Die Flucht nach Ägypten
von
Selma Lagerlöf
Fern in einer der Wüsten des Morgenlandes wuchs vor vielen, vielen
Jahren eine Palme, die ungeheuer alt und ungeheuer hoch war. Alle, die
durch die Wüste zogen, mußten stehenbleiben und sie betrachten, denn
sie war viel größer als andere Palmen, und man pflegte von ihr zu
sagen, daß sie sicherlich höher werden würde als Obeliske und Pyramiden.
Wie nun diese große Palme in ihrer Einsamkeit dastand und hinaus über
die Wüste schaute, sah sie eines Tages etwas, was sie dazu brachte,
ihre gewaltige Blätterkrone vor Staunen auf dem schmalen Stamme hin und
herzuwiegen. Dort am Wüstenrande kamen zwei einsame Menschen
herangewandert. Sie waren noch in der Entfernung, in der Kamele so
klein wie Ameisen erscheinen, aber es waren sicherlich zwei Menschen.
Zwei, die Fremdlinge in der Wüste waren, denn die Palme kannte das
Wüstenvolk, ein Mann und ein Weib, die weder Wegweiser noch Lasttiere
hatten, weder Zelte noch Wassersäcke.
"Wahrlich", sagte die Palme zu sich selbst, "diese beiden sind
hergekommen, um zu sterben." Die Palme warf rasche Blicke um sich. "Es
wundert mich", fuhr sie fort, "daß die Löwen nicht schon zur Stelle
sind, um diese Beute zu erjagen. Aber ich sehe keinen einzigen in
Bewegung. Auch keinen Räuber der Wüste sehe ich. Aber sie kommen wohl
noch." Ihrer harret ein siebenfältiger Tod, dachte die Palme weiter.
Die Löwen werden sie verschlingen, die Schlangen sie stechen, der Durst
wird sie vertrocknen, der Sandsturm sie begraben, die Räuber werden sie
fällen, der Sonnenstich wird sie verbrennen, die Furcht sie vernichten.
Und sie versuchte, an etwas anderes zu denken. Dieser Menschen
Schicksal stimmte sie wehmütig.
Aber im ganzen Umkreis der Wüste, die unter der Palme ausgebreitet lag,
fand sie nichts, was sie nicht schon seit Tausenden von Jahren gekannt
und betrachtet hätte. Nichts konnte ihre Aufmerksamkeit fesseln. Sie
mußte wieder an die beiden Wanderer denken. "Bei der Dürre und dem
Sturme!" sagte sie, des Lebens gefährlichste Feinde anrufend, "was ist
es, was dieses Weib auf dem Arme trägt? Ich glaube gar, diese Toren
führen auch ein kleines Kind mit sich."
Die Palme, die weitsichtig war, wie es die Alten zu sein pflegen, sah
wirklich richtig. Die Frau trug auf dem Arme ein Kind, das den Kopf an
ihre Schulter gelegt hatte und schlief. "Das Kind ist nicht einmal
hinlänglich bekleidet", fuhr die Palme fort. "Ich sehe, daß die Mutter
ihren Rock aufgehoben und es damit eingehüllt hat. Sie hat es in großer
Hast aus seinem Bette gerissen und ist mit ihm fortgestürzt. Jetzt
verstehe ich alles: Diese Menschen sind Flüchtlinge."
"Aber dennoch sind sie Toren", fuhr die Palme fort. "Wenn nicht ein
Engel sie beschützt, hätten sie lieber die Feinde ihr Schlimmstes tun
lassen sollen, statt sich hinaus in die Wüste zu begeben. Ich kann mir
denken, wie alles zugegangen ist. Der Mann stand bei der Arbeit, das
Kind schlief in der Wiege, die Frau war ausgegangen, um Wasser zu
holen. Als sie zwei Schritte vor die Tür gemacht hatte, sah sie die
Feinde angestürmt kommen. Sie ist zurückgestürzt, sie hat das Kind an
sich gerissen, dem Manne zugerufen, er solle ihr folgen, und ist
aufgebrochen. Dann sind sie tagelang auf der Flucht gewesen, sie haben
ganz gewiß keinen Augenblick geruht. Ja, so ist alles zugegangen, aber
ich sage dennoch, wenn nicht ein Engel sie beschützt - Sie sind so
erschrocken, daß sie weder Müdigkeit noch andere Leiden fühlen können,
aber ich sehe, wie der Durst aus ihren Augen leuchtet. Ich kenne doch
wohl das Gesicht eines dürstenden Menschen."
