WIR FORDERN PRIESTER
von
Leon Bloy
(aus: "Belluaires et Porchers"; übers, v. Henriette u. Wolfgang Kühne.)
"Noch etwas?" seufzte ein alter Pfarrer, schon dem Schlafe nah,
erschöpft von den kindlichen Bekenntnissen im Beichtstuhl. Es war zur
Zeit meiner ersten Kommunion. Ich erinnere mich, daß diese unverändert
wiederkehrende Frage mich sehr traurig machte. Später hätte ich ihm
vielleicht ganz gut antworten können:
Noch etwas? sagen Sie, das ist ganz einfach: Ich erhebe Anspruch auf
Ihr Herz. Ich verlange, daß Sie das Wort des Meisters erfüllen, daß Sie
Ihr Leben für mich geben. Bis dahin werden Sie nur ein Mietling sein,
ein schlechter Hirte, der seine Herde nicht kennt und den seine Herde
nicht kennt. Wenn der Dieb kommt, findet er Sie eingeschlafen, so tief
eingeschlafen, daß, um Sie aufzuwecken, nicht weniger nötig sein wird
als der Schall der sieben Posaunen des Jüngsten Gerichtes."
So grollen heute die im Stich gelassenen und todestraurigen Seelen
einer Spätzeit, die letzten Spuren der Ähnlichkeit mit Gott, seltene
überlebende und mißachtete Exemplare, die sich von den Gemeinplätzen
der Abtrünnigkeit trotz all ihrer Schießkunst noch nicht zertrümmern
ließen.
Wir fordern Priester. Wir fordern andere Priester. Wir wollen Priester,
die brüderlich verbunden sind mit dem Geist der Einsicht, Priester,
welche die Schönheit und die Größe so lieben, daß sie dafür sterben
könnten, Priester, die ihre eigentliche Berufung nicht aufgeben, wie
man es seit zweihundert Jahren so oft gesehen hat. Wir fordern von
euch, meine Herren Nachfolger der Apostel, daß ihr nicht Ekel vor dem
Armen empfindet, der Jesus sucht, daß ihr nicht die Künstler und die
Dichter verabscheut, daß ihr den nicht in das Lager des Feindes schickt
- durch Ungerechtigkeit, Unvernunft und üble Nachreden -, der nichts
lieber wollte, als an eurer Seite und für euch zu kämpfen, wenn ihr
demütig genug wäret, ihm zu befehlen.
Aber ihr hört ja nicht einmal her, ihr wollt ja nichts wissen, ihr
dämmert bleiern dahin angesichts der Verwundeten, die bluten oder mit
dem Tode ringen, und wenn ein allzu verzweifeltes Geschrei euch zwingt,
die Augen ein wenig zu öffnen, könnt ihr nur das eine sagen: Noch
etwas, mein Kind? Und ihr schlaft sogleich wieder ein und wundert euch,
daß ihr nicht mehr die Herrschaft der Welt habt. Wie könnte ich dieses
Buch anders schließen, in dem vor allem die entsetzliche
Unfruchtbarkeit der Geister aufgezeigt ist, die der Formung von oben
her beraubt sind!
WIR FORDERN PRIESTER!
***
DAS JAHRHUNDERT DES AASES
von
Leon Bloy
(aus: Mon Journal, II; übers. von Henriette und Wolfgang Kühne, in: Der beständige Zeuge)
Beati mortui, hat in Patmos eine Stimme vom Himmel gerufen. Derselbe
Heilige Geist, der die Seligkeit der Toten kundtut, will auch, daß man
für sie bete, und dies wird in der furchterweckenden Totenliturgie
anbefohlen.
Ist für ein menschliches Wesen irgend etwas ebenso wichtig wie das
Totsein? Gibt es einen Zustand, der liebenswerter wäre,
beneidenswerter, erstrebenswerter, köstlicher, geistiger, göttlicher,
schauereinflößender als der Zustand eines Toten, eines wahren Toten,
den man in die Erde legt und der schon vor Gott erschienen ist, um
gerichtet zu werden? Denn nun ist es doch zu Ende mit den alltäglichen
Zufälligkeiten, mit den Verpflichtungen der Welt gegenüber und mit der
Weisheit der Dummköpfe. Es kommt nur darauf an, zu wissen, ob man im
Herrn gestorben ist. Man ist vom Absoluten verschluckt. Man ist absolut
glücklich oder absolut unglücklich, und man weiß es absolut.
Was ist da noch Gemeinsames zwischen einer solchen Seinsform, in der
alles groß ist, und der elenden Hinfälligkeit der modernen Kunstgriffe,
sich mit dem Nichtseienden zu verbünden.
