unterstellung einiger, daß die
Religion, die wir bekennen, und die Heilige Kirche, die diese Religion
darstellt und lehrt, die freie Nutzung des nationalen Reichtums, eine
gute Lösung der wirtschaftlichen Fragen und die Förderung des
materiellen Wohlstandes aufhalten wollten, oder sie zumindestens nur
ungern sähen. Wenn es auch gewiß ist, daß die Religion sich zur Aufgabe
stellt, nicht die Völker mächtig, sondern glücklich, nicht die Menschen
reich, sondern heilig zu machen, so ist es ebenso gewiß, daß einer
ihrer vornehmsten und erhabensten Lehrsätze dem Menschen seine ihm von
der Vorsehung übertragene Aufgabe offenbart, nämlich die ganze Natur
umzuwandeln und durch seine Arbeit in den Dienst ªeiner Zwecke zu
stellen. Was die Heilige Kirche sucht, ist ein gewisses Gleichgewicht
zwischen den materiellen, den moralischen und den religiösen
Interessen. Was sie mit diesem Gleichgewicht will, ist, daß jedes Ding
seinen ihm zukommenden Platz einnimmt und daß es Platz für alle Dinge
gibt. Und was sie letzten Endes noch zu erreichen sucht, ist, daß der
Vorrang den moralischen und religiösen Interessen zukommt, denen daher
die materiellen Interessen nachstehen müssen. Das aber nicht nur
deswegen, weil es so die Grundsätze der Ordnung fordern, sondern auch,
weil uns die Vernunft sagt und die Geschichte lehrt, daß jenes
Übergewicht der moralischen und religiösen Interessen unbedingt für die
Harmonie des Lebens notwendig ist. Denn nur auf diese Weise können und
werden auch gewiß die großen Katastrophen beschworen werden, die
jederzeit dort ausbrechen können, wo das Übergewicht und das
ausschließliche Überhandnehmen der materiellen Interessen die Begierden
der Masse in Gärung versetzt.
Andere wieder sind heute wohl davon überzeugt, daß die Welt, wenn sie
nicht zugrunde gehen will, der Hilfe unserer Religion und unserer
Heiligen Kirche bedarf. Allein sie scheuen sich, diesem Joch sich zu
unterwerfen, das, wenn es auch für die Demütigen sanft ist, doch für
die Stolzen nur schwer zu ertragen ist. Und so suchen sie denn einen
Ausweg in einer Zwitterstellung, in dem sie gewisse Lehren und
Forderungen der Religion und der Kirche wohl annehmen, aber dafür
andere, die sie als übertrieben betrachten, verwerfen. Solche Leute
sind umso gefährlicher, als sie sich mit einer gewissen unparteiischen
Miene, die zur Täuschung und Verführung sehr geeignet ist, zum
Schiedsrichter aufwerfen und den Irrtum und die Wahrheit zwingen, vor
ihrem Gericht zu erscheinen; und mit verstellter Zurückhaltung tun sie,
als ob sie weiß Gott was für eine Vermittlerrolle zwischen beiden
spielten. Gewiß, die Wahrheit findet sich zwischen den
entgegengesetztesten Irrtümern. Jedoch zwischen der Wahrheit und einem
Irrtum kann es niemals eine Vermittlung geben! Denn zwischen diesen
beiden Gegenpolen gibt es nichts, aber auch gar nichts! Nichts als eine
unendliche Leere. Wer sich in diesen leeren Raum begibt, ist von der
Wahrheit ebenso weit entfernt wie der, der sich auf die Seite des
Irrtums schlägt. Denn in der Wahrheit ist nur derjenige, der mit ihr
völlig eins geworden ist. Das sind die wichtigsten Irrtümer jener
Menschen und jener Klassen, denen in unseren Zeiten das traurige
Vorrecht zuteil geworden ist, die Völker zu regieren. Wenn man jedoch
seine Blicke der anderen Seite zuwendet und diejenigen ins Auge faßt,
die mit dem Anspruch auf das große Erbe der Regierung hervortreten, so
kann man diesen Anspruch einfach nicht begreifen, und es verwirren sich
einem die Gedanken, da man hier nur noch verderblicheren und
abscheulicheren Intümcrn begegnet. Das ist vor allem jedoch
beachtenswert, weil diese Irrtümer, so verderblich und abscheulich sie
auch sein mögen, nidus als die logischen Folgerungen, und, weil sie
logisch sind, auch die unvermeidlichen Folgerungen der eben behandelten
Irrtümer sind.
Unter der Voraussetzung der unbefleckten Empfängnis des Menschen und
damit der Unversehrtheit des menschlichen Wesens stellen manche wohl an
sich selbst die Frage: Wenn unsere Vernunft so klar ist und unser Wille
so rechtschaffen und vortrefflich, waium sollen da unsere
Leidenschaften, die in uns herrschen, wie unser Wille und unser
Verstand nicht ebenfalls gut sein? Andere wiederum fragen sich: Wenn
die Diskussion dazu dient, um zur Wahrheit zu kommen, warum soll es da
Dinge geben, die ihrem entscheidenden Richterspruch entzogen werden?