Und als die Palme an den Durst dachte, ging ein krampfhaftes Zucken
durch ihren langen Stamm, und die zahllosen Spitzen ihrer langen
Blätter rollten sich zusammen, als würden sie über ein Feuer gehalten.
"Wäre ich ein Mensch", sagte sie, "ich würde mich nie in die Wüste
hinauswagen. Der ist gar mutig, der sich hierher wagt, ohne Wurzeln zu
haben, die hinunter zu den niemals versiegenden Wasseradern dringen.
Hier kann es gefährlich sein, selbst bei Palmen. Selbst für eine solche
Palme wie ich. Wenn ich ihnen raten könnte, ich würde sie bitten,
umzukehren. Ihre Feinde können niemals so grausam gegen sie sein wie
die Wüste. Vielleicht glauben sie, daß es leicht sei, in der Wüste zu
leben. Aber ich weiß, daß es selbst mir zuweilen schwer gefallen ist,
am Leben zu bleiben. Ich weiß noch, wie einmal in meiner Jugend ein
Sturmwind einen ganzen Berg von Sand über mich schüttete. Ich war nahe
daran, zu ersticken. Wenn ich hätte sterben können, wäre dies meine
letzte Stunde gewesen."
Die Palme fuhr fort, laut zu denken, wie alte Einsiedler zu tun
pflegen. "Ich höre ein wunderbar melodisches Rauschen durch meine Krone
eilen", sagte sie. "Die Spitzen aller meiner Blätter müssen in
Schwingungen beben. Ich weiß nicht, was mich beim Anblick dieser armen
Fremdlinge durchfährt. Aber dieses betrübte Weib ist so schön. Sie
bringt mir das Wunderbarste, das ich erlebt, wieder in Erinnerung."
Und während die Blätter fortfuhren, sich in einer rauschenden Melodie
zu regen, dachte die Palme daran, wie einmal, vor sehr langer Zeit,
zwei strahlende Menschen Gäste der Oase gewesen waren. Es war die
Königin von Saba, die hierher gekommen war, mit ihr der weise Salomo.
Die schöne Königin wollte wieder heimkehren in ihr Land, der König
hatte sie ein Stück Weges geleitet, und nun wollten sie sich trennen. -
"Zur Erinnerung an diese Stunde", sagte da die Königin, "pflanze ich
einen Dattelkern in die Erde, und ich will, daß daraus eine Palme
werde, die wachsen und leben soll, bis im Lande Juda ein König ersteht,
der größer ist als Salomo." Und als sie dies gesagt hatte, senkte sie
den Kern in die Erde, und ihre Tränen netzten ihn.
"Woher mag es kommen, daß ich just heute daran denke?" fragte sich die
Palme. "Sollte diese Frau so schön sein, daß sie mich an die
herrlichste der Königinnen erinnert, an sie, auf deren Wort ich
erwachsen bin und gelebt habe bis zum heutigen Tage?" - "Ich höre meine
Blätter immer stärker rauschen", sagte die alte Palme, "und es klingt
wehmütig, wie ein Totengesang. Es ist, als weissagte sie, daß jemand
bald aus dem Leben scheiden müsse. Es ist gut, zu wissen, daß es nicht
mir gilt, da ich nicht sterben kann."
Die Palme nahm an, daß das Todesrauschen in ihren Blättern den beiden
einsamen Wanderern gelten müsse. Sicherlich glaubten auch diese selbst,
daß ihre letzte Stunde nahe. Man sah es an dem Ausdruck ihrer Züge, als
sie an einem der Kamelskelette vorüberwanderten, die den Weg
umgrenzten. Man sah es an den Blicken, die sie ein paar
vorbeifliegenden Geiern nachsandten. Es konnte ja nicht anders sein.
Sie waren verloren.
Sie hatten die Palme und die Oase erblickt und eilten nun darauf zu, um
Wasser zu finden. Aber als sie endlich herankamen, sanken sie in
Verzweiflung zusammen, denn die Quelle war ausgetrocknet. Das ermattete
Weib legte das Kind nieder und setzte sich weinend an den Rand der
Quelle. Der Mann warf sich neben sie hin, er lag und hämmerte mit
beiden Fäusten auf die trockene Erde. Die Palme hörte, wie sie
miteinander davon sprachen, daß sie sterben müßten. Sie hörte auch aus
ihren Reden, daß König Herodes alle Kindlein im Alter von zwei und drei
Jahren hatte töten lassen, aus Furcht, daß der große, erwartete König
der Juden geboren sein könnte.
"Es rauscht immer mächtiger in meinen Blättern", dachte die Palme.
