"Mortalium animos"
von
Papst Pius XI.
Rundschreiben
an die ehrwürdigen Mitbrüder: die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe,
Bischöfe, sowie an die sonstigen Ortsordinarien, die in Frieden und
Gemeinschaft mit dem Apostolischen Stuhl stehen: Über die Förderung der
wahren Einheit der Religion.
Ehrwürdige Mitbrüder, Gruß und Apostolischen Segen!
Es geht durch die Menschheit die Sehnsucht nach gegenseitigem Zusammenschluß.
In früheren Zeiten hat sich wohl niemals auf der Welt das
tiefinnerliche Sehnen nach gegenseitigem Zusammenschluß in solcher
Stärke geltend gemacht, wie man das in unseren Tagen beobachtet. Das
liegt letzten Endes begründet im gemeinsamen Ursprung und in der
gleichen wesenhaften Natur, die uns Menschen alle zu einer
Blutsverwandtschaft, zu einer Art Verbrüderung enge verbindet. Diese
nahe Beziehung zueinander will man heute mehr als früher starken und
zum Wohle der gesamten menschlichen Gesellschaft wirksam machen. Die
Völker sind ja noch nicht im vollen Genuß der Gaben des Friedens. Alte
und neue Zerwürfnisse kommen immer wieder da und dort zum Ausbruch in
Revolutionen und in Bürgerkriegen. Anderseits können die vielen, vielen
Streitigkeiten bezüglich eines ruhigen Gedeihens der Völker nur
geschlichtet werden durch einträchtiges Zusammenwirken derer, die die
Geschicke der Staaten leiten und zum Guten lenken sollen. Nimmt man
dazu, daß heute über die Einheit des Menschengeschlechtes kein ernster
Zweifel mehr besteht, so erkennt man leicht den Grund für den in weiten
Kreisen verbreiteten Wunsch, die verschiedenen Völker möchten sich im
Bewußtsein jener gemeinsamen Blutsverwandtschaft täglich enger und
enger aneinanderschließen.
Dieses Sehnen nach Zusammenschluß
findet auch in den modernen "Religionskongressen" Ausdruck, die
freilich nicht zu billigen sind.
Ganz ähnliche Bestrebungen zeigen sich nicht selten in Betreff
der von Christus dem Herrn uns gebrachten neutestamentlichen
Heilsordnung. Weil man nämlich der Überzeugung ist, daß Leute ohne
jegliches religiöses Empfinden sehr selten sind, so glaubt man wohl zu
der Hoffnung berechtigt zu sein, es werde sich eine Einigung in
gewissen religiösen Dingen ziemlich leicht erreichen lassen. Wenn auch
bei den einzelnen Völkern die religiösen Auffassungen sehr verschieden
seien, so wäre immerhin eine brüderliche Übereinstimmung im Bekenntnis
einiger Lehrsätze, das als gemeinsame Grundlage des religiösen Lebens
dienen könnte, keineswegs ausgeschlossen. Aus diesem Grunde werden
regelmäßig Kongresse, Tagungen, Vorträge unter recht zahlreicher
Beteiligung veranstaltet. Dabei lädt man zur Diskussion unterschiedslos
heidnische Teilnehmer aller Art ein, ferner Christusgläubige, endlich
auch solche Persönlichkeiten, die von Christus leider abgefallen sind
oder die seine göttliche Natur und Sendung schroff und beharrlich
ablehnen.
Derartige Bemühungen können nun freilich unter keinen Umständen
auf die Zustimmung von Katholiken rechnen. Denn sie stützen sich auf
die irrige Meinung jener, die die Auffassung vertreten, alle beliebigen
Religionen seien mehr oder weniger gut und empfehlenswert; sie seien
eben alle eine, wenn auch nicht einzigartige, so doch gleichmäßig
berechtigte Äußerung des den Menschen von der Natur mitgegebenen und
angeborenen Sinnes, der uns auf Gott hinordnet und zur gehorsamen
Anerkennung seiner Oberherrschaft führt. Indes: diejenigen, die eine
solche Ansicht haben, sind nicht nur in Irrtum und Selbsttäuschung
befangen. Indem sie den Begriff der wahren Religion entstellen und
dadurch die wahre Religion selbst zurückweisen, gleiten sie auch, wie
man es ausdrückt, Schritt für Schritt zum Naturalismus und Atheismus
ab; und daraus ergibt sich weiterhin als deutliche Folgerung, daß jeder
sich von der göttlich geoffenbarten Religion ganz lossagt, der solchen
Gedankengängen und Bestrebungen rückhaltslos beipflichtet.
Verwerflich sind auch die von den
Vertretern eines vagen, "allgemeinen" Christentums unternommenen
Versuche einer Einigung "aller, die sich Christen nennen".
