Enzyklika "E supremi Apostolatus"
vom 4. Oktober 1903
von
Papst Pius X.
APOSTOLISCHES RUNDSCHREIBEN AN DIE PATRIARCHEN, PRIMATEN, ERZBISCHÖFE,
BISCHÖFE UND ANDEREN ORTSORDINARIEN, DIE FRIEDEN UND GEMEINSCHAFT MIT
DEM APOSTOLISCHEN STUHL HABEN.
Ehrwürdige Brüder! Gruß und Apostolischen Segen!
Vom Lehrstuhl der höchsten Spitze des Apostelamtes aus, worauf Wir
durch Gottes unerforschlichen Ratschluß erhoben worden sind, möchten
Wir erstmals zu Euch sprechen. Da kommt es nicht darauf an, in
Erinnerung zu bringen, mit welchen Tränen und großen Bitten Wir die
furchtbare Last des Papsttums von Uns abzuwehren versuchten. Obgleich
an Verdiensten nicht ebenbürtig, denken Wir, auf Uns beziehen zu
können, was Anselmus, der überaus heilige Mann, klagte, als er,
widerstrebend und Widerstand leistend, gezwungen wurde, die Ehre der
bischöflichen Würde anzunehmen. Denn was jener für sich selbst als
Merkmale der Trauer berichtete, ebendas ist Uns gestattet darzutun,
damit Wir zeigen, mit welcher Gesinnung, mit welchem Willen Wir die
allerschwerste Aufgabe, die Herde Christi zu weiden, auf Uns genommen
haben.
Jener sagt: "Meine Tränen, mein Rufen, mein Schreien, mögen Zeugnis
geben von der Betrübnis meines Herzens! Ich erinnere mich niemals, bei
welchem Schmerz immer, ähnliches von mir gegeben zu haben, bevor jener
Tag angebrochen war, an welchem das schwere Amt des Erzbistums von
Canterbury auf mich gefallen war. Dies konnten diejenigen wohl wissen,
die an diesem Tage mein Antlitz beobachteten... An Farbe glich ich mehr
einem Toten als einem Lebenden, da ich durch Erstarrung und Schmerz
entfärbt war. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe gegen diese Wahl, oder
vielmehr Gewalt, die mich getroffen hat, soviel ich konnte Widerstand
geleistet. Aber sogleich, ob ich wollen mag oder nicht, bin ich
gezwungen zu erkennen, daß sich die Absichten Gottes mehr und mehr
meiner Bemühung entgegenstellen. So sehe ich ein, ihnen auf gar keine
Weise entfliehen zu können. Besiegt daher nicht so sehr durch die
Gewalt der Menschen als durch die Gewalt Gottes, gegen welche es keine
Klugheit gibt, begreife ich es bereits, daß ich für mich nur folgende
Überlegung anstellen darf: Nachdem ich gebetet habe, so viel ich es
vermochte, und mich anstrengte, daß - wenn es möglich wäre - dieser
Kelch an mir vorübergehe ohne daß ich ihn trinke, setze ich meinen Sinn
und meinen Willen hintan, und vertraue mich ganz dem Sinn und dem
Willen Gottes an" (1).
Gewiß mangelte es Uns nicht an vielen und wichtigsten Gründen um zu
widerstreben. Abgesehen davon, daß Wir Uns wegen Unserer Armseligkeit
auf keinen Fall des päpstlichen Amtes für würdig erachteten: wen würde
es nicht erschüttern, zum Nachfolger des Mannes bestimmt zu werden,
der, während er fast 26 Jahre hindurch voll Weisheit die Kirche
regierte, so viel durch den Eifer seines Charakters, so viel durch so
großen Glanz aller Tugenden zu leisten vermocht hat, daß er selbst die
Gegner dazu brachte, ihn zu bewundern, und das Andenken an seinen Namen
durch herrlichste Taten geweiht hat? - Sodann, um das Übrige zu
übergehen, erschreckte Uns, und zwar am allermeisten, der gegenwärtige
überaus verzweifelte Zustand des Menschengeschlechtes. Wem ist es denn
verborgen, daß das Zusammenleben der Menschen gegenwärtig mehr als in
vergangenen Zeiten von einer überschweren und zuinnerst sitzenden
Krankheit bedrückt wird, die von Tag zu Tag schlimmer wird und es
völlig zersetzt und tödlich dahinrafft? Ihr wißt, Ehrwürdige Brüder, um
welche Krankheit es sich handelt: um das Abtrünnigwerden und das
Weggehen von Gott. Wahrlich, nichts ist gefährlicher als dies, nach dem
Wort des Propheten: Denn siehe, die sich von dir ent-fernen, werden
zugrundegehen (2). Wir erkannten, kraft der anvertrauten päpstlichen
Würde einem so großen Übel entgegenarbeiten zu müssen. Denn Wir hielten
dafür, daß der Befehl Gottes an uns gerichtet ist: Siehe ich habe dich
heute über Völker und über Reiche gesetzt, daß du ausreißt und
zerstörst, verdirbst und niederreißt, aufbauest und pflanzest (3). Uns
wahrhaft Unserer Schwachheit bewußt, haben wir es nicht gewagt, ein Amt
zu übernehmen, das an der Fülle von Hindernissen und Schwierigkeiten
seinesgleichen nicht hat.