Andere hingegen können nicht begreifen, daß, unter den besprochenen
Voraussetøungcn, die Freiheit des Denkens, Wollens und Schaffens nicht
eine unbedingte sein soll. Diejenigen, die sich mit religiösen
Streitfragen befassen, legen sich die Frage vor, warum Gott, wenn er
für die Gesellschaft nicht gut genug ist, noch der Himmel zugebilligt
wird, und warum der Kirche, die ja zu nichts mehr taugt, noch das Recht
auf ein Heiligtum zustehen soll? Wieder andere stellen sich die Frage,
warum man nicht den Versuch wagen könne, den Genuß bis zur vollen
Befriedigung der Begierden zu steigern und so dieses Tränental in einen
Garten der Freude zu verwandeln, - umso mehr, da doch der Fortschrill
im Wohlergehen ein unendlicher sein soll? Die Philanthropen zeigen sich
entrüstet, wenn sie einem Armen auf der Straße begegnen; sie können
nicht begreifen, wie ein Armer, der doch so häßlich ist, überhaupt ein
Mensch sein kann, ja vielmehr, wie der Mensch, der doch so schön ist,
überhaupt arm sein kann. Worin sie aber alle in dieser oder jener
Formulierung übereinstimmen ist, daß sie es unbedingt für erfordcrlidi
halten, die Gesellschaft zu unterwühlen, die Regierungen abzuschaffen
und den Reichtum aufzuteilen, und so mit einem Schlage alle
menschlichen und göttlichen Gesetze aufzuheben.
Wiewohl man es kaum für möglich halten würde, so gibt es noch einen
Irrtum, der, wenn auch bei weitem nicht so verwerflich, für sich allein
betrachtet, dennoch durch seine Folgen schwerwiegender ist als alle
diese Verirrungen selbst. Ich meine damit die Blindheit jener, die den
Zusammenhang zwischen diesen Irrtümern und jenen Häresien nicht sehen
wollen und sich dagegen sträuben, daß jene aus diesen notwendig und
unvermeidlich hervorgehen müssen. Wenn die Gesellschaft sichnicht bald
von diesem Irrtum befreit und wenn sie, einmal davon frei, nicht die
einen als Folgen und die anderen als ihre Voraussetzungen verurteilt,
und zwar mit einer gründlichen und endgültigen Verurteilung, dann ist
diese Gesellschaft, menschlich gesehen, für immer verloren.
Derjenige, der die höchst unvollkommene Aufzählung, die ich eben von
diesen furchtbaren Irrtümern gemacht habe, liest, wird feststellen
können, daß die einen von ihnen unbedingt zu einer allgemeinen
Auflösung führen und unfehlbar auf eine Anarchie hinauslaufen müssen,
die anderen hingegen zu ihrer Verwirklichung einen Despotismus in
unerhörten und riesigen Ausmaßen benötigen. Die erste Gruppe umfaßt
diejenigen Irrtümer, die sich eine Übersteigerung der menschlichen
Freiheit und die gewaltsame Zerstörung aller Einrichtungen zum Ziel
setzen. Zur zweiten Gruppe gehören diejenigen, die eine völlige
Umwälzung propagieren. In der politischen Wissenschaft werden die
Anhänger der ersteren Art von Irrtümern als Sozialisten, diejenigen,
die für deren zweite Art eintreten, als Kommunisten bezeichnet. Was
jene vor allem anstreben, ist die unbegrenzte Ausdehnung der
individuellen Freiheit, und zwar auf Kosten der Staatsobrigkeit, die
beseitigt werden soll. Die anderen dagegen erstreben die völlige
Unterdrückung der menschlichen Freiheit und eine Ausdehnung der
Staatsgewalt ins Kolossale. Die ausführlichste Darlegung des ersten
dieser Lehrsätze findet sich in den Schriften des Herrn Emile de
Girardin und im letzten Buche des Herrn Proudhon. Jener hat die
Zentrifugalkraft, dieser die Zentripetalkraft der künftigen
Gesellschaft entdeckt, einer Gesellschaft, die von den sozialistischen
Ideen beherrscht sein und zwei einander vollkommen entgegengesetzten
Bewegungen ausgeliefert sein wird; und zwar einer zentrifugalen
Bewegung, die durch die unbeschränkte Freiheit, und einer zentripetalen
Bewegung, die durch den Wust von Papier und Akten hervorgerufen wird.
Was den Kommunismus betrifft, so besteht er in der Beseitigung aller
Freiheiten und alles Eigentums zugunsten eines Überstaates.