Manche lassen sich eher noch durch eine andere, von der Schminke
des Tugendhaften gefälschte Gedankenreihe irreleiten, wenn es sich um
die Förderung der Einigung der Christen handelt. Ist es nicht - so sagt
man immer wieder - ist es nicht recht und geradezu pflichtmäßig, daß
sich alle, die sich Christen nennen, jeglicher gegenseitigen
Verunglimpfung enthalten und sich endlich einmal in gegenseitiger Liebe
zusammenschließen? Wer dürfe denn wohl zu behaupten wagen, er liebe
Christus, wenn er nicht nach Kräften Christi Wunsch zur Erfüllung
bringt, der seinen himmlischen Vater bat, seine Jünger möchten Eines
sein 1)? Und sollte nicht nach Christi Willen die gegenseitige Liebe
das Kennzeichen und unterscheidende Merkmal seiner Jünger sein? Daran
sollen alle es erkennen, daß ihr meine Jünger seid, daß ihr einander
liebet 2). Ja, wären doch, so fährt man fort, alle Christen insgesamt
Eines, sie hätten dann ja eine viel mächtigere Stoßkraft gegen die
Seuche der Gottlosigkeit, die von Tag zu Tag in breitere Kreise
schleicht und fortwuchert und sich schon anschickt, das Evangelium zu
entnerven und lahmzulegen. So und ähnlich machen sich diese sogenannten
"Panchristen" groß und wichtig. Man glaube nicht, es handle sich da um
ganz kleine und wenige Kreise. Im Gegenteil, sie sind bereits zu ganzen
Klassen und weitverbreiteten Gesellschaften angewachsen, die in der
Regel unter nichtkatholischer, obwohl in religiöser Beziehung
mannigfach verschieden eingestellter Leitung stehen. Inzwischen wird
jenes Vorhaben mit solcher Energie weitergeführt, daß es sich an vielen
Orten den Beifall der Bürger verschafft und sogar eine Reihe von
Katholiken mit der Hoffnung an sich zieht und gewinnt, es lasse sich
wirklich eine derartige Einigung zustande bringen, die mit den Wünschen
unserer heiligen Mutter Kirche in Einklang zu stehen scheine; dieser
liege ja nichts mehr am Herzen, als irregegangene Söhne in den Schoß
der Kirche zurückzurufen und heimzuführen. Aber unter den Lockungen
dieser Schmeichelworte liegt ein sehr schwerwiegender Irrtum verborgen,
der die Grundlagen des katholischen Glaubens vollständig
auseinandersprengt.
Die Katholiken müssen vor diesen "panchristlichen" Bestrebungen gewarnt werden.
Das Bewußtsein Unseres Apostolischen Amtes mahnt Uns, Sorge zu
tragen, daß die Herde des Herrn nicht durch ein verderbliches
Ränkespiel umgarnt wird. Deshalb rufen Wir euren Eifer, ehrwürdige
Mitbrüder, auf, gegen dieses Unheil Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Wir
sind von dem Vertrauen beseelt, es werden durch euer Wort und Schreiben
leichter die Grundsätze und Beweise, die Wir vorlegen, unter das Volk
kommen und vom Volke verstanden werden. So sollen die Katholiken
Weisungen erhalten, wie sie sich einzustellen und zu verhalten haben,
wenn Unternehmungen in Frage stehen, die darauf hinzielen, alle
Christen in einen geheimnisvollen Leib irgendwie zusammenwachsen zu
lassen.
Es gibt nur eine wahre Religion: die geoffenbarte, und nur eine wahre Kirche: die von Christus gestiftete.
Von Gott dem Herrn, dem Schöpfer der gesamten Welt, sind wir zu
dem Zwecke geschaffen worden, daß wir ihn erkennen und ihm dienen
sollen. Unser Schöpfer hat daher ein volles Recht, daß wir ihm
dienstbar sind. Es hätte freilich Gott der Herr dem Menschen zur
Leitung ein einziges Naturgesetz vorschreiben, dieses bei der
Erschaffung ihm ins Herz graben und durch den gewöhnlichen Gang der
Vorsehung die Entwicklung dieses Gesetzes regeln können. Aber Er hat es
vorgezogen, Gesetze zu geben, denen wir mit unserem Willen gehorchen
sollen. Und im Verlaufe der Jahrhunderte, von den Anfängen des
Menschengeschlechtes an bis zur Ankunft und zur Lehrverkündigung Jesu
Christi, hat Er die Menschen selbst die Pflichten gelehrt, die ein der
Vernunft teilhaftiges Wesen ihm, dem Schöpfer, schuldet. Gar oft und
mancherlei sprach Gott vor Zeiten durch die Propheten zu den Vätern;
jetzt, an der Tage Ende, sprach er zu uns durch seinen Sohn. 3) Daraus
geht klar hervor, daß keine Religion die wahre sein kann, die sich
nicht stützt auf das geoffenbarte Wort Gottes; diese Offenbarung aber,
zu Anfang begonnen und fortgesetzt unter dem Gesetze des Alten Bundes,
hat Jesus Christus selbst unter dem Gesetze des Neuen Bundes zu Ende
geführt. Wenn nun Gott gesprochen hat - daß Er wirklich gesprochen hat,
steht geschichtlich fest - so ist es offenbar des Menschen Pflicht,
Gottes Offenbarung absolut zu glauben und seinem Befehle unbedingt zu
gehorchen; damit wir aber beides in rechter Weise zu Gottes Ehre und zu
unserem Heile tun, dazu hat der Eingeborene Sohn Gottes auf Erden seine
Kirche eingesetzt.