Und dennoch: da es nun einmal der Göttlichen Majestät gefiel, Unsere
Niedrigkeit zu dieser Gewaltenfülle emporzuheben, richteten Wir Unseren
Geist auf in Dem, der Uns stärkt. Auf Gottes Kraft vertrauend, legen
Wir Hand an das Werk und erklären, daß Hauptgegenstand des päpstlichen
Wirkens für Uns dies eine sein soll: Alles in Christus zu heiligen (4),
daß nämlich Christus alles und in allem sei (5). - Es wird sicherlich
Leute geben, die, indem sie das Göttliche mit Menschenmaß messen,
auszuforschen versuchen, was denn die Absicht bei Unserem Entschlusse
sei, um diese auf weltlichen Nutzen und auf Eifer für weltliche Dinge
zu verdrehen. Wir erklären dies laut als eine eitle Hoffnung und
beteuern mit Nachdruck, nichts sein zu wollen; bezüglich des künftigen
Zusammenlebens der Menschen nichts als mit Gottes Hilfe Diener Gottes,
Dessen Gewalt Wir ausüben. Die Absichten Gottes sind Unsere Absichten.
Es ist beschlossen, für diese alle Kräfte und das Leben aufzuopfern.
Und wenn einige ein Sinnbild von Uns erbitten, das Aufschluß über den
innerlichen Willen gibt, so werden Wir immer dieses eine geben: Alles
in Christus zu heiligen!
Bei der Verrichtung und Betreibung dieses herrlichen Werkes, Ehrwürdige
Brüder, flößt es Uns höchsten Eifer ein, daß Wir euch alle sicherlich
als tatkräftige Mitarbeiter haben werden, um die Sache zur Vollendung
zu bringen. Wenn Wir nämlich dies in Zweifel zögen, so hielten Wir euch
freilich - fürwahr nicht mit Recht - für unwissend oder nachlässig in
Bezug auf jenen frevelhaften Krieg gegen Gott, der jetzt nahezu überall
losgebrochen ist und gefördert wird. Denn wahrlich: gegen ihren
Schöpfer toben die Heiden und sinnen eitlen Plan die Völker (6); sodaß
nahezu allgemein der Ruf der Feinde gegen Gott ist: Entschwinde von uns
(7). Daher ist in den meisten Fällen die Ehrfurcht vor dem ewigen Gott
ausgelöscht. Weder in den privaten noch in den öffentlichen
Lebensgewohnheiten hat man als Grundsatz Seinen allerhöchsten Willen.
Vielmehr strengt man sich mit ganzer Kraft und mittels jeglichen
Kunstgriffes an, daß sogar die Erinnerung an Gott und der Gedanke an
Ihn vollständig untergehen.
Wer dies ernstlich erwägt, der fürchtet gewiß, daß notwendigerweise
diese Verkehrtheit der Seelen eine gewisse Probe oder gleichsam einen
Anfang der Übel darstellt, die für die Endzeit zu erwarten sind; oder
ob nicht der Sohn des Verderbens, von welchem der Apostel spricht (8),
sich schon hier auf Erden befindet. Mit einer solchen Verwegenheit, mit
einer solchen Raserei greift man überall Religion und Frömmigkeit an,
werden die Lehren des geoffenbarten Glaubens bekämpft; und man ist ohne
Rücksicht bestrebt, jegliche Verpflichtung, welche der Mensch Gott
gegenüber hat, aus dem Wege zu räumen und auszutilgen. Anderseits, was
gemäß demselben Apostel das charakteristische Merkmal des Antichrist
ist: der Mensch dringt in allerhöchster Verwegenheit selbst an die
Stelle Gottes ein, wobei er sich über alles, was Gott genannt wird,
erhebt. Obwohl er nicht imstande ist, die Kenntnis von Gott in sich
gänzlich auszulöschen, geht er so weit, nach Verschmähung der
Göttlichen Majestät sich diese sichtbare Welt gleichsam selbst zum
Tempel zu bestimmen, wo er von den anderen angebetet werden muß. Er
setzt sich in den Tempel Gottes und stellt sich zur Schau als sei er
Gott (9).
