DAS BROT DES SOZIALISMUS
von
Sergej N. Bulgakow
(Aus: "DER SCHWARZE BRIEF", Sonderblatt Nr. 43/8o)
Jedem ist die Erzählung des Evangeliums von den Versuchungen Christi in
der Wüste im Gedächtnis, insbesondere von der ersten unter ihnen: "Und
da Er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und
der Versucher trat zu Ihm und sprach: 'Bist Du Gottes Sohn, so sprich,
daß diese Steine Brot werden.' Und Er antwortete und sprach: 'Der
Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort,
das durch den Mund Gottes geht'" (Mt. 4,2-4).
Jede Versuchung enthält eine gewisse Wahrheit, die aber bis zur
Einseitigkeit und Lüge entstellt ist. Das Gefühl des Hungers, der
drohenden Erschöpfung, zeugt von einer peinlichen Schwäche des
Menschen, auf Grund deren er Gefangener des natürlichen Elements ist;
diese Gefangenschaft kann nicht als normaler, des Menschen würdiger
Zustand angesehen werden, durch die Kraft seines schöpferischen Geistes
reißt er sich aus ihm empor zur Freiheit. Und in der göttlichen Macht
dieses Geistes liegt die Kraft, der Natur zu gebieten, aus Steinen Brot
zu machen.
Diese Kraft besaß und offenbarte der Gottmensch, der unter anderen
Gegebenheiten Tausende des Volks in der Wüste mit nur wenigen Broten
und Fischen sättigte; der Versucher legte Ihm also offenbar nichts
seinem Wesen nach für Ihn Unmögliches vor. Die Lüge des Satans bestand
nur darin, daß er riet, die göttliche Macht für die zeitlichen Ziele
des dunklen, sterblichen Seins zu benutzen, sie gleichsam in ein Mittel
der Magie und der Zauberei zu verwandeln. Aber der Menschensohn ist
nicht deshalb gekommen, um uns in diesem dunklen, sündigen und
sterblichen Leben mit mehr Bequemlichkeit auszustatten, sondern um uns
von ihm zu erlösen, indem Er es in seinen Grundlagen überwand.
Die Kraft der Versuchung lag in der relativen Wahrheit ihres Motivs.
Der Gottessohn hungerte wirklich in der Wüste, und zwar nicht nur in
Seiner Person, sondern auch zusammen mit der ganzen Menschheit, die in
den Ketten des Hungers schmachtet und die menschliche Gestalt in dem
ungleichen Kampf mit der Natur verliert. Wissen wir doch sehr gut, daß
der Hunger nicht nur den Leib zerstört, sondern auch die Seele, das
sittliche Wesen verunehrt, Anstoß zu Sünde und Verbrechen gibt. Und ist
deshalb der Gedanke nicht wirklich verführerisch, vor allem und um
jeden Preis den Hunger zu besiegen, die Ketten der Armut zu zerstören
und erst danach auch nach dem Himmel zu fragen? Dies hätte Jesus
natürlich auch den wahren Erfolg Seiner Predigt garantiert und
jedenfalls nicht Golgatha bedingt.
Nicht ohne Grund begannen die Volksmassen, die in der Wüste von Seinem
Wort genährt wurden, erst nachdem sie die Brote und die Fische der
wunderbaren Speisung gegessen hatten, das zu sagen, was sie offenbar
nicht gesagt hatten, selbst als sie Sein Wort hörten: "Das ist wahrlich
der Prophet, der in die Welt kommen soll." Und das Evangelium fügt dem
noch die folgende Begebenheit hinzu: "Da Jesus nun merkte, daß sie
kommen würden und Ihn haschen, daß sie Ihn zum König machten, entwich
Er abermals auf den Berg. Er selbst allein" (Joh. 6,14-15). So groß war
die unmittelbare Wirkung einer einzigen Speisung. Der, der Kraft hatte,
dies immer und für alle zu tun, wurde auf natürliche Weise zum König
dieser Welt und erhielt die Quelle der Gewalt über sie, das Reich von
dieser Welt unter Seine Macht.