Das Erstaunliche und Ungeheuerliche aller dieser sozialen Irrtümer ist
letzten Endes auf die religiösen Häresien zurückzuführen, aus denen sie
sich allein erklären lassen. Die Sozialisten geben sich nicht
zufrieden, Gott in den Himmel zu verbannen; sie gehen vielmehr weiter,
bekennen sich offen zum Atheismus und leugnen das Dasein Gottes
überhaupt. Wenn man aber Gott, die Quelle und den Ursprung jeder
Autorität, verleugnet, dann ergibt sich daraus logisch die Leugnung der
Autorität selbst, und zwar bedingungslos und vollständig. Die Leugnung
der weltumfassenden Vaterschaft Gottes bringt mit sich die Verneinung
der Vaterschaft in der Familie. Die Leugnung der religiösen Autorität
hat ebenso logisch die Leugnung der politischen Autorität zur Folge.
Wenn einmal der Mensch ohne Gott auskommen will, dann sofort auch der
Untertan ohne König und der Sohn ohne Vater.
Was den Kommunismus angeht, so erscheint es mir offensichtlich, daß er
von den pantheistischen und verwandten Häresien seinen Ausgang genommen
hat. Wenn Gott alles und alles Gott ist, dann ist Gott vor allem die
Volksherrschaft und die Volksmasse; die Individuen als göttliche Atome
und nichts weiter gehen aus dem All hervor, das sie unaufhörlich zeugt,
um wieder in das All zurückzukehren, das sie unaufhörlich verschlingt.
In diesem System ist das, was nicht das All ist, auch nicht Gott, wenn
es auch an der Göttlichkeit teilhaben sollte, und das, was nicht Gott
ist, ist nicht, weil es außerhalb Gottes, der alles ist, nichts gibt.
Daher kommt auch jene hochmütige Verachtung des Menschen von Seiten der
Kommunisten und jene brutale Verneinung der menschlichen Freiheit.
Daher stammen jene maßlosen Anstrengungen, die Macht über die
Allgemeinheit durch die künftige Demagogie zu erreichen, die sich über
alle Kontinente ausbreiten und bis zu den äußersten Grenzen reichen
soll. Daher kommt jene wahnsinnige Wut, alle Familien zu zerreißen und
zu vermischen, aber darüber hinaus auch alle Gesellschaftsklassen, alle
Völker und alle Menschenrassen, um sie in dem großen Revolutionsmörser
zu zerstoßen. Damit aus jenem finsteren und bluttriefenden Chaos sich
eines Tages der einzige Gott, der Gott der Gleichheit, als Sieger über
alle Ungleichheit erhebe, der Gott des Kollektivs als Sieger über alles
Private; der Gott der Unendlichkeit ohne Anfang und Ende als Sieger
über alles Entstehen und Vergehen: Der Gott Demagogie, von den jüngsten
Propheten verkündet, das einzige Gestirn am Himmel der Zukunft, vom
Sturm getragen, umzuckt von Blitzen und von den Orkanen gefeiert. Die
Demagogie ist das neue All, der wahre Gott, ausgestattet mit einer
einzigen Eigenschaft, nämlich der Allmacht. Dies ist der Sieger über
die drei Schwächen des katholischen Gottes, der Sieger über die Güte,
die Liebe und die Barmherzigkeit! Wer würde ihn nicht an seinen Zügen
wiedererkennen, ihn, den Gott des Stolzes, Luzifer?
Geht man näher auf diese verwerflichen Lehren ein, dann ist es
unmöglich, an ihnen das geheimnisvolle, aber dennoch sichtbare Zeichen
zu übersehen, das der Irrtum in der Zeit der Apokalypse tragen muß.
Wenn die religiöse Scheu mich nicht daran hinderte, die Augen auf jene
furchtbaren Zeiten zu lenken, dann fiele es mir nicht schwer, meine
Meinung hierüber auf überzeugende Vernunftgründe ähnlicher Fälle zu
stützen, wonach das große Reich des Antichrist ein Koloß der Demagogie
sein wird, der durch einen plebejischen Menschen, doch von satanischer
Macht regiert werden wird, nämlich von dem "Manne der Sünde".
Nachdem ich einen allgemeinen Überblick über die hauptsächlichsten
Irrtümer der heutigen Zeiten gegeben und nachgewiesen habe, daß alle in
ihrem Ursprung auf irgendeine Häresie zurückgehen, erscheint es mir
angemessen, ja sogar erforderlich, an einigen Beispielen diese
Abhängigkeit zu verdeutlichen. So °st es mir eine unzweifelhafte
Tatsache, daß alles, was die göttliche Regierung über den Menschen
beeinträchtigt, in gleichem Maße und auf gleiche Weise jene Regierungen
in Mitleidenschaft zieht, die sich die bürgerlichen Gesellschaften
eingerichtet haben.