Mit welchem Erfolg diese Schlacht der Sterblichen gegen Gott gekämpft
wird: niemand, der gesunden Sinnes ist, kann darüber im Zweifel sein.
Es ist dem Menschen gegeben, unter Mißbrauch seiner Freiheit sich am
Recht und an der Majestät des Schöpfers aller Dinge zu vergreifen.
Gleichwohl steht der Sieg Gottes immer fest. Denn es steht auch die
Niederlage umso drohender bevor, umso kühner sich der Mensch in
Hoffnung auf den Triumph erhebt. Dies mahnt uns Gott selbst in der
Heiligen Schrift. Denn er sieht über die Sünden der Menschen hinweg
(10), gleichsam uneingedenk Seiner Macht und Majestät. Bald jedoch nach
dem scheinbaren Zurückweichen erwacht er... wie ein Held, der vom Weine
berauscht war (11), und wird die Häupter seiner Feinde zerschmettern
(12), sodaß alle erfahren werden, daß Gott König über die ganze Erde
ist (13), und die Völker erkennen, daß sie Menschen sind (14).
Dies, Ehrwürdige Brüder, halten Wir mit sicherem Glauben fest und
erwarten Wir. Es hindert uns aber nicht daran, jeder seinen Teil dazu
mitzusorgen, daß das Werk Gottes zur Reife gebracht werde; und dies
nicht bloß durch beharrliches Verlangen: Erhebe dich, Herr, nicht
überhebe sich der Mensch (15), sondern, woran mehr gelegen ist,
dadurch: in Tat und Wort, in aller Öffentlichkeit, die oberste
Herrschaft Gottes über die Menschen und über die übrigen Naturdinge
auszusprechen und zu beanspruchen, sodaß Sein Recht und Seine Gewalt
des Gebietens von allen unverbrüchlich hochgehalten und beobachtet
werde. - Dies verlangt nicht bloß eine Pflicht von Natur aus, sondern
auch der allgemeine Nutzen unseres Geschlechtes. Wessen Seele,
Ehrwürdige Brüder, ist nicht von Ratlosigkeit und Trauer verzehrt, wenn
er den größten Teil der Menschen sieht: während eben die Fortschritte
der Humanität nicht unverdient gerühmt werden, kämpfen sie
untereinander heftig und mit solch wilder Erbitterung, daß beinahe ein
Kampf aller gegen alle herrscht. Die Begierde nach Frieden rührt
wahrlich die Herzen aller an, und es ist niemand, der nicht
leidenschaftlich nach ihm ruft. Jedoch: wenn Gott verschmäht wird, ist
es sinnlos, den Frieden zu suchen. Von wo nämlich Gott ferne ist, von
dort ist die Gerechtigkeit verbannt. Und nach Beseitigung der
Gerechtigkeit jagt man umsonst einer Hoffnung auf Frieden nach. Das
Werk der Gerechtigkeit ist der Friede (16).
Wir wissen allerdings, daß es nicht wenige gibt, die - vom Eifer für
den Frieden, nämlich der Ruhe in der Ordnung, geleitet - sich in
Vereinen und Parteien eng zusammenschließen, welche sie nach der
Ordnung benennen. Ach, welche leeren Hoffnungen und Bemühungen! Die
Partei der Ordnung, welche in der Tat bei gestörten Verhältnissen den
Frieden bewirken kann, ist eine einzige: die Partei derer, die Gott
zugeneigt sind. Es ist notwendig, diese zu vergrößern, und ihr
möglichst viele zuzuführen, wenn das Streben nach Sicherheit uns
anspornt.
Ehrwürdige Brüder! Auf welche Weise immer wir es unternehmen, die
Völker zur Majestät und zur Herrschaft Gottes zurückzurufen - es wird
niemals gelingen außer durch Jesus Christus. Es mahnt nämlich der
Apostel: Niemand kann einen anderen Grund legen als den, der gelegt
ist: Christus Jesus (17). Er selbst ist nämlich der Eine, den der Vater
geheiligt und in die Welt gesandt hat (18); der Abglanz seiner
Herrlichkeit, und das Abbild seines Wesens (19), wahrer Gott und wahrer
Mensch, ohne den notwendigerweise Gott niemand erkennen kann; denn
niemand kennt den Vater, als nur der Sohn, und der, dem der Sohn es
offenbaren will (20). - Daraus folgt, daß es ganz dasselbe ist, alles
in Christus zu heiligen, und die Menschen zum Gehorsam gegen Gott
zurückzuführen. Darauf müssen wir also unsere Besorgnis richten, daß
wir das Menschengeschlecht unter die Oberherrschaft Christi bringen.