Wer sich nun zum Christentum bekennt, der kann weiterhin wohl
nicht umhin, zu glauben, daß irgend eine, und zwar eine einzige Kirche
von Christus gestiftet worden ist. Fragt man allerdings weiter, welche
Eigenschaften sie nach dem Willen ihres Stifters haben müsse, so
stimmen nicht alle überein. Beispielshalber behaupten gar manche, die
Kirche Christi brauche nicht wenigstens insofern sichtbar und erkennbar
zu sein, daß es eine einzige Gemeinschaft von Gläubigen gebe, die in
einer und derselben Glaubenslehre unter einem einzigen Lehr- und
Hirtenamte vereinigt sind. Sie verstehen vielmehr unter erkennbarer
oder sichtbarer Kirche nichts anderes als einen Bund von verschiedenen
christlichen Gemeinschaften, wenn sich diese auch zu verschiedenen, ja
zu ganz widersprechenden Glaubenslehren bekennen. Seine Kirche aber hat
Christus der Herr eingesetzt als eine vollkommene, von Natur äußere und
sinnenfällige Gesellschaft, die das Erlösungswerk der Menschheit unter
der Leitung eines einzigen Oberhauptes 4), durch mündliche Belehrung
)5, durch Spendung der Sakramente, der Quellen himmlischer Gnade 6),
für die Zukunft fortsetzen soll. Daher verglich Er sie und betonte ihre
Ähnlichkeit mit einem Reiche 7), einem Hause 8), einem Schafstall )9,
einer Herde 10). Und diese so wunderbar begründete Kirche durfte
sicherlich nicht aufhören und erlöschen, als ihr Stifter und als die
Apostel, ihre ersten Verbreiter, durch den Tod hingerafft worden waren.
Sie hatte ja den Auftrag, alle Menschen insgesamt ohne Unterschied von
Ort und Zeit zum ewigen Heile zu führen: Darum gehet hin und lehret
alle Völker. 11) Und wird dieser Kirche in der ständigen Ausübung ihres
Amtes jemals an Kraft und Wirksamkeit etwas fehlen, da Christus selbst
ständig ihr gegenwärtig ist, der ihr das feierliche Versprechen gab:
Seht, ich bin bei euch alle Tage bis zu der Welt Vollendung 12)? Damit
ist es ganz unbedingt gegeben, daß die Kirche Christi nicht bloß heute
und für alle Zukunft tatsächlich existiert, sondern daß sie als ganz
die selbe existiert, wie sie in der apostolischen Zeit war; man müßte
sonst sagen — was ausgeschlossen ist — Christus der Herr habe entweder
seinen Vorsatz nicht durchführen können, oder Er habe sich damals
geirrt, als Er bestimmt behauptete, die Pforten der Hölle würden sie
nicht überwältigen 13).
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, es gebe
heute keine einheitliche Kirche Christi, sondern nur verschiedene
christliche Sonderkirchen, die sich als gleichberechtigte Größen zu
einem Bund zusammenschließen sollten, ohne direkte Unterwerfung unter
den Papst.