Darum ging es also im ersten Teil dieses seiner Bedeutung nach
unendlich tiefen Gesprächs in der Wüste: Was soll der Erlösung der
Menschheit und der Sorge um sie zugrunde gelegt werden - soll sie
unmittelbar von der wirtschaftlichen Gefangenschaft durch die
Verwandlung der Steine in Brote befreit werden, oder aber soll sie
zeitweilig dem unbarmherzigen Element der Welt überlassen werden und
die ganze Kraft des Kampfes für die Erlösung auf das menschliche Herz
gelegt werden? Welchen Weg soll man gehen, wenn es um die Erlösung der
Welt geht, den wirtschaftlichen oder religiösen? Und es gab die
Antwort: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie viele glauben,
sondern von einem jeglichen Wort Gottes. Es gibt ein anderes Gesetz,
eine andere Kraft des Lebens, die das unüberwindbare Element der Welt
überwindet. Man darf der Macht dieses Elements nicht bis zu dem Grade
vertrauen, demzufolge man sie zur Grundlage auch der Erlösung der
Menschheit macht, denn nachdem diese das Wort Gottes verloren hat,
vertrocknet und verdorrt sie geistig.
Dostojewski sagt richtig, daß die Tiefe des Inhalts dieser wenigen
Zeilen wirklich ein Wunder ist: In ihnen ist der geistige Inhalt der
ganzen Geschichte der Menschheit vorgezeichnet, und ihr Sinn wird im
Lichte der historischen Erfahrung immer deutlicher. "Der schreckliche
und kluge Geist (lesen wir bei Dostojewski in der Rede des
Großinquisitors an Christus) sprach zu Dir in der Wüste, und es ist uns
in den Schriften überliefert, daß er Dich gleichsam 'versucht' hat. War
das so? Und könnte man etwas Wahreres sagen als das, was er Dir in den
drei Fragen vorgelegt hat und was Du zurückgewiesen hast, was aber in
den Schriften als die 'Versuchung' bezeichnet wird?
Erinnere Dich der ersten Frage. Ihr Sinn ist ungefähr der: 'Du willst
in die Welt gehen und gehst mit leeren Händen, mit irgendeiner
Verheißung der Freiheit ... Siehst Du dort jene Steine in dieser
nackten und heißen Wüste? Verwandle sie in Brot, und die Menschheit
wird Dir wie eine Herde folgen, wie eine dankbare und gehorsame Herde,
wenn auch ewig zitternd, daß Du Deine Hand wegziehst und ihnen Deine
Brote genommen werden.' Aber Du wolltest dem Menschen nicht die
Freiheit nehmen und hast den Vorschlag zurückgewiesen, denn Du
dachtest, was ist das für eine Freiheit, wenn der Gehorsam mit Broten
erkauft ist. Du hast geantwortet, daß der Mensch nicht vom Brot allein
lebt, aber weißt Du ach, daß sich im Namen eben dieses irdischen Brotes
der Geist der Erde gegen Dich erheben wird, mit Dir kämpfen und Dich
besiegen wird, und daß alle ihm folgen und rufen werden: 'Wer ist dem
Tier gleich, daß es auch macht Feuer vom Himmel fallen.
Weiß Du nicht, daß Jahrhunderte vergehen werden und die Menschheit
durch den Mund ihrer Weisheit verkündigen wird, daß es Verbrechen
überhaupt nicht gäbe und folglich auch keine Sünde, sondern daß es nur
Hungrige gibt. 'Sättige sie, dann kannst Du von ihnen Tugenden
verlangen.' Das werden sie auf ihre Fahnen schreiben, die sich gegen
Dich erheben und durch die Dein Tempel zerstört werden wird. An der
Stelle Deines Tempels wird ein neues Gebäude errichtet werden, wird
sich wieder der neu zu errichtende Babylonische Turm erheben."
Und in grandiosem, noch nicht dagewesenem Ausmaß erlebt man die erste
Versuchung in unseren Tagen, in denen die Menschheit, da sie teilweise
über das Vermögen verfügt, Steine zu Brot zu verwandeln, an diese
Verwandlung als an den einzigen Weg zur Erlösung der Menschheit zu
glauben begonnen hat. Sie hörte auf die Stimme des Versuchers und wurde
durch seine Versuchung verführt. Das ist nämlich die religiöse
Versuchung des Sozialismus.
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HINWEIS AUF EINE ZEITSCHRIFT IN ENGLISCHER SPRACHE:
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