HUNGER NACH DEM LEBENDIGEN BROT
Meßfeier in Maos Gefängnis
von H.H. Pater Dries van Coillie
(aus: "Der begeisterte Selbstmord" 196o; zitiert nach DER FELS 6/7)
Anfangs, als ich meine Hände wieder frei gebrauchen konnte, segnete ich
mich vor und nach dem Essen. Alle sahen es. Aber das trug mir eine
derartige Flut von Flüchen und Gotteslästerungen ein, daß ich mich
entschloß, nur noch im stillen zu beten und mit den Eßstäben unbemerkt
ein Kreuzchen über meine Suppe zu zeichnen. Was ich am meisten, am
schmerzlichsten entbehrte? Das heilige Meßopfer. Der Sonntag war mir
aber auch jetzt ein Festtag. Da waren wir befreit von der "Studie".
Auch war es üblich, daß die Zellenleiter als Belohnung für ihren
Einsatz den halben Vormittag ins Freie durften, um dort in Sonne und
frischer Luft zu spielen, zu lesen oder Austausch mit den anderen
Zellenleitern zu pflegen, allerdings auch dies nur unter strengster
Bewachung. Für mich bedeutete es jedesmal eine Erleichterung, wenn Loe
abwesend war. Und ich bin sicher, daß es den anderen so ähnlich erging,
wenn auch keiner es sich anmerken ließ.
Bis in meine Zelle hinein hörte ich die Sonntagsglocken von der nahen
Nordkirche her läuten und die Gläubigen zum Hochamt rufen. Die
Regierung legte großen Wert darauf, aller Welt zu beweisen, daß die
vier Hauptkirchen von Peking offen seien. Daß die Pfarrhäuser, Schulen
und Gemeindebauten rings um die Kirchen herum beschlagnahmt, daß die
Pfarrer dieser Kirchen in Gefängnissen lebten und ersetzt worden waren
durch "fortschrittliche" Elemente, die jeden Befehl der Regierung
auszuführen hatten: dies galt nicht als Verletzung der Freiheit.
Eine Viertelstunde nach dem Verklingen des Glockengeläutes begann ich
mein Hochamt. Ich erhob mich aus meiner Schreibecke an der Kante des
Bettgestelles, steckte meine Hände in die Hosentaschen, und unter dem
Vorwand, mich etwas bewegen zu müssen, ging ich in dem zweieinhalb
Meter langen Gang unserer Zelle auf und ab, während ich im Geiste die
Gebete an den Stufen des Altars betete. Dann - immer ohne die Lippen zu
bewegen, sprach ich das Kyrie und das Gloria und flehte den Herrn an,
mir zu helfen, ebenso den Priestern, Legionären und Leidensgenossen in
diesem und den anderen Gefängnissen auch jenen, die stritten und litten
außerhalb der Gefängnisse. Ich wußte sie ja alle in bitterster Not und
mußte auf das innigste um Kraft und Beharrlichkeit für sie bitten.
Zur Epistel betrachtete ich eine Szene aus dem Alten Testament oder
eine Stelle aus den Briefen der Apostel. Die dazu gehörenden Texte
waren mir entfallen, aber die Vorstellung von dem, was die Texte
aussagten, war noch lebendig in mir. Ich schöpfte daraus Kraft, Trost
und Mut. Auch das Graduale konnte ich nur in Bruchstücken beten, mein
Gedächtnis war sehr geschwächt.
Manchmal mußte ich meine Messe unterbrechen. Die Zellengenossen fragten
bald dieses, bald jenes und verlangten Antwort. Ich sagte oder erzählte
ihnen zwischendurch irgendeine belanglose Sache, um ihnen zu zeigen,
daß meine Gedanken nicht draußen in der imperialistischen Freiheit
weilten, sondern in der Zelle.
Dann wieder sagte ich das Evangelium her. Um seinen Inhalt zu
betrachten, nahm ich für zehn Minuten meinen Platz an dem Bettgestell
wieder ein. Das war mir Ersatz für die Predigt. Unter dem Credo
wanderte ich wie vorher auf und ab. Zur Opferung nahm ich die Hände aus
den Hosentaschen und ließ sie einfach hängen.
Als ich versuchte, sie auf den Rücken zu legen, erregte ich einen Sturm
der Entrüstung über so eine imperialistische, reaktionäre Haltung.
"Alle Vagabunden der imperialistischen Eroberer, wie zum Beispiel
Napoleon oder die stämme-mordenden Kolonisatoren, benutzten diese
Haltung", erklärten sie mir. "Du bist von der gleichen Rasse wie sie,
und uns ist dieses eine klar: Du bist innerlich immer noch der alte!"
Seit jenem Auftritt hütete ich mich, die Hände auf den Rücken zu legen.
- Ich summte Präfation und Sanktus und sprach dann die Kanongebete.
Dann machte ich mir in der Ostecke der Zelle einiges zu schaffen und
drehte dabei den Zellengenossen meinen Rücken zu. Die geöffnete Hand
war meine Patene, wo nach meiner Einbildung die Hostie lag. Mit der
Rechten machte ich das Kreuz darüber. Dann flüsterte ich, leicht
geneigt, darüber die Worte der heiligen Wandlung, drehte mich eilig um
nach Westen, wo in der Nordkirche der Herr im Tabernakel weilte, und
betete: "Mein Herr und mein Gott!"