Ach, wieviel eher kommt der Name Aas doch den Passagieren des
neunzehnten Jahrhunderts zu, und wie paßt dieses stinkende Jahrhundert
zu ihrem Schiff! Erinnert ihr euch an das grauenvolle Bild, das Edgar
Poe ersonnen hat: Schiffbrüchige begegnen mitten auf dem Ozean einem
Schiff, das für sie die Rettung bedeuten würde, aber die Mannschaft
dieses Schiffes ist verwest, und die Pest zieht hinter ihr her? Es wird
nicht gesagt, ob jene Leute im Herrn gestorben sind. Man erfährt nichts
darüber, man verzichtet sogar auf jede Mutmaßung.
Die Verfaulten des neunzehnten Jahrhunderts, die das zwanzigste
Jahrhundert zun Ersticken bringen werden - wenn das Feuer nicht
dazwischenkommt -, sind nicht so namenlos wie jene aus der Geschichte
des dämonengejagten Dichters. Jeder von uns hat diese fürchterlichen
Reisenden nur zu gut kennengelernt, und wir werden nicht fertig, ihre
Geschichte zu erzählen.
Aber wozu? Schon seit sehr langem fehlt mir der Schwung, und ich frage
mich, welche Hilfe euch ein so mutlos gewordener Auskehrer bieten
könnte? Vor etwa zwanzig Jahren glaubte ich, man könne, ich will nicht
sagen reinigen, aber wenigstens etwas säubern. Heute suche ich voll
Bitterkeit ein armes Abbild Gottes, das sich ebenso vollständig geirrt
hätte. Offen gesagt, es ist zuviel Dreck, selbst für zwei, selbst für
zweihunderttausend.
Ich komme auf das Wort Aas zurück, das nicht gerade fein und dessen
Lieblichkeit bestreitbar ist und das nur selten in katholischen Salons
zur Anwendung gelangt; aber es ist das einzige, was meinen Gedankengang
auszudrücken vermag. Kann mir denn eine: ein anderes Wort nennen, das
mir dazu dienen könnte, die Abscheulichkeiten hier genau genug zu
bezeichnen und ihnen gerecht zu werden?
Die kleine Zahl lebendiger Seelen, denen das Blut Jesu noch etwas
bedeutet, steht einer unbegreiflich großen Menge gegenüber, die bis
heute nicht vorstellbar war. Es ist "die Schar, die niemand zählen
kann, aus den Völkern, die vor dem Throne stehen, vor dem Angesicht des
Lammes, angetan in weiße Kleider und mit Palmen in den Händen". Diese
Völker sind die modernen Katholiken.
Endlos schreiten sie über die Wiese dahin, die vor dem Himmelstor
liegt. Und dann wird man plötzlich gewahr, daß die Vögel aus den Wolken
herabfallen, daß die Blumen verdorren, daß alles bei ihrem Vorübergehen
stirbt, daß schließlich eine Schleimspur von Fäulnis sich hinter ihnen
herzieht, und wenn man sie anrührt, scheint man auf ewig angesteckt zu
sein wie Philoktet. Das ist die Prozession des Aases. Ich frage noch
einmal, gibt es denn ein anderes Wort dafür?
Dieser Greuel gehört dem neunzehnten Jahrhundert an. In anderen
Zeitläuften fiel man offen und ehrlich vom Glauben ab. Man war
unbefangen und entschlossen ein Abtrünniger. Man empfing den Leib
Christi und ging dann hin, ihn ohne viel Feilschen zu verkaufen, wie
man einem Armen zu Hilfe gekommen wäre. Das war, kurz gesagt, ein
sauberes Geschäft, und man war mit schöner Freimütigkeit ein Judas.
Heute ist das ganz anders; aber bevor ich fortfahre, bitte ich euch und
jene, die mich einmal lesen werden, steht mir bei mit euren Gebeten.
Seit zwanzig Jahren wiederhole ich es in jeder meiner Schriften. Noch
nie hat es so Hassenswertes, so ganz und gar Fluchwürdiges gegeben wie
das zeitgenössische katholische Kirchenvolk - wenigstens in Frankreich
und in Belgien, und ich versage mir die Frage, was wohl das Feuer vom
Himmel mit größerer Sicherheit herabrufen könnte.
Wenn eine Tatsache bekannt und unerklärbar ist, so jene, daß Gott dies
alles zuläßt. Das ist eine ausgemachte Sache. Ich will hier nicht von
dem Blutschweiß reden oder von irgend einem anderen Geheimnis der
Passion; das alles glaube ich schon in meiner Kindheit gesehen zu
haben, als eine alte Verwandte, die mich auf ihrem Schoß einwiegte, zu
mir sagte: "Wenn du nicht artig bist, spucken dir die Juden ins
Gesicht."