Der erste religiöse Irrtum der neueren Zeit war der Grundsatz von der
Unabhängigkeit und ausschließlichen Herrschaft der menschlichen
Vernunft. Diesem Irrtum in der religiösen Ordnung entspricht in der
politischen Ordnung jener, der in der These von der Herrschaft der
Intelligenz besteht. Daher sind auch jene Gesellschaften, in denen die
Herrschaft der Intelligenz die allgemeine Grundlage des öffentlichen
Rechtes bildete, die ersten gewesen, die von der Revolution heimgesucht
wurden. Auf diese Weise sind die konstitutionellen Monarchien
entstanden mit ihrem Wahlzensus, ihrer Gewaltentrcnnung, ihrer
Pressefreiheit und Immunität ihrer Abgeordneten.
Der zweite Irrtum bezieht sich auf den Willen und besteht im Hinblick auf die religiöse Ordnung darin, daß
man behauptet, der Wille sei an und für sich schon gut und bedürfe
weder der Anreize noch der Anleitung durch die Gnade, um sich dem Guten
zuzuwenden. Diesem Irrtum entspricht in der politischen Ordnung
derjenige, der sich auf die Behauptung stützt, daß es nur einen guten
Willen gebe und daß es daher auch keinen Willen geben dürfe, der
geleitet wird, also sich nicht selbst bestimmt. Auf diesem Grundsatz
gründet sich das allgemeine Stimmrecht und hier findet das
republikanische System seinen Ursprung.
Der dritte Irrtum bezieht sich auf die Degierden und besteht in der
religiösen Ordnung darin, daß man behauptet, der Mensch sei ohne Sünde
empfangen und würde daher durch seine Begierden nur ausgezeichnet.
Diesem Irrtum entspricht in der politischen Ordnung jener, der die
Regierungen nur zu
einem Zwecke geschaffen sein läßt: nämlich zur Befriedigung aller
Begierden. Auf diesem Grundsatz sind alle sozialistischen und
demagogischen Systeme aufgebaut, deren Parteigänger heute um die
Herrschaft kämpfen und die, wenn die Dinge weiter ihren natürlichen
Lauf auf so abschüssiger Bahn nehmen sollten, sie früher oder später
erlangen werden.
Es zeigt sich also: Jede Häresie stört die Ordnung. Einerseits
bestreitet sie die Erbsünde und behauptet zugleich andererseits, daß
der Mensch einer göttlichen Führung nicht bedürfe. So führt sie
zunächst zur Forderung der Alleinherrschaft des Verstandes, dann zu der
des Willens, und endlich, daß allein die Leidenschaften zu herrschen
haben, das heißt also zu einer dreifachen, alle Ordnung zerstörenden
Herrschaft.
Man braucht daher nur zu wissen, was auf religiösem Gebiete Gott
zugebilligt oder verweigert wird, um auch zu wissen, was auf
politischem Gebiete der Regierung zugestanden oder abgesprochen wird.
Wenn auf religiösem Gebiet ein vager Deismus vorherrscht, dann kommt
man trotz des Zugeständnisses, daß Gott über die Schöpfung herrsche,
dazu, zu leugnen, daß er sie regiere. Dann ist aber auch auf
politischem Gebiete der parlamentarische Grundsatz vorherrschend: Der
König herrscht, aber er regiert nicht!
Wird die Existenz Gottes geleugnet, dann verweigert man auch alles der
Regierung, sogar ihre Daseinsberechtigung. In solchen fluchbeladenen
Epochen erheben sich die anarchistischen Ideen der sozialistischen
Schulen und verbreiten sich mit beängstigender Geschwindigkeit.
Wenn schließlich die Idee von Gott und von der Schöpfung so sehr
ineinander übergehen, daß man zur Behauptung kommt, die Gesdiöpfe seien
Gott, und Gott sei nur ihr Inbegriff, dann bekommt, so wie der
Pantheismus auf dein religiösen, der Kommunismus auf politischem
Gebiete das Übergewicht. Und Gott, der endlich dieser Lästerungen
überdrüssig ist, überläßt den Menschen verworfenen und verwerflichen
Tyrannen auf Gnade und Ungnade.
Ich wende meinen Blick zurück auf die Heilige Kirche. Es ist mir ein
Leichtes, nachzuweisen, daß sie den gleichen Irrtümern ausgesetzt
gewesen ist, jenen Irrtümern, die sich dem Wesen nach immer gleich
bleiben, ob sie sich nun gegen Gott richten oder seine Heilige Kirche
bedrängen oder den Umsturz der Gesellschaft betreiben.
Die Heilige Kirche kann von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus
betrachtet werden: erstens in sich selbst als eine unabhängige und
vollkommene Gesellschaft, die in sich selbst alles besitzt, was sie
benötigt, um sich ohne Einschränkung betätigen und in weitestem Umfange
bewegen zu können; zweitens in ihren Beziehungen zur bürgerlichen
Gesellschaft und zu den Regierungen dieser Erde.