Wenn dies geschehen ist, dann ist es ganz und gar zu Gott
zurückgekehrt. Wenn Wir sagen: zu Gott, so meinen Wir nicht jenen
nachlässigen, der sich um die Men-schen nicht kümmere, wie ihn das
Geschwätz der Materialisten vortäuscht, sondern den lebendigen und
wahren Gott, eins der Natur nach, drei in den Personen, den Schöpfer
der Welt, der alles auf das weiseste vorsieht; schließlich den
allergerechtesten Gesetzgeber, der die Schuldigen schlägt, für die
Tugenden aber den verheißenen Lohn hat.
Wodurch uns nun aber der Weg zu Christus offensteht, das liegt vor
Augen: durch die Kirche nämlich. Daher sagt Chrysostomus mit Recht:
Deine Hoffnung: die Kirche, dein Heil: die Kirche, deine Zuflucht: die
Kirche (21). Dafür nämlich hat Christus sie gegründet, sie um den Preis
Seines Blutes erworben, und ihr Seine Lehre und die Gebote Seiner
Gesetze anvertraut, wobei Er sie zugleich mit überreichen göttlichen
Gnadenmitteln zur Heiligkeit und zum Heil der Menschen ausstattete.
Ihr seht also, Ehrwürdige Brüder, welches endlich dieses Amt ist,
welches Uns und euch zugleich aufgetragen ist: die Gemeinschaft der
Menschen, die von der Weisheit Christi abirrt, zu den Grundsätzen der
Kirche zurückzurufen. Die Kirche unterwirft sie Christus, Christus aber
Gott. Wenn Wir das mit Gottes Gnade vollenden, werden Wir mit Freude
dafür danken, daß die Bosheit der Gerechtigkeit gewichen sein wird, und
Wir werden glücklich eine gewaltige Stimme vom Himmel rufen hören: Nun
ist gekommen das Heil, die Macht und die Herrschaft unseres Gottes und
die Macht Seines Gesalbten (22). - Auf daß den Wünschen dieser Erfolg
entspreche, ist es notwendig, uns mit voller Kraft und Anstrengung zu
bemühen, daß wir jenes ungeheure und verabscheuungswürdige Verbrechen,
das dieser Epoche eigen ist, gänzlich austilgen: nämlich daß sich der
Mensch an die Stelle Gottes setzt. Die hochheiligen Gesetze und
Ratschlüsse des Evangeliums müssen wieder ihre frühere Würde erhalten.
Die von der Kirche überlieferten Wahrheiten, darunter die Lehre über
die Heiligkeit der Ehe, über die Erziehung und Schulung der Jugend,
über den Besitz und die Nutznießung der Güter, über die Pflichten
derer, welche die öffentlichen Angelegenheiten verwalten, müssen
sichergestellt werden. Schließlich ist das Gleichgewicht zwischen den
verschiedenen Klassen der Staatsbürger nach christlicher Sitte und
Vorschrift wiederherzustellen. - Wahrlich: dem Wink Gottes gehorchend,
stellen wir euch dies vor Augen, daß es innerhalb des päpstlichen Amtes
aus-geführt werden soll, und Wir werden es nach Maßgabe der Kräfte
ausführen. An euch, Ehrwürdige Brüder, wird es liegen, durch
Heiligkeit, durch Weisheit, durch Ausführung alles Erforderlichen
vorzüglich aber durch Eifer für die Ehre Gottes Unsere Bemühungen zu
begünstigen. Seht dabei auf nichts anderes, als daß in allem Christus
Gestalt gewinne (23).
Welcher Hilfsmittel Wir uns bei einer so großen Sache bedienen, das muß
kaum gesagt werden: sind sie doch aus dem geschöpft, was allgemein
bekannt ist. Die erste Sorge sei, daß Wir Christus Gestalt gewinnen
lassen in denen, die von amtswegen dazu bestimmt sind, Christus in den
übrigen Menschen Gestalt gewinnen zu lassen. Auf die Priester,
Ehrwürdige Brüder, auf sie ist der Sinn gerichtet. Wieviele es auch
sind, die für den Gottes-Dienst geweiht sind: mögen sie unter den
Menschen, zu welchen sie immer gesandt sein mögen, jenes ihnen
übergebene Amt erkennen, von welchem Paulus mit folgenden höchst
liebevollen Worten bezeugt, es übernommen zu haben: Meine Kindlein,
noch einmal leide ich um euch Geburtswehen, bis Christus in euch
Gestalt gewonnen hat (24). Können diese ihre Pflicht erfüllen, wenn sie
nicht selbst als erste Christus angezogen haben? Mögen sie Ihn so
anziehen, daß das Wort desselben Apostels für sie Anwendung finden
kann: Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir (25); Christus ist für
mich das Leben (26). Zwar erstreckt sich die Ermunterung, daß wir der
Mannesreife, dem Maß des Vollalters Christi ... entgegeneilen mögen
(27), auf alle Gläubigen. Besonders aber gilt sie für den Priester.