Hier begegnet Uns eine irrige Auffassung, die Wir
notwendigerweise darlegen und aus dem Wege räumen müssen. Die ganze
Frage scheint ja davon abzuhängen. Und ebenso haben jene vielfältigen
Bemühungen und einmütigen Bestrebungen der Akatholiken hier ihren
Quellpunkt, die, wie gesagt, darauf abzielen, die christlichen Kirchen
zu einigen. Die Anhänger dieses Prinzips pflegen nämlich bis ins
unendliche die Worte Christi zu zitieren: Daß alle Eines seien … Dann
wird es eine Herde und ein Hirt sein 14). In diesen Worten, so meinen
sie, seien ein Wunsch und ein Gebet Christi Jesu angedeutet, die
bislang noch nicht in Erfüllung gegangen seien. Sie sind eben der
Auffassung, die Einheit im Glauben und in der Leitung — sie ist ja ein
Merkmal der wahren und einen Kirche Christi - sei fast nie in früheren
Jahren dagewesen und sei auch heute nicht da. Diese Einheit könne man
wünschen und vielleicht einmal durch eine gemeinsame Wendung der
Gesinnung erreichen. Einstweilen müsse sie als eine Art unerreichtes
Ideal angesehen werden. Des weiteren sagt man, die Kirche zerfalle von
sich aus, das heißt von Natur, in gewisse Teile. Sie bestehe eben aus
sehr vielen Einzelkirchen oder Sondergemeinden, die bis heute
voneinander getrennt sind; wenn sie auch einige Lehrkapitel gemeinsam
hätten, so gingen sie doch in den übrigen auseinander; die Kirche sei
höchstens in der apostolischen Zeit bis zu den ersten allgemeinen
Konzilien eine einzige und eine gewesen. Deshalb solle man auch die
ganz alten Kontroversen und die mannigfachen Meinungsverschiedenheiten,
die bis heute die Christenheit trennen, übersehen und beiseite setzen
und statt dessen in Bezug auf den übrigen Lehrinhalt irgendein
gemeinsames Glaubensgesetz aufstellen und vorlegen; in diesem
Glaubensbekenntnis könnten alle gegenseitig sich als Brüder mehr
fühlen, als erkennen. Wenn aber die vielfältigen Kirchen oder
Gemeinschaften in einem Gesamtbund zusammengeschlossen seien, so sei
damit schon erreicht, daß sie dem Fortschreiten der Gottlosigkeit einen
gediegenen und ersprießlichen Widerstand entgegensetzen können.
So, ehrwürdige Mitbrüder, heißt es im allgemeinen. Einige stellen
indes freilich auch fest und geben ausdrücklich zu, daß der
Protestantismus eine Reihe von Lehrstücken des Glaubens sowie eine
Anzahl durchaus sympathischer und brauchbarer Gebräuche der äußeren
Gottesverehrung gar zu unüberlegt verworfen hat, an denen die Römische
Kirche noch heute festhält. Sie fügen aber sofort bei, auch diese habe
verkehrt gehandelt; sie habe die echte alte Religion gefälscht, indem
sie eine Reihe von Lehren hinzufügte und zu glauben vorstellte, die dem
Evangelium nicht nur fremd waren, sondern geradezu damit im Widerspruch
standen. Dazu rechnet man vor allem die Lehre vom Primat Petri und
seiner Nachfolger auf dem Römischen Stuhle. Einzelne, wenn auch nicht
gerade viele unter ihnen billigen dem Papste einen Ehrenvorrang zu oder
eine Jurisdiktion und eine Vollmacht, die sich jedoch nach ihrer
Ansicht nicht aus göttlichem Rechte, sondern aus einem
übereinstimmenden Urteil der Gläubigen irgendwie herleitet. Ja, andere
gehen sogar so weit, daß sie den Wunsch äußern, der Papst selbst möge
bei ihren, man möchte sagen: buntschillernden Tagungen den Vorsitz
führen. Man mag übrigens viele Nicht-Katholiken finden, die die
brüderliche Gemeinschaft in Jesus Christus mit lauten Tönen preisen;
aber man findet unter ihnen sicher niemanden, dem es in den Sinn käme,
sich dem Lehr- oder Hirtenamte des Statthalters Jesu Christi gehorsam
zu unterwerfen. Inzwischen betonen sie, sie würden gern mit der
Römischen Kirche, aber nur auf demselben Rechtsboden als
Gleichberechtigte, verhandeln. Wenn es jedoch zu solchen Verhandlungen
käme, würden sie wohl zweifellos in der Absicht verhandeln, um sich
etwa durch vertragsmäßige Übereinkunft vor der Notwendigkeit zu
schützen, diejenigen Meinungen aufzugeben, auf Grund deren sie heute
noch außerhalb des einzigen Schafstalles Christi unstet umherirren.
Die römisch-katholische Kirche ist die
eine wahre Kirche Christi, die von Gott bestellte Hüterin der
geoffenbarten Wahrheit, die nicht auf den Boden der Diskussionen
herabgezogen werden darf.