Vom Standpunkt ihres inneren Organismus aus betrachtet, sah sich die
Kirche immer in die Notwendigkeit versetzt, gegen den gewaltigen
Ansturm sehr verderblicher Irrtümer Stellung zu nehmen. Hierbei ist
besonders bemerkenswert, daß zu den schädlichsten Irrtümern jene
zählen, die ihre Einheit in dem angreifen, was an ihr das Wunderbarste
und Vollkommenste ist, nämlich dem Papsttum, dem Grundstein des
göttlichenGebäudes. Einer dieser Irrtümer zählt vor allem dazu, nämlich
jener, der den Stellvertreter Jesu Christi auf Erden die alleinige und
unteilbare Nachfolge in der apostolischen Gewalt über die Allgemeinheit
abstreitet, indem er die Vermutung aufstellt, daß die Bischöfe als
Miterben sich ebenfalls in diese Gewalt geteilt haben. Wenn dieser
Irrtum Oberhand gewinnen könnte, dann würde sich bald heillose
Verwirrung und größte Unordnung der Kirche Gottes bemächtigen und so
eine Aufteilung der päpstlichen Gewalt, die eine unteilbare, nicht
übertragbare Oberhoheit darstellt.die Kirche in eine der unruhigsten
Aristokratien verwandeln. Wenn man dem Pontifex maximus nur die Ehre
des bloßen Vorsitzes läßt, ihm aber die Entscheidung und die
tatsächliche Regierungsgewalt wegnimmt, ja wenn dieser Irrtum zur
Herrschaft käme, dann würde der Papst ebenso überflüssig und in seinen
Vatikan verbannt, wie unter einer Herrschaft der deistischen Häresien
Gott überflüssig und in seinen Himmel verbannt wird. Genau so wie der
König unter der Herrschaft eines irrigen Parlamentarismus nutz- und
zwecklos auf seinen Thron bechränkt bliebe.
Diejenigen, die sich nur ungern der Herrsdiaft der Vernunft beugen,
geben zumindest der Herrsdiaft des Willens - wenn sie aristokratisch
gesinnt sind - den Vorzug; sind sie aber demokratisdier Gesinnung, so
verfallen sie dem Irrglauben, daß jeder sein eigener Priester sei, was
der Republik in der Kirche gleich käme. So stimmen sie ja auch dem
allgemeinen Stimmrecht zu, das die Republik in den bürgerlidien
Gesellschaften bedeutet. Diejenigen aber, die sich in die individuelle
Freiheit verliebt haben und diese so weit übertreiben, daß sie ihr eine
schrankenlose Herrsdiaft zuerkennen und die Beseitigung aller
übergeordneten Einrichtungen fordern,verfallen dann, soweit es sich auf
die politische Ordnung bezieht, auf die vertragsinäßige Gesellschaft
eines Proudhon und, soweit es sich auf die religiöse Ordnung bezieht,
sdiwärmen sie für die persönliche Erweckung, zu der sich einige
fanatische Sektierer in den Religionskriegen Englands und Deutschlands
als Glaubenssatz bekannt haben.
Diejenigen endlich, die durch die Irrtümer der Pantheisten verführt
werden, gelangen auf kichlichem Gebiet zur unteilbaren Herrschaft der
Masse aller Gläubigen wie auf religiösem Gebiet zur Vergöttlidiung
aller Geschöpfe und auf politisdiem Gebiet zur Einführung eines alles
umfassenden und alles verschlingenden kommunistischen Staates.
Alle diese Irrtümer, die gegen die hierarchische Ordnung der von Gott
geschaffenen Kirche gcrichtet sind, verlieren, so schwer sie auch vor
dem Forum der Theologie wiegen mögen, ganz außerordentlich an Bedeutung
auf dem Boden der Tatsachen, da es gänzlidi ausgeschlossen erscheint,
daß sie in einer Gesellschaft sich durchzusetzen vermöchten, die vor
ihren Verheerungen durch die göttlichen Verheißungen geschützt ist. Das
Gegenteil gilt von jenen anderen Irrtümern, die das Verhältnis von
Religion und Politik, von Staat und Kirdie berühren. Diese Irrtümer
waren schon in vergangenen Jahrhunderten so mächtig, daß sie den
Frieden der Volker stören konnten. Sie sind es auch jetzt noch, wenn
auch nicht so mächtig, um die unaufhaltsame Ausbreitung der Kirche über
die ganze Erde verhindern zu können; immerhin aber dodi noch mächtig
genug, um dieser Ausbreitung Hindernisseund Schwierigkeiten in den Weg
zu legen und den Tag hinauszuzögern, an dem die Grenzen der Kirche die
Grenzen der Erde selbst sein werden.