Ich will auch nichts anderes ins Gedächtnis zurückrufen, was in
Gethsemane Furcht erregte, aber nicht vergessen soll der erstaunliche
Hohn sein, die unverzeihliche und beispiellose Lästerung, mit welcher
der schmutzige Apostel das Zeichen zum Beginn der göttlichen Qualen
gibt: Osculetur me osculo oris sui. (Er wird mich küssen mit dem Kuß
seines Mundes.)
Um es bei dieser Gelegenheit beiläufig zu sagen, wann wird denn der
Bibelausleger, der unvergleichliche Erklärer kommen, durch den wir
endlich erfahren werden, daß das Hohelied Salomonis einfach eine
vorweggenommene Erzählung der Passion ist, einige dreißig Generationen
vor den vier Evangelien?
Noch einmal also, Gott läßt das alles zu - nur eines nicht. Non
patietur vos tentari supra id quod potestis. (Er wird euch nicht
anfechten lassen über eure Kräfte.) Alles, aber nicht dies eine: "Gott
läßt es nicht zu, daß ihr über eure Kräfte versucht werdet." Nun, man
könnte glauben, daß wir so weit sind, und zwar schon seit langem. Es
ist niederschmetternd.
Ich erkläre im Namen einer ganz kleinen Gruppe von Menschen, die Gott
lieben und entschlossen sind, wenn es sein muß, für ihn zu sterben, daß
der Anblick der modernen Katholiken eine Versuchung ist, die über
unsere Kräfte geht.
Was mich betrifft, so gestehe ich, daß meine Kräfte sehr abgenommen
haben. Ich werde jetzt vierundfünfzig Jahre alt, und seit wenigstens
dreißig Jahren sehe ich die Katholiken die übelsten Schmutzereien
begehen. Ich will gern, daß diese Schweine meine Brüder seien oder
wenigstens meine Vettern, da ich, wie sie, katholisch bin und
verpflichtet, demselben Hirten zu gehorchen, der ohne Zweifel ein
verlorener Sohn ist; aba: wie sollte man nicht aufspringen, nicht
entsetzliche Schreie ausstoßen?...
Ich lebe oder, richtiger gesagt, ich vegetiere schmerzlich und
wunderbarerweise hier in Dänemark, ohne Möglichkeit, zu entrinnen,
unter unheilbaren Protestanten, die etwa dreihundert Jahre lang von
keinem Licht mehr getroffen wurden, seit ihre Nation, ohne eine Sekunde
zu zögern, auf die Stimme eines davongelaufenen Mönches sich in einem
Massenaufstand erhoben hat, um Jesus Christus zu verleugnen. Die
Schwächung der Vernunft bei diesen armen Menschen ist eines der
erschreckendsten Wunder der göttlichen Gerechtigkeit. Ihre Unwissenheit
übersteigt alles, was man sich vorstellen kann. Sie sind so weit, nicht
ein einziges umfassendes Gedankenbild mehr formen zu können und
ausschließlich in abgegriffenen Gemeinplätzen zu leben, die sie ihren
Kindern hinterlassen, als seien es Neuheiten. Finsternis über Gräbern.
Aber die Katholiken! Geschöpfe, die groß geworden und erzogen sind im
Licht, keinen Augenblick im unklaren darüber gelassen, daß sie in einem
erschreckenden Stand der Bevorrechteten leben; sie können gar nicht
immer nur dem Irrtum begegnen, so sehr hat die Gemeinschaft, in der sie
leben - mag sie zerstört sein, wie sie ist -, noch göttliche Einheit
bewahren können! Geistige Wesen, in die gleich den Schalen der von Gott
Eingeladenen nur der starke Wein der wahren Lehre unvermischt gegossen
wurde!,.. Diese Wesen, sage ich, sind freiwillig in die finsteren Räume
hinabgestiegen, noch tiefer als die Häretiker und die Ungläubigen,
angetan mit dem Geschmeide des Hochzeitsfestes, um dort entsetzliche
Götzenbilder verliebt zu küssen!
Feigherzigkeit, Geiz, Dummheit, Grausamkeit. Nicht lieben, nicht geben,
nicht sehen, nicht begreifen, und, so viel man kann, Leiden
verursachen! Genau das Gegenteil des Nolite conformari huic saeculo
(Macht euch nicht gleichförmig mit diesem Jahrhundert). Die Verachtung
dieses Gebotes ist unzweifelhaft das Vollendetste an Unseligkeit, was
der menschliche Wille fertiggebracht hat, seit das Christentum
verkündet wird...
Ich kenne nichts, was meinen Ekel so erregt, wie über diese Elenden zu
sprechen, die das LEIDEN des Heilandes noch klein erscheinen lassen, so
sehr sieht es danach aus, daß sie imstande gewesen wären, es besser zu
machen als die Henker von Jerusalem... |