Bei dieser Lage der Dinge liegt es auf der Hand, daß der
Apostolische Stuhl unter keinen Umständen an ihren Tagungen teilnehmen
kann und daß Katholiken unter keinen Umständen solche Unternehmungen
begünstigen oder fördern dürfen; sie würden ja dadurch das Ansehen und
den Einfluß einer ganz irrigen christlichen Religion, die weitab von
der einen Kirche Christi liegt, vermehren und stärken. Werden Wir denn
das große Unrecht dulden, daß die Wahrheit, und zwar die von Gott
geoffenbarte Wahrheit, auf den Boden der Diskussionen herabgezogen
wird? Denn um den Schutz der geoffenbarten Wahrheit geht es in dieser
Stunde. Alle Völker sollten zum Glauben des Evangeliums kommen. Deshalb
sandte Jesus Christus die Apostel in die gesamte Welt; und damit sie
nicht irgendwie irrten, wollte Er sie durch den Heiligen Geist vorher
unterweisen lassen in aller Wahrheit 15). Ist diese Lehre der Apostel
in der Kirche, bei der Gott selbst als Leiter und Hüter gegenwärtig
ist, völlig geschwunden oder jemals verwirrt worden? Unser Erlöser hat
ganz deutlich zum Ausdruck gebracht, sein Evangelium solle nicht bloß
für die apostolischen Zeiten, sondern auch für die kommen-den
Jahrhunderte gelten; konnte da der Gegenstand des Glaubens im Laufe der
Zeit so dunkel oder ungewiß werden, daß man heute Meinungen ertragen
muß, die unter sich ganz entgegengesetzt sind? Wenn das wahr wäre,
müßte man auch sagen, die Herabkunft des Heiligen Geistes auf die
Apostel, sein ständiges Verbleiben in der Kirche und Jesu Christi
Lehrverkündigung selbst habe seit mehreren Jahrhunderten die
Wirksamkeit und Brauchbarkeit vollständig verloren. Das behaupten, wäre
aber geradezu gotteslästerlich. Der Eingeborene Sohn Gottes hat ja, als
Er seinen Sendboten den Befehl gab, alle Völker zu lehren, gleichzeitig
alle Menschen verpflichtet, dem Glauben zu schenken, was ihnen durch
die von Gott vorherbestimmten Zeugen 16) verkündet wurde, und Er hat
diesem befehlenden Worte die Sanktion beigefügt: Wer glaubt und sich
taufen läßt, der wird gerettet werden; wer aber nicht glaubt, der wird
verdammt werden 17).
Beide Gebote Christi aber, deren Beobachtung unbedingt notwendig
ist: nämlich zu lehren und um der Erreichung des ewigen Heiles willen
zu glauben; beide können nicht einmal verstanden werden, wenn die
Kirche die Wahrheit des Evangeliums nicht ganz rein und deutlich
vorlegt und dabei von jeglicher Gefahr des Irrtums frei ist. In diesem
Punkte weichen auch die vom rechten Wege ab, die der Anschauung sind,
es existiere zwar auf Erden eine Hinterlage der Wahrheit, man müsse
aber in so mühsamer Arbeit, in so langen Studien und Erörterungen nach
ihr suchen, daß kaum ein Menschenleben ausreiche, sie zu finden und zu
gewinnen - als hätte der gütige Gott durch die Propheten und seinen
Eingeborenen Sohn deshalb gesprochen, daß nur ganz wenige, und auch sie
nur im vorgerückten Alter, den Inhalt der Offenbarung recht erkennen;
nicht deshalb, um eine Glaubens- und Sittenlehre vorzuschreiben, durch
die der Mensch auf seinem ganzen Lebenswege geleitet werde.
Die Liebe allein kann die getrennten
Christen nicht zusammenführen, wenn nicht der unverfälschte Glaube das
Band der Einheit bildet: der katholische Glaube ohne Einschränkungen
und Abstriche.
Gewiß, es mag den Anschein haben, daß jene Panchristen, die die
Vereinigung der Kirchen anstreben, die sehr edle Absicht verfolgen, die
Liebe unter allen Christen zu fördern. Wie sollte es aber möglich sein,
daß die Liebe je dem Glauben zum Schaden gereiche? Johannes selbst, der
Apostel der Liebe, der in seinem Evangelium wohl die Geheimnisse des
heiligsten Herzens Jesu kundgetan hat, und der ständig dem Gedächtnis
der Seinen das neue Gebot einzuschärfen pflegte: Liebet einander -
Johannes selbst hat, wie alle wissen, durchaus verboten, mit denen
Verkehr zu haben, die sich nicht zur ganzen und unverfälschten Lehre
Christi bekannten: Wenn einer zu euch kommen sollte, ohne diese Lehre
mitzubringen, nehmet den in euer Haus nicht auf und bietet ihm auch
nicht den Gruß18)! Die Liebe ruht auf lauterem und echtem Glauben wie
auf ihrer Grundlage. Daher ist es auch nötig, daß die Jünger Christi
vorzüglich durch das Band der Einheit des Glaubens zusammengeschlossen
sind.