Diese Irrtümer sind verschiedener Art, und zwar behauptet man von der
Kirche einmal, daß sie dem Staate gleichzustellen sei, das andere Mal,
daß sie dem Staate untergeordnet sei, oder wiederum, daß sie überhaupt
nichts mit dem Staate zu tun habe. Oder endlich, daß die Kirche zu
überhaupt nichts nütze. Der erste dieser Irrtümer ist die Behauptung
der gemäßigteren Anhänger eines Staatskirchentums, der zweite eine
Behauptung der radikalen Anhänger dieser Schule. Die dritte Auffassung
entspricht den Revolutionaren, die als erste Prämisse ihrer Forderungen
den letzten Schluß der Vertreter einer Staatskirche hinstellen. Der
letzte Irrtum aber ist eine Behauptung der Sozialisten und Kommunisten,
das heißt, aller radikalen Lehren, die als Ausgangspunkt ihrer
Argumentation den letzten Schluß nehmen, bei dem die revolutionäre
Schule stehengeblieben ist.
Die Lehre der Gleichberechtigung von Kirche und Staat veranlaßt die
gemäßigteren Vertreter einer Staatskirche, eine Angelegenheit, die
beide Teile angeht, für rein weltlich zu erklären, zugleich eine
Angelegenheit, die ausschließlich der kirchlichen Macht unterliegt, als
beiderseitige Interessen zu behaupten. Sie sind gezwungen, zu diesen
gewaltsamen Aneignungen ihre Zuflucht zu nehmen, um damit die Mitgift
oder das Erbgut des Staates zu bestreiten, das er in diese angeblich
auf gleichen Rechten ihrer Teile beruhenden Gesellschaft mitbringt.
Nach dieser Lehre sind nahezu alle Fragen, die das Verhältnis von
Kirche und Staat berühren, strittig, und alles Strittige soll durch
Vergleiche und Konkordate aus der Welt geschafft werden. Nach dieser
Lehre ist das Placet für päpstliche Bullen oder apostolische Breven
ebenso unentbehrlich wie die Überwachung, Genehmigung und Zensur, die
im Namen des Staates der Kirche gegenüber ausgeübt werden.
Die Behauptung der Unterordnung der Kirche unter den Staat zwingt die
konsequenten Anhänger des Staatskirchentums, den Grundsatz der
Nationalkirche aufzustellen, des Rechtes der Staatsgewalt, die mit dem
Heiligen Stuhl vereinbarten Konkordate einseitig zu lösen und über die
Kirchengüter zu verfügen, sowie schließlich die Kirche durch Erlässe
oder Gesetze zu regieren, die in den Parlamenten beschlossen werden.
Jene Theorie wieder, nach der die Kirche mit dem Staate nichts gemein
hat, zwingt die Anhänger der revolutionären Schule, für die völlige
Trennung von Staat und Kirche einzutreten. Daraus ergibt sich als
notwendige Folge der weitere Grundsatz, daß der Unterhalt des Klerus
und die Kosten des Kultus ausschließlich Sache der Gläubigen sind.
Die Irrlehre endlich, die die Kirche für überflüssig erklärt, was ja
auf ihre Leugnung hinausläuft, führt zur gewaltsamen Unterdrückung des
Priesterstandes, und zwar durch Dekret, das naturgemäß in einer
Verfolgung der Religion zur Durchführung kommen muß.
Man sieht also, daß diese Irrtümer nur eine Wiederholung und Abwandlung
jener Irrtümer sind, die wir schon auf anderen Gebieten festgestellt
haben. Das gleichzeitige Dasein von individueller Freiheit und
staatlicher Autorität in der Politik, von freiem Willen und Gnade in
der Moral, von Vernunft und Glauben im Geistesleben, von göttlicher
Vorsehung und menschlicher Freiheit in der Geschichte führt zuletzt
zurück auf die Gleichzeitigkeit zweier Welten, von Natur und Übernatur,
die auf dem höchsten Gebiete der spekulativen Wissenschaft in
Erscheinung tritt und die Gleichheit in den bejahenden und
verneinenden, jedoch in diesem wie in jenem Falle falschen Behauptungen
ebenso wie das gleichzeitige Dasein von Kirche und Staat begründet.
Alle diese Irrtümer, die ihrem Wesen nach identisch sind, müssen ihrer
Anwendung nach unterschieden werden, führen aber auch in dieser
Hinsicht zu den gleichen verhängnisvollen Ergebnissen. Wenn sie nämlich
auf das gleichzeitige Dasein von individueller Freiheit und staatlicher
Autorität angewendet werden, dann rufen sie Unruhe, Anarchie und
Revolution in dem betroffenen Staat hervor. Wenn sie den freien Willen
und die Gnade zu ihrem Gegenstand wählen, dann haben sie zunächst die
Zersplitterung und den inneren Zwist zur Folge, hernach zügellose
Erhebung des freien Willens und schließlich das tyrannische Regiment
der Triebe in den Herzen der Menschen; wenn sie auf die Vernunft und
den Glauben angewendet werden, dann kommt es zuerst zum Streit zwischen
beiden, hernach zur Verwilderung, zur Verwirrung und Blendung der
menschlichen Vernunft; wenn sich aber diese Irrtümer gegen die
Gleichzeitigkeit von menschlicher Vernunft und Vorsehung Gottes
richten, dann rufen sie alle jene Katastrophen herbei, von denen das
Schlachtfeld der Geschichte übersät ist; wenn sie schließlich auf das
gleichzeitige Dasein der natürlichen und der übernatürlichen Ordnung
angewendet werden, dann verbreiten sie die Gesetzlosigkeit, Wirren und
Krieg nach allen Seiten hin und erfassen alle Weltteile.