Tiefe Trauer fiel mich an. Ich ließ den Kopf sinken und ging wieder auf
und ab in der engen Zelle. Niemand durfte merken, wie nahe mir die
Tränen waren. Das Verlangen meiner Seele, noch einmal wirklich das
heilige Meßopfer darbringen zu können, war so groß, daß die heiligen
Wandlungsworte mir Herzklopfen und Atemnot verursachten, ganz abgesehen
von den nassen Augen.
Und plötzlich überkam mich das maßlose Elend meiner Lage. Was nutzt mir
noch die priesterliche Verwandlungsgewalt? Die abgrundtiefe
Hilflosigkeit und das Echo meiner Sehnsuchtsrufe mußten vereint das
Herz des allmächtigen Gottes bestürmen, mir alle Gnaden zu schenken,
die mit der Darbringung des heiligen Meßopfers verbunden sind. Mit
tiefem Glauben, großer Liebe und innigem Vertrauen schrie meine Seele
zum himmlischen| Vater empor und war gewiß, daß er mir nicht Steine
anstatt Brot geben werde.
Beim Agnus Dei betete ich die geistige Kommunion. Ohne mich irgendwie
besonders zu bewegen, erteilte ich meinen priesterlichen Segen nach
allen Richtungen des Gefängnisses. In den Gebeten nach der heiligen
Messe betete ich mit ganz besonderem Vertrauen zu St. Michael: "Und du,
Fürst der himmlischen Heerscharen, treibe Satan und die anderen bösen
Geister9 die zum Verderben der Seelen die Welt durchstreifen, durch die
dir von Gott verliehene Kraft in die Hölle!"
Nach diesem "Hochamt" begab ich mich zurück auf meinen Platz an der
Bettkante, nahm ein Blatt oder ein Buch zur Hand und - träumte, während
mir ein Choral von Bach durch die Seele ging.
Früh am Nachmittag betete ich auf ähnliche Weise die Vesper. Ich bin
Priester geworden, um das heilige Meßopfer darbringen zu können. Und
das Verlangen danach hat mich auch während meiner ganzen Gefangenschaft
nicht verlassen.
Beim Erwachen am Morgen war es immer mein erster Gedanke, mich mit
allen Priestern zu vereinigen, die im Lauf des Tages oder der Nacht, wo
auch immer in weiter Welt, das heilige Meßopfer darbrachten. In dieser
meiner Verlassenheit gewann ich immer tiefere und schönere Ehrfurcht
vor dem Allerheiligsten Sakrament, und ich hegte den großen Wunsch,
alle Priester möchten das heilige Opfer möglichst würdig darbringen und
sich immer mehr dessen bewußt werden, daß sie als Mittler zwischen Gott
und den Menschen am Altare stehen ..., daß außer den Gläubigen in der
Kirche und den unsichtbaren Engelscharen noch Dutzende von gefangenen
Priestern mit blassen Wangen, tiefliegenden Augen und gefesselten
Händen wenigstens mit der Seele zugegen sind. Und diese? Sie folgen der
heiligen Wandlung mit dem heißen Verlangen, auch so im Meßgewand
dazustehen, die heiligen Zeremonien zu vollziehen. Und weil dies
unmöglich ist, schließen sie sich im Geiste ihrem heiligen Opfer an,
diesem gewaltigen Gebet, das die verfolgte Kirche in dieser Welt,
hinter dem Eisernen Vorhang, hinter dem Bambusvorhang einbeschließt.
***
DER HEILIGE PFARRER VON ARS ÜBER DIE HEILIGE MESSE:
Alle guten Werke zusammen erreichen nicht den Wert eines einzigen
Meßopfers, denn sie sind die Werke der Menschen; die Messe aber ist
Gottes Werk. Mit ihr verglichen, bedeutet selbst das Opfer des
Märtyrers nichts. Hier gibt der Mensch Gott sein Leben hin;| in der
Messe ist es Gott, der Seinen Leib und Sein Blut für den Menschen
opfert.
Auf das Wort des Priesters steigt der Herr vom Himmel und schließt sich
in die kleine Hostie ein. Gottes Blick wendet sich zum Altar. "Hier ist
mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe." Den
Verdiensten dieses Opfers kann er nichts verweigern.
Oh wie wunderbar! Nach der Wandlung ist der liebe Gott hier bei uns wie
im Himmel. (...) Wenn man uns sagte, un diese oder jene Stunde würde
ein Toter auferweckt, wie schnell kämen da die Leute zusammen, um das
zu sehen! Aber ist nicht die Wandlung, wodurch Brot und Wein in das
Fleisch und Blut Gottes verwandelt werden, ein viel größeres Wunder als
eine Totenerweck ung?
Wir sollten jedesmal wenigstens eine Viertelstunde darauf verwenden,
uns für die heilige Messe gut vorzubereiten. Angesichts der tiefen
Verdemütigung Christi im Sakrament der Eucharistie sollten auch wir uns
vorher vor dem lieben Gott verdemütigen und unser Gewissen erforschen;
denn, un einer Meßfeier gut beizuwohnen, müssen wir im Stande der Gnade
sein,
(aus: Frossard, Janine: "Ausgewählte Gedanken des heiligen Pfarrers von Ars" 1979, S.50) |