Wie sollte man sich einen christlichen Bund denken können, bei
dem jedes einzelne Mitglied, zumal wo es sich um den Gegenstand des
Glaubens handelt, an seinem subjektiven Denken und Empfinden festhält,
wenn es auch mit den Anschauungen der Übrigen im Widerspruch steht? Und
auf welche Weise, fragen Wir, sollten an einem und demselben Bunde
Leute teilnehmen, die ganz entgegengesetzte Glaubensauffassungen haben?
Zum Beispiel solche, die betonen, und solche, die leugnen, daß die
heilige Erblehre echte Quelle der göttlichen Offenbarung sei? Oder
solche, die der Überzeugung sind, daß eine aus Bischöfen, Presbytern
und Diakonen bestehende kirchliche Hierarchie von Gott eingesetzt ist,
und solche, die behaupten, sie sei je nach der Lage der Umstände und
der Zeitverhältnisse erst Schritt für Schritt eingeführt worden? Oder
solche, die in der heiligen Eucharistie den durch jene wunderbare,
Transsubstantiation genannte Verwandlung von Brot und Wein wahrhaft
gegenwärtigen Christus anbeten, und solche, die behaupten, der Leib
Christi sei nur zugegen durch den Glauben oder durch das Zeichen und
die Kraft des Sakramentes; ferner solche, die in ihr das Wesen eines
Sakramentes und eines Opfers anerkennen, und solche, die sagen, es sei
nichts anderes als eine Erinnerung und Gedächtnisfeier an des Herrn
Abendmahl? Oder endlich solche, die glauben, es sei gut und nützlich,
die mit Christus im Himmel herrschenden Heiligen, vor allem die
Gottesgebärerin Maria, demütig anzurufen sowie ihren Bildern Verehrung
zuteil werden zu lassen, und solche, die darauf bestehen, ein
derartiger Kult sei unzulässig, da er der Ehre des einen Mittlers
zwischen Gott und Menschen 19), Jesus Christus, Abtrag tue?
Bei einem solchen Widerstreit der Meinungen wissen Wir nicht, wie
sich da ein Weg freimachen lasse zu einer Einheit der Kirche, die doch
nur von einem Lehramt, von einem Glaubensgesetz und einem Glauben der
Gläubigen ihren Ursprung nehmen kann. Ganz bestimmt aber wissen Wir,
daß man dabei leicht Schritt für Schritt zur Vernachlässigung der
Religion oder zum Indifferentismus kommt und zum sogenannten
Modernismus. Die darin unglücklicherweise verstrickt sind, halten daran
fest, die dogmatische Wahrheit sei nicht absolut, sondern relativ, das
heißt: sie passe sich den Bedürfnissen der verschiedenen Zeiten und
Orte und den verschiedenen Neigungen der Menschen an, da sie nicht in
einer unveränderlichen Offenbarung enthalten, sondern solcher Art sei,
daß sie sich dem Leben der Menschen anbequeme.
Was dann ferner die zu glaubenden Wahrheiten anbelangt, so darf
man sich keinesfalls des Unterschiedes bedienen, den man zwischen
"grundlegenden" und "nicht grundlegenden" Glaubensstücken machen
wollte: als wenn die einen von allen angenommen werden müßten, die
anderen aber frei der Zustimmung der Gläubigen anheimgegeben werden
könnten. Denn die übernatürliche Tugend des Glaubens hat zum
Formalobjekt die Autorität des offenbarenden Gottes, die keine solche
Unterscheidung zuläßt. Alle also, die wahrhaft zu Christus halten,
schenken beispielsweise genau denselben Glauben dem Dogma von der
Unbefleckten Empfängnis Mariae wie dem Geheimnis der heiligen
Dreifaltigkeit, und ebenso dem unfehlbaren Lehramt des Papstes in dem
Sinne, wie es vom allgemeinen Vatikanischen Konzil definiert worden
ist, genau den gleichen Glauben wie der Menschwerdung Christi. Denn ob
solche Wahrheiten bald zu dieser, bald zu jener Zeit oder erst in der
jüngsten Vergangenheit von der Kirche durch feierliches Glaubensdekret
festgelegt und definiert worden sind, verschlägt nichts: sie sind
deshalb ebenso sicher, ebenso pflichtmäßig zu glauben. Hat nicht Gott
der Herr sie alle geoffenbart? Denn das Lehramt der Kirche ist durch
göttlichen Ratschluß zu dem Zwecke auf Erden eingerichtet worden, daß
die geoffenbarten Wahrheiten unversehrt auf ewige Zeiten feststehen und
leicht und sicher den Menschen zur Kenntnis gebracht werden können. Es
wird zwar durch den Papst und die mit ihm in Gemeinschaft stehenden
Bischöfe tagtäglich ausgeübt. Aber es kann auch einmal erforderlich
sein, Irrtümern der Häretiker mit größerer Kraft entgegenzutreten oder
Lehrstücke des heiligen Glaubens mit größerer Deutlichkeit und
Bestimmtheit den Gläubigen einzuprägen.