Es ergibt sich also, daß alle diese Irrtümer, so verschieden und
zahlreich sie auch sein mögen, letztlich auf einen einzigen Irrtum
zurückgehen. Er besteht darin, daß man die hierarchische und
unveränderliche Ordnung, die Gott in die ganze Schöpfung gelegt hat,
entweder verkennt oder verkehrt.DieseOrdnung begründet die
hierarchische Oberhoheit alles dessen, was übernatürlich ist über alles
das, was natürlich ist; folglich auch des Glaubens über die Vernunft,
der Gnade über den freien Willen, der göttlichen Vorsehung über die
menschliche Freiheit und der Kirche über den Staat, mit einem Wort, die
Oberhoheit Gottes über den Menschen.
Der Anspruch des Glaubens, die Vernunft zu erleuchten und ihr den Weg
zu weisen, ist keine widerrechtliche Besitzergreifung, sondern ein
Vorrecht, das sich aus seiner vorzüglicheren Natur ableiten läßt.
Andererseits °st das von der Vernunft beanspruchte Vorrecht, dem
Glauben seine Grenzen und sein Gebiet zu bestimmen, kein Recht, sondern
nur eine ehrgeizige Anmaßung, die in keinem Verhältnis zu ihrer
niedrigeren und untergeordneten Wesensart steht. Die Hingabe an die
geheimen Eingebungen der Gnade entspricht der allgemeinen Ordnung, weil
es nichts anderes gibt, als sich den göttlichen Anregungen und
Berufungen hinzugeben. Hingegen versetzen die Mißachtung der Gnade, die
Abweisung der Gnade oder die Auflehnung gegen die Gnade den freien
Willen innerlich in einen Zustand von Dürftigkeit, so wie sie ihn auch
äußerlich als Widersadler des Heiligen Geistes erscheinen lassen. Die
unumschränkte Herrschaft Gottes über die großen Ereignisse der
Geschichte, die er bewirkt und die er zuläßt, ist sein ausschließliches
Vorrecht; die Geschichte ist ja eine Art Spiegel, in dem Gott seine
Pläne im äußeren Bild erblickt. Wenn dagegen der Mensch in seiner
Anmaßung behauptet, daß er die Ereignisse bestimme und die wundervollen
Muster der Geschichte wirke, so ist das eine törichte Überheblichkeit;
denn sein ganzer Anteil an diesem Gewebe besteht in jenen Handlungen,
die er gegen das göttliche Gebot begeht und im übrigen nur in der
Mithilfe an jenen Geschehnissen, die dem Willen Gottes entsprechen.
Der Vorrang der Kirche gegenüber den bürgerlichen Gesellschaften
entspricht durchaus der gesunden Vernunft, die uns lehrt, daß das
Übernatürliche über das Natürliche und das Göttliche über das
Menschliche erhaben ist. Daher ist jeder Versuch des Staates, die
Kirche sich einzugliedern, von sich zu trennen, über sie zu herrschen
oder auch nur sich mit ihr gleichzustellen, ein Appell an die Anarchie,
der die Konflikte und Katastrophen herbeiruft.
Von der Erneuerung dieser ewigen Grundsätze der religiösen, politisdien
und sozialen Ordnung hängt einzig und allein die Errettung der
menschlichen Gesellschaft ab. Diese Grundsätze können jedodi nur von
einer Macht wiederhergestellt werden, die sie genau kennt; niemand
kennt sie, es sei denn die katholische Kirche. Ihr Recht, alle Völker
zu lehren, das ihr von ihrem Stifter und Herrn zugesprochen wurde,
gründet sich nicht allein auf diesen göttlichen Ursprung, sondern wird
auch durch das Gesetz der gesunden Vernunft gerechtfertigt, nach dem
der Unwissende zu lernen und der Wissende zu lehren verpflichtet ist.