Dieser wird daher genannt: zweiter Christus: geeint mit Ihm nicht bloß
durch Anteilhabe an Seiner Gewalt, sondern auch durch Nachahmung Seiner
Handlungsweise. Hierdurch legt er in sich ein anschauliches Bild
Christi an den Tag.
Weil es sich so verhält, Ehrwürdige Brüder: wie beschaffen und wie groß
muß die Sorge sein, die ihr darauf verwenden sollt, den Klerus zu
jeglicher Heiligkeit heranzubilden! Alle übrigen Tätigkeiten, welche es
auch sein mögen, müssen vor dieser zurücktreten. Daher sei der
wesentlichere Teil eurer Bemühungen den Seminarien und ihrer heiligen
und vorschriftsmäßigen Ordnung und Leitung gewidmet, sodaß diese
gleichermaßen durch die Reinheit der Lehre wie durch die Heiligkeit der
Sitten ausgezeichnet sind. Das Seminar sei für einen jeden unter euch
die Freude seines Herzens! Unterlaßt keinesfalls etwas, was vom Konzil
von Trient in überaus weiser Voraussicht bestimmt wurde. - Wenn es so
weit ist, daß den Kandidaten die heiligen Weihen erteilt werden sollen,
so verliert bitte nicht das Wort des Paulus aus dem Sinn, das dieser an
Timotheus schrieb: Lege keinem voreilig die Hände auf (28). Erwägt
dabei mit größter Aufmerksamkeit, daß die künftigen Gläubigen
gewöhnlich genau so beschaffen sein werden, wie es die sind, welche ihr
zum Priestertum bestimmen werdet. Schaut daher auf keinen wie auch
immer gearteten privaten Nutzen. Schaut vielmehr einzig und allein auf
Gott, auf die Kirche, und auf das ewige Glück der Seelen, so daß ihr
nicht etwa, wie der Apostel warnt, mitschuldig werdet an fremden Sünden
(29). - Sodann mögen die neugeweihten Priester, nachdem sie das Seminar
verlassen haben, nicht eure eifrige Obsorge vermissen. Wir fordern aus
tiefster Seele dazu auf: Nehmt sie oft an euer Herz, das von
himmlischem Feuer entbrannt sein soll; entzündet und entflammt sie, daß
sie einzig nach Gott und nach dem Gewinn von Seelen trachten. Wir
Unsererseits, Ehrwürdige Brüder, werden mit größter Aufmerksamkeit
Vorsorge dafür treffen, daß nicht die Angehörigen des heiligen Klerus
durch den Trug der gewissen neuen und trügerischen Wissenschaft
verlockt werden. Diese hat nicht den Wohlgeruch Christi, und sie
trachtet darnach, mittels verfälschter und schlauer Beweisgründe die
Irrtümer des "Rationalismus" und des "Semirationalismus" einzuführen.
Schon der Apostel mahnt den Timotheus mit folgenden Worten, sich davor
zu hüten: Bewahre das anvertraute Gut, indem du die ruchlosen
Neuerungen im Ausdruck und die Streitfragen der fälschlich so genannten
Wissenschaft meidest, zu welcher sich einige bekannt haben und so vom
Glauben abgefallen sind (30). Dies bedeutet nicht, daß Wir etwa jene
unter den jüngeren Priestern für weniger lobenswert erachten, welche
nutzbringende Lehrfächer aus allen Wissensgebieten mit dem Ziel
studieren, dadurch besser unterwiesen zu sein zur Verteidigung der
Wahrheit und zur Zurückweisung der Verleumdungen der Gotteshasser.
Gleichwohl können Wir es nicht verheimlichen, wir bekennen es vielmehr
ganz offen: daß Wir immer jenen den ersten Platz zuweisen werden, die -
obwohl sie die heiligen und die weltlichen Wissenschaften keinesfalls
außerachtlassen - nichtsdestoweniger in erster Linie sich dem Wohl der
Seelen durch Besorgung der Obliegenheiten weihen, welche sich für einen
Priester, der auf die Ehre Gottes bedacht ist, geziemen. Wir tragen
große Trauer und beständigen Schmerz in Unserem Herzen (31), da Wir
wahrnehmen, daß die Klage des Jeremias auch auf unsere Zeit paßt: Die
Kindlein bitten um Brot, und niemand ist, der es ihnen breche (32).