Da umfaßt das kirchliche Lehramt auch die Aufgabe, in geeigneter
Weise mit feierlichen Zeremonien und Dekreten zu einer
Glaubensentscheidung zu schreiten. Durch einen solchen
außergewöhnlichen Gebrauch des Lehramtes wird keineswegs etwas
Erfundenes eingeführt und keineswegs etwas Neues hinzugetan zu dem
Inhalt der Wahrheiten, die wenigstens einschlußweise in der der Kirche
durch Gott überlieferten Glaubenshinterlage enthalten sind. Sondern was
vorher dem einen oder andern dunkel scheinen konnte, wird erklärt; oder
es wird als Gegenstand des pflichtmäßigen Glaubens festgestellt, was
vorher von manchen in Zweifel gezogen wurde.
Die Einigung aller, die sich Christen
nennen, kann nur durch die Rückkehr der Andersgläubigen zu der einen
wahren römisch-katholischen Kirche erreicht werden, durch die
Unterwerfung unter Lehramt und Leitung des Nachfolgers Petri.
Daher ist es, ehrwürdige Mitbrüder, klar ersichtlich, weshalb der
Apostolische Stuhl niemals zugegeben hat, daß die Seinen an Tagungen
der Nichtkatholiken teilnehmen. Die Einigung der Christen läßt sich
nämlich nicht anders fördern als dadurch, daß man die Rückkehr der
Andersgläubigen zu der einen wahren Kirche Christi fördert, von der sie
eben früher unglückseligerweise abgefallen sind. Zu der einen wahren
Kirche Christi, sagen Wir, die wahrlich allen erkennbar ist und nach
dem Willen ihres Stifters ständig so bleiben wird, wie Er sie zum Wohle
der Gesamtheit eingesetzt hat. Denn die mystische Braut Christi ist im
Verlaufe der Jahrhunderte niemals befleckt worden und kann auch nie
befleckt werden.
So bezeugt es Cyprian: Zum Ehebruch läßt sich die Braut Christi
nicht verführen: sie ist unbefleckt und züchtig. Nur ein Haus kennt
sie, die Heiligkeit eines Schlafgemaches bewahrt sie in keuscher Scham.
20) Und derselbe heilige Märtyrer wunderte sich gar sehr, daß jemand
glauben könnte, diese der göttlichen Festigkeit entstammende und mit
himmlischen Geheimnissen eng verbundene Einheit könne bei der Kirche
zerrissen und durch den Widerstreit einander widerstrebender Meinungen
aufgelöst werden. 21) Denn da der mystische Leib Christi, die Kirche,
nur einer ist 22), zusammengefügt und zusammengeschlossen 23) nach Art
eines physischen Leibes, so wäre es unklug und töricht, zu meinen, der
mystische Leib könne aus unzusammenhängenden und zerstreuten Gliedern
beste-hen: wer also nicht mit ihm verbunden ist, ist kein Glied an ihm
und hängt mit seinem Haupte, Christus, nicht zusammen 24).
Der Papst wird die zum Vaterhaus Heimkehrenden liebevoll aufnehmen.
Ja wahrlich, in dieser einen Kirche Christi ist niemand und
bleibt niemand, der nicht des Petrus und seiner rechtmäßigen Nachfolger
Autorität und Vollmacht gehorsam anerkennt und annimmt. Haben nicht dem
Bischof von Rom als dem obersten Hirten der Seelen die Vorfahren der er
gehorcht, die in die Irrtümer des Photius und der Neuerer verstrickt
sind? Die Söhne haben, ach, das Vaterhaus ver-lassen, das allerdings,
durch Gottes Kraft gestützt, deswegen nicht einfiel oder
zusammenstürzte; möchten sie darum zu ihrem gemeinsamen Vater
zurückkehren: er wird die früher dem Apostolischen Stuhle zugefügten
Unbilden vergessen und sie mit größter Liebe aufnehmen. Denn wenn sie,
wie sie immer sagen, den Wunsch haben, sich mit Uns und den Unseren zu
vereinigen, weshalb möchten sie nicht alsbald zur Kirche gehen, zur
Mutter und Lehrerin der gesamten Christgläubigen 25)? Sie mögen auch
den Lactantius rufen hören: Allein … die katholische Kirche ist es, die
die wahre Gottesverehrung festhält. Das ist der Quell der Wahrheit, das
die Heimat des Glaubens, das der Tempel Gottes: wer nicht da hineingeht
oder wer ihn verläßt, der begibt sich der Hoffnung auf Leben und Heil.
