DIE UNBEFLECKTE
von
Leon Bloy
(aus: La Vie de Melanie; übersetzt von Henriette und Wolfgang Kühne; Der beständ. Zeuge)
Jesus ist aus Maria hervorgegangen wie Adam aus dem irdischen Paradies,
um zu gehorchen und um zu leiden. Maria ist also dargestellt durch den
Garten aller Lüste, "von Gott gepflanzt im Anbeginn...". Das zweite
Kapitel der Genesis ist völlig unbegreiflich, wenn man nicht an Maria
denkt. Wahrlich, alles ist unbegreiflich ohne Sie. Aber hier um
vielesmal mehr!
Dieser Garten, der seit dem Ungehorsam zur Trübsal und zur Verzweiflung
unzähliger Milliarden von Menschen verschlossen ist, hortus conclusus,
war der Abschluß"der Zeugungen des Himmels und der Erde", nach dem über
alle Maße geheimnisvollen Ausdruck des Heiligen Buches.
Es war ein wunderbarer Garten, in dem es niemals regnete. Eine Quelle
stieg aus der Erde hervor, um alles zu bewässern, und noch vor
jeglicher Erdbeschreibung entsprang ein Fluß diesem Paradies, um
alsbald zu vier großen Flüssen zu werden, deren Namen, wie die
weisesten unter den Auslegern uns sagen, Klugheit, Mäßigkeit,
Schnelligkeit des Geistes, Fruchtbarkeit bedeuten oder zu bedeuten
scheinen. Man mußes glauben, daßin diesen vier Namen auf eine Art, die
kein Mensch begreifen kann, die Berufung Mariens eingeschlossen ist:
Königin, Jungfrau, Braut des Heiligen Geistes, Gottesmutter.
Anbetungswürdige Gemeinplätze! Es ist nichts zu finden, was darüber
hinausginge. Darüber, darunter, rechts und links, in der Unendlichkeit,
es ist nichts zu erkennen. Wir können noch so gut wissen, daß Gott
unser Ziel ist, wie könnten wir ohne Maria einen solchen Gedanken auch
nur formen?
Unser Geist kann Gott nur in Maria empfangen, ebenso wie der Sohn
Gottes nur in ihr durch das Wirken des Heiligen Geistes geboren werden
konnte. Die menschliche Sprache ist hier von einer solchen Ohnmacht,
daßalle Worte einem Furcht einjagen können. Die Unbefleckte Empfängnis
Mariens, die uns unsagbar von ihr trennt, ist trotzdem der einzige
Berührungspunkt. Durch die Unbefleckte Empfängnis hat Gott seinen
Fußauf die Erde setzen können. Sie ist die einzige Pforte, durch die er
aus diesem Garten aller Lust entweichen konnte, der seine Mutter ist
und den tausend Jahrhunderte der Seligkeit uns nicht begreifen lassen
könnten.
Man müßte wissen, was Adam und Eva waren, was die Pflanzen und die
Tiere dieses Gartens waren, was der Ungehorsam war und was er gekostet
hat. Man müßte alles, was Menschen seit siebzig oder achtzig
Jahrhunderten gedacht haben können, einmal auslöschen, damit eine
Tatsache, ich will nicht sagen offen vor Augen liege oder auch nur von
weitem wahrgenommen, eher vielleicht geahnt werde, am ehesten aber
etwas wie Herzklopfen hervorrufe; die Tatsache nämlich, daßzwar alles
für immer verloren war wie bei den gefallenen Engeln, trotzdem aber, da
ein Tropfen des göttlichen Saftes aufbewahrt wurde, gerade so viel, wie
es bedurfte, um Milliarden Welten zu retten, gerade so viel, daßsich am
Ende diese Blume entfalten konnte, die schöner ist als die Unschuld und
die die Christen, ohne irgend etwas zu begreifen, die Unbefleckte
Empfängnis nennen, MARIA selbst, der wiedererlangte erhabene Garten.
Dennoch, kaum wage ich es zu sagen, war noch nichts getan. Dieser
Garten, der seit so langem durch den Ungehorsam des ersten Menschen
verschlossen war, mußte sich von selbst öffnen, um den letzten der
Menschen auszutreiben, einem Wurm ähnlich, der alle anderen loskaufen
sollte. Dafür genügte der Gehorsam Mariens nicht, ich habe Furcht, es
hinzuschreiben. Es bedurfte der Ungeduld und des Schmerzes aller
Jahrhunderte, der Ungeduld und des Schmerzes aller Jahrhunderte, der
Ungeduld und des Schmerzes, die SIE in sich hineingenommen hatte.
Die Unbefleckte Empfängnis war nicht genug, um der Welt zum Heil zu
verhelfen. Die Ungeduld und der Schmerz der Unbefleckten Empfängnis
waren notwendig.
Begreifen können wir selbstverständlich nichts. Doch ist es möglich,
sich eine allen finsteren Mächten preisgegebene Erde vorzustellen, ein
trostloses Menschengeschlecht das sich von Tag zu Tag vermehrt und mit
jeder Generation immer weiter abfällt. Trotzdem und durch all dies
hindurch dringt ein ganz schmaler leuchtender Strahl, ein Faden aus
Licht, den nichts zerstören konnte, die Unbefleckte Empfängnis, durch
Zeiten und Völker bis zu der wunderbaren Stunde, unbekannt selbst den
Obersten der Engel, in der sie sich offenbaren sollte in Maria, voll
der Gnaden, empfangen ohne Erbsünde unter der Goldenen Pforte. Kann man
sich ein solches Geschöpf überhaupt vorstellen, ohne das unendliche
Gefolge von Klage und Trauer des ganzen Menschengeschlechtes, dessen
einziges lebendiges Reis sie war?