Denn es fehlt unter dem Klerus nicht an solchen, die - ein jeder nach
seinem eigenen Sinn - etwa Mühe auf eine Tätigkeit verwenden, die sich
mehr auf wesenlose Dinge als auf solche von bleibendem Nutzen
erstreckt. Indessen werden nicht so viele gezählt, die nach dem
Beispiel Christi das Prophetenwort als an sie gerichtet nehmen: Der
Geist des Herrn ... hat mich gesalbt und mich gesendet, den Armen das
Evangelium zu verkünden, zu heilen, die zerknirschten Herzens sind, den
Gefangenen Erlösung zu predigen und den Blinden das Augenlicht (33).
Wem, Ehrwürdige Brüder, ist es unbekannt, daß die Menschen vorzüglich
durch Vernunft und Freiheit bestimmt werden, und daß daher die
Unterweisung in der Religion der wichtigste Weg ist, um die Herrschaft
Gottes in den menschlichen Seelen wiederherzustellen? Denn gewiß tun
die, welche Christus hassen und die Kirche und das Evangelium
verabscheuen, dies mehr aus Unwis-senheit als aus seelischer
Schlechtigkeit! Von diesen heißt es mit Recht: sie lästern alles, was
sie nicht kennen (34). Und dies kann man nicht nur beim Volk oder in
der ungebildetsten Masse, welche daher leicht zum Irrtum zu verleiten
ist, feststellen, sondern auch unter den gehobenen Ständen und sogar
bei jenen, welche ansonsten durch überdurchschnittliche gelehrte
Bildung einflußreich sind. Hier mangelt es in den allermeisten Fällen
am Glauben. Das Verlöschen des Glaubens ist nicht den Fortschritten der
Wissenschaft zuzuschreiben, sondern vielmehr dem Unverstand. Deshalb:
je grösser irgendwo die Unwissenheit ist, umso offenkundiger ist dort
auch der Abfall vom Glauben. Deswegen ist den Aposteln von Christus
aufgetragen worden: Gehet hin, und lehret alle Völker (35).
Daß nun aber aus dem Amt und dem Eifer zum Lehren die erhofften Früchte
hervorgehen und in allen Christus Gestalt gewinnt, muß immer daran
gedacht werden, Ehrwürdige Brüder, daß es überhaupt nichts Wirksameres
gibt als die Liebe. Denn der Herr ist nicht in der Erregung (36). Es
ist eine verkehrte Hoffnung, daß die Seelen für Gott durch Bemühungen,
die verletzend sind, gewonnen werden. Allzuhart die Irrtümer zu tadeln
und allzu streng die Laster zurechtzuweisen: das kann manchmal mehr
schädlich als nützlich sein. Der Apostel forderte den Timotheus auf:
Überführe, weise zurecht und ermahne; aber er fügt hinzu: in aller
Geduld (37).
Christus gab uns ohne Zweifel Beispiele dieser Art. So lesen wir, daß
Er selbst gesagt hat: Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen
seid, und ich werde euch erquicken (38). Unter den Mühseligen und
Beladenen verstand Er niemand anderen als diejenigen, die durch Sünde
oder Irrtum gefangengehalten werden. Wie groß ist doch die Milde des
Göttlichen Meisters! Welche Liebens-würdigkeit, welches Erbarmen mit
den Leidgeprüften! Sein Herz wird klar von den Worten des Isaias
beschrieben: Ich legte meinen Geist auf ihn; ... er wird nicht lärmen;
... das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht
löscht er nicht aus (39). Welche Liebe, geduldig und gütig (40) muß
auch denen entgegengebracht werden, die uns feindselig sind oder uns
feindlich verhöhnen. Man flucht uns, und wir segnen; man verfolgt uns,
und wir nehmen es geduldig hin; wir werden gelästert, und wir beten
(41), bekannte Paulus von sich selbst. Manche erwecken einen
schlechteren Anschein, als sie es wirklich sind. Sie sind durch die
Gewohnheiten anderer, durch vorurteilshafte Meinungen, durch fremde
Ratschläge und Beispiele, oder durch schlecht beratene Rücksichtnahme
auf die Seite der Gottlosen gebracht worden. Dennoch ist ihr Wille
nicht so ver-derbt, wie sie gerne wollen, daß man es von ihnen annimmt.
Warum hoffen wir nicht, daß das Feuer der christlichen Liebe die
Finsternis aus den Seelen zerstreuen und zugleich das Licht Gottes und
den Frieden einflößen werde? Vielleicht verzögert sich manchmal die
Frucht unserer Bemühung. Die Liebe jedoch wird durch einen Aufschub
niemals ermüdet, eingedenk dessen, daß der Lohn von Gott nicht für die
Früchte der Mühe verheißen ist, sondern für das Gewilltsein zu ihr.