Niemand möge sich mit hartnäckigem Wortschwall schmeicheln und
täuschen. Leben und Heil steht auf dem Spiel; wenn man nicht mit aller
Vorsicht und Sorgfalt darauf bedacht ist, ist es verloren und
vernichtet 26).
Die Heimkehr der Getrennten, die
Förderung der wahren Einheit der Religion, ist der Herzenswunsch des
Papstes und soll der Gegenstand des Gebetes aller sein.
Zum Apostolischen Stuhle also in dieser Stadt, die die
Apostelfürsten Petrus und Paulus mit ihrem Blute weihten, zu dem
Apostolischen Stuhle, der Wurzel und Mutter der katholischen Kirche
27), mögen sich die getrennten Söhne wenden. Nicht zwar in der
Gesinnung, daß die Kirche des lebendigen Gottes, eine Säule und
Grundfeste der Wahrheit 28), auf die Reinheit des Glaubens verzichte
und die Irrtümer der getrennten Söhne dulde, sondern im Gegenteil:
diese mögen sich ihrerseits dem Lehramte und der Leitung der Kirche
anvertrauen. Möchte doch, was Unseren vielen Vorgängern noch nicht
zuteil wurde, sich für Uns glücklich fügen, daß Wir mit väterlichem
Herzen die Söhne umarmen dürfen, die leider durch ein unheilvolles
Zerwürfnis von Uns getrennt wurden. Möge Gott, unser Erlöser, der will,
daß alle Menschen Rettung fänden und zur Einsicht in die Wahrheit kämen
29), Uns erhören, wenn wir innig beten, daß Er alle Irrenden zur
Einheit der Kirche gnädig führen wolle. In diesem so wichtigen Anliegen
erbitten Wir für Uns und für alle die Fürsprache der seligen Jungfrau
Maria, der Mutter der göttlichen Gnade, der Siegerin über alle Häresien
und der Hilfe der Christen, daß sie Uns baldigst die Ankunft des so
innig ersehnten Tages erflehe, an dem alle Menschen auf die Stimme
ihres himmlischen Sohnes hören, erhaltend des Geistes Einheit durch das
Band des Friedens 30).
Ihr wißt es, ehrwürdige Mitbrüder, wie sehr Uns das am Herzen
liegt. Und Wir wünschen, es möchten auch Unsere Söhne es wissen: nicht
bloß alle im Katholizismus, sondern weiterhin alle, die von Uns
getrennt sind. Wenn sie insgesamt in demütigem Gebet das Licht des
Himmels erbitten, werden sie ohne Zweifel zur Erkenntnis der einen
wahren Kirche Jesu Christi gelangen und endlich in sie einziehen, in
vollkommener Liebe mit uns geeint. In diesem Harren und Hoffen spenden
Wir als Unterpfand der göttlichen Gaben und als Zeugen Unseres
väterlichen Wohlwollens euch, ehrwürdige Mitbrüder, und eurem Klerus
und Volke liebevoll den Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom bei St. Peter, den 6. Januar, am Feste der
Erscheinung des Herrn, 1928, im sechsten Jahre Unseres Pontifikates.
Papst Pius XI.
Anmekungen:
1) Job. 17,21.
2) Joh. 13, 35.
3) Hebr. 1, 1 f.
4) Matth. 16, 18 f.; Luk, 22, 32; Joh. 21, 15-17.
5) Mark. 16, 15.
6) Joh. 3, 5; 6, 48-59; 20, 22f. vgl. Matth. 18, 18 usw.
7) Matth. 13.Matth. 13.
8) vgl. Matth. 16, 18.
9) Joh. 10, 16.
10) Joh.21, 15-17.
11) Matth. 28, 19.
12) Matth. 28, 20.
13) Matth. 16, 18.
14) Joh. 17, 21; 10, 16.
15) Joh. 16, 13.
16) Apg. 10, 41.
17) Mark. 16, 16.
18) 2 Joh. 10.
19) Vgl. 1 Tim. 2, 5.
20) Über die Einheit der katholischen Kirche, 6.
21) Ebd.
22) 1 Kor. 12, 12.
23) Eph. 4, 16.
24) vgl. Eph. 5,30; 1, 22.
25) 4. Laterankonzil, Kap. 5.
26) Religiöse Unterweisungen, 4, 30, 11-12.
27) Hl. Cyprian, Brief 48, an Cornelius, 3.
28) 1 Tim. 3, 15.
29) 1 Tim. 2, 4.
30) Eph. 4, 3.
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