Man weiß aus der Überlieferung, daßunsere Mutter Eva durch die
Jahrhunderte eine unendliche Buße für alle kommenden Völker trug. Maria
ohne Sünde übernahm das ganze Erbe dieser Buße und machte daraus, was
Sie konnte, d.h. einen Schmerz, wie es keinen Schmerz auf der Welt
gibt, den Schmerz aller Geschlechter, aller Menschen, aller Herzen,
aller Geister, den Schmerz selbst der Dämonen und Verdammten, nach
Aussage mancher Seher. Eine solche Unendlichkeit von Klagen und Qualen
in einer unendlichen Seele mußte mit einer streng entsprechenden
Ungeduld auf die Ungeduld der Erlösung zurückwirken, wie sie die
mystische Theologie der Zweiten göttlichen Person zuschreibt.
Als am Tage der Verkündigung der Engel Gabriel an die Pforte des
verlorenen Paradieses klopfte, hätte es gut sein können, daßdiese
Pforte sich nicht öffnete. Es ging ja darum, den Sohn Gottes in das
Fleisch des Menschen zu schicken und in den Tod. Aber die Ungeduld war
stärker als alles, und die Pforte öffnete sich auf jene Antwort der
Schmerzensreichen: Fiat mihi secundum verbum tuum. (Mir geschehe nach
deinem Wort.) Unglückselige Welt, keinen Tag mehr wirst du leiden!
Sie, die alle Geschöpfe selig preisen sollen, Sie weint in La Salette.
Sie weint, wie nur Sie weinen kann. Sie weint unendliche Tränen über
all unsere Verfehlungen - und Sie hat sie uns aufgezählt - und weint
über jede einzelne. Sie wird also davon getroffen, noch im Schoßihrer
Seligkeit. Die Vernunft scheitert hier. Eine Seligkeit, die leidet" und
die weint! Ist es möglich, das zu begreifen? Im Jahre 1846, da du "den
Arm deines erzürnten Sohnes nicht mehr aufhalten konntest", kamst du,
deine Not dem einzigen Geschöpf anzuvertrauen, das fähig war, dir
zuzuhören und dich zu begreifen; diese demütige Melanie war von dir
auserwählt, weil sie das niedrigste der Geschöpfe zu sein schien, und
du vertrautest ihr dein Geheimnis an, das du nicht mehr die Kraft
hattest, allein zu tragen, du, die du ohne irgend eine Hilfe den Sohn
Gottes getragen hast.
Zwölf Jahre später offenbartest du dich einer anderen Hirtin, aber ohne
ihr deine großen Tränen zu zeigen, von denen die Christen nichts wissen
wollten; und ohne ihr jenes furchtbare Geheimnis anzuvertrauen, das
unter die Leute zu bringen und zu verbreiten du die erste Hirtin
beauftragt hattest - aber wie vergeblich! Lourdes war vorausgesehen und
von dir in La Salette angekündigt, dort war die Anstrengung noch
heroischer, Lourdes war eine Verkleidung deines Schmerzes, wie eine
Mutter sich verkleidet und, den Tod im Herzen, ein Festgewand anlegt,
um ihre Kinder zu beruhigen.
Wieder verstrichen etwas mehr als zwölf Jahre, und es kam das Jahr, das
man das schreckliche genannt hat. Das von Barbaren mit Füßen getretene
Frankreich rang die Arme. Ein letztes Mal erschienst du armen Kindern
in einer ganz rätselhaften Art. Du entrolltest seltsame Bilder von dir
selbst, die begleitet waren von einer Schrift aus knappen und nur
andeutenden Worten, die ebensogut ein Übermaßan Drohung wie ein
Übermaßan Verzeihung bedeuten konnten.
Und das ist alles. Man hat seitdem nichts mehr von dir vernommen. Die
christliche Welt, die das Schweigen erschrecken sollte, fiel immer
tiefer. La Salette ist verachtet, Lourdes zu einer Stätte der
Geschäftemacherei geworden und zu einem Thema der Literatur, Pontmain
ein frommes Gesangbuchbild. Es ist ganz offensichtlich, du findest
keinen Glauben mehr bei deinem Volk und du kannst ihm nicht mehr
helfen. Der Augenblick des Unterganges wäre also gekommen.
Eva weinte, so heißt es, viele Jahrhunderte hindurch über die
unzähligen Kinder, die sie verloren hat, Rachel plorans filios suos et
nolens consolari. (Rachel, ihre Söhne beweinend und sich nicht trösten
lassen wollend.) Maria, die neue Eva, findet sie wieder, und in welchem
Zustand! Man stelle sich eine fleckenlose Mutter vor von vielen
Milliarden aussätzigen Kindern, die mit dem Sterben ringen, In
Folterqualen schluchzen, einem ganz ruhmlosen Tode geweiht, besudelt
mit schmierigstem Unrat; sie allein ist rein geblieben, und, selbst
unversehrt, mußsie zusehen, wie ihre Kinder verlorengehen. Und das
überall und in allen Jahrhunderten...
Es hat dieser unbegreiflichen Qual bedurft, um "die Himmel
aufzureißen", wie Isaias sagte, und um den Heiland herabsteigen zu
lassen. Der herabgestiegene und hingeopferte Heiland, das war noch
nicht genug. Die elenden Kinder mußten auch noch annehmen, gerettet zu
werden, und man sieht nach neunzehnhundert Jahren recht gut, daß das
nicht weniger schwer ist.
Nun weiß Maria nicht mehr, was sie tun soll. Sie steigt ihrerseits
herab. Sie steigt herab, ganz in Tränen, auf einen Berg und vertraut
dem letzten der Geschöpfe ihr unermeßliches Leid an und trägt ihm auf,
es ihrem ganzen Volke zu erzählen.
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