Es ist jedoch nicht in Unserem Sinn, Ehrwürdige Brüder, daß ihr und
euer Klerus bei dem ganzen so schwierigen Werk der Wiederherstellung
der Völker in Christus keine Helfer habt. Wir wissen, daß Gott
Vorschriften gegeben hat, wie ein jeder sich gegen seinen Nächsten
verhalten solle (42). Also nicht nur jene, die sich dem Gottesdienst
geweiht haben, sondern alle Gläubigen ohne Aus-nahme sollen mit Mühe
die Interessen Gottes und der Seelen erstreben: freilich nicht nach
Kampfes-art und Phantasie eines jeden Einzelnen, sondern immer unter
Leitung und auf Weisung der Bischöfe. Denn: vorzustehen, zu lehren und
zu bestimmen ist in der Kirche niemandem gegeben als euch, die der
Heilige Geist eingesetzt hat, die Kirche zu regieren (43).
Daß die Katholiken nach verschiedenen Plänen, aber immer zum Wohl der
Religion, untereinander zur Gemeinschaft zusammentreten: das haben
Unsere Vorgänger schon lange gutgeheißen und mit wohlwollender
Gewährung genehmigt. Auch Wir zögern nicht, diese ausgezeichnete
Einrichtung mit Unserem Lobe zu ehren, und Wir wünschen inständig, daß
sie weit in Stadt und Land hinaus getragen werde und in Blüte stehen
möge. Es ist aber in Wahrheit Unser Wunsch, daß Vereinigungen dieser
Art in erster Linie und vor allem danach streben, daß alle, die in sie
eintreten, mit Beständigkeit gemäß der christlichen Sitte leben. Es ist
wahrlich wenig daran gelegen, daß über viele und subtile Fragen geredet
und über Rechte und Pflichten gekonnt abgehandelt wird, wo dies alles
von der Tat abgetrennt ist. Die Zeiten erfordern die Tat! Aber diese
muß ganz und gar darin bestehen, daß die göttlichen Gesetze und die
Gebote der Kirche heilig und unversehrt bewahrt werden; daß die
Religion frei und offen bekannt werde; daß Liebestaten jeglicher Art
vollbracht werden. Nichts darf mit Rücksicht auf den eigenen Nutzen
oder aus irdischem Nutzen geschehen. Die glänzenden Vorbilder so vieler
Streiter Christi werden weitaus wirksamer sein, um die Seelen
hinzureißen und zu bewegen, als Worte und auserlesene Erörterungen. So
wird es leicht sein, nach Ablegung der Furcht und nach Zerstreuung der
Vorurteile und Zweifel, daß möglichst viele auf die Seite Christi
gebracht werden und die Kenntnis von Ihm und die Liebe zu Ihm überall
befördern: denn diese letzteren sind ja der Weg zur wahren und echten
Glückseligkeit. Wahrhaft: wenn überall in den Städten und auf dem Lande
die Gebote Gottes treulich gehalten werden; wenn das Heilige geehrt
wird; wenn die Sakramente häufig empfangen werden; und wenn auf alles
übrige geachtet wird, was zum Begriff des christlichen Lebens gehört:
dann ist darüber hinaus überhaupt nichts mehr zu tun notwendig, daß
alles in Christus geheiligt werde. Man meine nicht, daß dies alles
allein seinen Bezug auf die Erlangung der himmlischen Güter habe: es
wird vielmehr in höchstem Maße auch für diese Zeit und für die
öffentlichen Interessen der Staaten von Nutzen sein. Denn wenn dies
alles durchgesetzt ist, dann werden die Vornehmen und Reichen aus
Gerechtigkeit und Liebe zugleich den Bedürftigen zur Seite stehen;
diese aber werden Schwierigkeiten eines verzweifelten Geschickes ruhig
und geduldig ertragen. Die Bürger werden nicht der Begierde, sondern
den Gesetzen gehorchen. Die Verehrung und Liebe zu den Fürsten und
Staatenlenkern, die keine Gewalt haben außer von Gott (44), wird
unverbrüchlich sein. Was braucht es mehr? Dann werden auch schließlich
alle davon überzeugt sein, daß die Kirche, so wie sie von ihrem Urheber
Christus gegründet worden ist, die volle und ungeschmälerte Freiheit
genießen muß und keiner fremden Oberherrschaft unterworfen werden darf.