Selbst wenn also der Kirche nidit von ihrem Herrn das oberste Lehramt
übertragen worden wäre, so wäre sie immer noch berechtigt, es
auszuüben, allein aus der Tatsache heraus, daß sie die Hüterin dieser
einzigartigen Grundsätze ist, denen die geheimnisvolle und wunderbare
Kraft innewohnt, die harmonische Ordnung zu erhalten und diese Ordnung
in allem herzustellen. Wenn man von der Kirche behauptet, daß sie das
Recht habe, zu lehren, so ist diese Behauptung - so begründet und
vernünftig sie ist - noch nicht die ganze und volle Wahrheit, wenn man
nicht zugleich zugibt, daß die Welt die Pflicht hat, sich von der
Kirche belehren zu lassen. Die bürgerlichen Gesellschaften verfügen ja
zweifellos nicht über die Macht, die höchsten Gipfel der ewigen
Wahrheit zu erklimmen, oder auch nur das kraftlose Abrutschen auf den
steilen Hängen der Irrtümer bis zum Sturz in den Abgrund zu verhindern.
Die Frage heißt also, ob man demjenigen, der den Verstand verloren hat
und daher eine Torheit begeht, dazu auch das Recht zugestehen kann,
oder, kurz gesagt, ob derjenige ein Recht ausübt, der auf alle seine
Rechte verzichtet, indem er Selbstmord begeht.
Das Unterrichtsproblem, das in letzter Zeit zwischen der
Universitätspartei und den französischen Katholiken erörtert wurde, ist
von diesen nicht genau bestimmt worden. Die allgemeine Kirche kann eine
solche Bestimmung nicht annehmen. Wenn man auf der einen Seite die
Kultusfreiheit und auf der anderen Seite die besonderen Umstände, in
denen sich Frankreich befindet, als gegebene Tatsachen betrachtet, dann
ist es völlig einleuchtend, daß die französischen Katholiken nicht
imstande waren, etwas anderes für die Kirche in Anspruch zu nehmen, als
nur die Freiheit, die hier ein allgemeines Recht ist und die als solche
der katholischen Wahrheit zur Zuflucht dienen muß. Allein der Grundsatz
der Freiheit des Unterrichts ist, wenn man ihn für sich allein
betrachtet und die besonderen Umstände, unter denen er verkündet worden
ist, abzieht, ein falscher Grundsatz, der deshalb von der katholischen
Kirche nicht anerkannt werden kann. Das Prinzig der Freiheit des
Unterrichts kann von ihr nicht angenommen werden, ohne daß sie sich
nicht selbst in offenen Widerspruch zu allen ihren sonstigen Lehren
stellen würde. Wenn man verkündet, daß der Unterricht frei sein soll,
so heißt das tatsächlidi nichts anderes als zu verkünden, daß es unter
den sdion bekannten Wahrheiten keine gibt, die gelehrt werden müßte und
daß die Wahrheit eine Sache sei, die noch nidit gefunden wurde, und die
man suche, und zwar durdi umfassende Diskussion aller Meinungen. Wenn
man verkündet, daß der Unterricht frei sein müssse, dann heißt das, daß
die Wahrheit und der Irrtum die gleichen Rechte besitzen. Nun bekennt
sich aber die Kirche zu dem Grundsatze, daß die Wahrheit auch ohne die
Notwendigkeit besteht, daß man sie sucht, und ferner zu dem Grundsatz,
daß der Irrtum rechtlos geboren werde, daß er rechtlos lebe und so auch
sterbe, die Wahrheit aber im Besitze des unbedingten Redites verbleibt.
Die Kirche kann also nicht - audi wenn sie es nicht unterläßt, die
Lehrfreiheit anzunehmen, dort, wo eben eine andere Lösung völlig
unmöglich erscheint - diese Freiheit als eine Grenze ihrer Wünsche
betrachten, so wie sie auch eine solche Freiheit nidit als das einzige
Ziel ihrer Bestrebungen begrüßen kann.
Das sind die Ausführungen, die ich meiner Ansicht nach verpflichtet
bin, über die verderblichsten Irrtümer der heutigen Zeit vorzulegen.
Aus dieser objektiven Untersuchung ergeben sich meiner Meinung nach
zwei Erkenntnisse als bewiesen:
1. daß alle Irrtümer ein und denselben Ursprung haben und den gleichen Mittelpunkt besitzen und
2. daß sie alle, mögen sie nun nach ihrem Mittelpunkte oder nach ihrem Ursprung betrachtet werden, religiöser Natur sind.
Das ist so gewiß, daß die Leugnung auch nur einer einzigen göttlichen
Eigenschaft zur Unordnung auf allen Gebieten führt und die menschlichen
Gesellschaften der Gefahr des Unterganges ausliefert.
Wenn ich das Glück hätte, daß meine Darlegungen Euer Eminenz nicht
völlig unnütz erscheinen, möchte ich mir erlauben, Sie zu bitten, diese
Denkschrift zu Füßen seiner Heiligkeit niederzulegen mit der
Versicherung der tiefsten Ehrfurcht, die ich als Katholik seiner
geheiligten Person, seinem unfehlbaren Urteil und der Endgültigkeit
seiner Entschlüsse gegenüber hege.
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