In dieser Freiheit, die Wir beanspruchen müssen, werden nicht nur die
allerhöchsten, heiligsten Rechte der Religion verteidigt, sondern auch
Vorsorge getroffen für das öffentliche Wohl und die Sicherheit der
Völker. Denn die Frömmigkeit ist zu allem nützlich (45): wenn sie
unverletzt ist und in Blüte steht, wird wahrhaft das Volk in der Fülle
des Friedens wohnen (46).
Gott, der reich ist an Erbarmung (47), beschleunige gnädig diese
Heiligung der Völker der Menschheit in Christus Jesus. Denn es kommt
nicht auf das eigene Wollen oder Laufen an, sondern auf Gottes Erbarmen
(48). Wir aber, Ehrwürdige Brüder, verlangen dies im Geiste der Demut
(49) heftig in täglichem und dringendem Gebet von Ihm um der Verdienste
Jesu Christi willen. Wir machen außerdem Gebrauch von der
allerwirksamsten Fürbitte der Gottesgebärerin.
Um diese zu erlangen, haben Wir dieses Schreiben an dem Tage
herausgegeben, der zur Feier des Rosenkranzes bestimmt worden ist. Was
Unser Vorgänger bezüglich der Weihe des Monates Oktober an die
hochheilige Jungfrau durch öffentliches Rosenkranzgebet in allen
Kirchen bestimmt hat, das bestimmen und bekräftigen Wir in gleicher
Weise. Wir ermahnen darüber hinaus, als Fürbitter den allerreinsten
Bräutigam der Mutter Gottes, Schutzherrn der heiligen Kirche, sowie die
Apostel-fürsten Petrus und Paulus heranzuziehen.
Daß dies alles zum Heile eintreten möge und alles euch nach Wunsch
gesegnet werde: dafür erflehen Wir die Hilfsmittel der göttlichen Gnade
in überreichem Maße. Als Zeugnis für die innige Liebe, mit der Wir euch
und alle Gläubigen, die Gottes Vorsehung Uns anvertrauen wollte,
umfassen, spenden Wir euch, Ehrwürdige Brüder, eurem Klerus und eurem
Volk liebevollst im Herrn den Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom, bei S. Petrus, am 4. Oktober 1903, im ersten Jahre Unseres Pontifikates.
Papst Pius X.
***
ANMERKUNGEN:
1)Epp. 1.,III, ep.1.(26)Philipp. 1,21.
2)Ps. 72,27.(27)Eph. 4,13.
3)Ierem. 1,10.(28)1 Tim. 5,22.
4)Ephes. 1,10. (29)1 Tim. 5,22.
5)Coloss. 3,11.(30)1 Tim. 6,20-21.
6)Ps. 2,1.(31)Rom. 9,2.
7)Iob. 21,14. (32)Thren. 6,4.
8)2 Thess. 2,3.(33)Lc. 6,18-19.
9)2 Thess. 2,4.(34)Iud. 10.
(10)Sap. 11,24.(35)Matth. 28,19.
(11)Ps. 77,65.(36)3 Reg. 19,11.
(12)Ps. 67,22.(37)2 Tim. 4,2.
(13)Ps. 46,8.(38)Matth. 11,28.
(14)Ps. 9,21.(39)Is. 42,1,3.
(15)Ps. 9,20.(40)1 Cor. 13,4.
(16)Is. 32,17.(41)1 Cor. 4,12, s.(f.)
(17)1 Cor. 3,11.(42)Eccli. 17,12.
(18)Io. 10,36.(43)Act. 20,28.
(19)Hebr. 1,3.(44)Rom. 13,1.
(20)Matth. 11,27.(45)1 Tim. 4,8.
(21)Hom. „de capto Eutropio“, n.6.(46)Is. 32,18.
(22) Apoc. 12,10.(47) Eph. 2,4.
(23)Gal. 4,19.(48) Rom. 9,16.
(24)Gal.4,19.(49)Dan. 3,39.
(25)Gal. 2,20.
(26)Philipp. 1,21.
(27)Eph. 4,13.
(28)1 Tim. 5,22.
(29)1 Tim. 5,22.
(30)1 Tim. 6,20-21.
(31)Rom. 9,2.
(32)Thren. 6,4.
(33)Lc. 6,18-19.
(34)Iud. 10.
(35)Matth. 28,19.
(36)3 Reg. 19,11.
(37)2 Tim. 4,2.
(38)Matth. 11,28.
(39)Is. 42,1,3.
(40)1 Cor. 13,4.
(41)1 Cor. 4,12, s.(f.)
(42)Eccli. 17,12.
(43)Act. 20,28.
(44)Rom. 13,1.
(45)1 Tim. 4,8
(46)Is. 32,18.
(47) Eph. 2,4.
(48) Rom. 9,16.
(49)Dan. 3,39.
Aus: Freunde an der Wahrheit, Wien 1977 |