"Diesen armen Flüchtlingen schlägt bald ihr letztes Stündlein." Sie
vernahm auch, daß die beiden die Wüste fürchteten. Der Mann sagte, es
wäre besser gewesen, zu bleiben und mit den Kriegsknechten zu kämpfen,
statt zu fliehen. Sie hätten so einen leichteren Tod gefunden. "Gott
wird uns beistehen", sagte die Frau.
"Wir sind einsam unter Raubtieren und Schlangen", sagte der Mann. "Wir
haben nicht Speise und Trank. Wie sollte Gott uns beistehen können?" Er
zerriß in Verzweiflung seine Kleider und drückte sein Gesicht auf den
Boden. Er war hoffnungslos, wie ein Mann mit einer Todeswunde im
Herzen. Die Frau saß aufrecht, die Hände über den Knien gefaltet. Doch
die Blicke, die sie über die Wüste warf, sprachen von einer
Trostlosigkeit ohne Grenzen.
Die Palme hörte, wie das wehmütige Rauschen in ihren Blättern immer
stärker wurde. Die Frau mußte es auch gehört haben, denn sie hob die
Augen zur Baumkrone auf. Und zugleich erhob sie unwillkürlich ihre Arme
und Hände. "Oh, Datteln, Datteln!" rief sie.
Es lag so große Sehnsucht in ihrer Stimme, daß die alte Palme wünschte,
sie wäre nicht höher als der Ginsterbusch, und ihre Datteln so leicht
erreichbar wie die Hagebutten des Dornenstrauchs. Sie wußte wohl, daß
ihre Krone voll von Dattelbüscheln hing, aber wie sollten wohl Menschen
zu so schwindelnder Höhe hinaufreichen ?
Der Mann hatte schon gesehen, wie unerreichbar hoch die Datteln hingen.
Er hob nicht einmal den Kopf. Er bat nur die Frau, sich nicht nach dem
Unmöglichen zu sehnen. Aber das Kind, das für sich selbst
umhergetrippelt war und mit Hälmchen und Gräsern gespielt hatte, hatte
den Ausruf der Mutter gehört. Der Kleine konnte sich wohl nicht denken,
daß seine Mutter nicht alles bekommen könnte, was sie sich wünschte.
Sowie man von Datteln sprach, begann er den Baum anzugucken. Er sann
und grübelte, wie er die Datteln herunterbekommen sollte. Seine Stirn
legte sich beinahe in Falten unter dem hellen Gelock. Endlich huschte
ein Lächeln über sein Antlitz. Er hatte das Mittel herausgefunden. Er
ging auf die Palme zu und streichelte sie mit seiner kleinen Hand und
sagte mit einer süßen Kinderstimme: "Palme, beuge dich! Palme, beuge
dich!"
Aber, was war das nur? Was war das? Die Palmenblätter rauschten, als
wäre ein Orkan durch sie gefahren, und den langen Palmenstamm hinauf
lief Schauer um Schauer. Und die Palme fühlte, daß der Kleine Macht
über sie hatte. Sie konnte ihm nicht widerstehen. Und sie beugte sich
mit ihrem hohen Stamme vor dem Kinde, wie Menschen sich vor Fürsten
beugen. In einem gewaltigen Bogen senkte sie sich zur Erde und kam
endlich so tief hinunter, daß die große Krone mit den bebenden Blättern
über den Wüstensand fegte.
Das Kind schien weder erschrocken noch erstaunt zu sein, sondern mit
einem Freudenrufe kam es und pflückte Traube um Traube aus der Krone
der alten Palme. Als das Kind genug genommen hatte und der Baum noch
immer auf der Erde lag, ging es wieder heran und liebkoste ihn und
sagte mit der holdesten Stimme: "Palme, erhebe dich, Palme, erhebe
dich!"
Und der Baum erhob sich still und ehrfürchtig auf seinem biegsamen
Stamm, indes die Blätter gleich Harfen spielten. "Jetzt weiß ich, für
wen sie die Todesmelodie spielen", sagte die alte Palme zu sich selbst,
als sie wieder aufrecht stand. "Nicht für einen von diesen Menschen."
Aber der Mann und das Weib lagen auf den Knien und lobten Gott. "Du
hast unsere Angst gesehen und sie von uns genommen. Du bist der Starke,
der den Stamm der Palme beugt wie ein schwankes Rohr. Vor welchem
Feinde sollen wir erbeben, wenn deine Stärke uns schützt?"
Als die nächste Karawane durch die Wüste zog, sahen die Reisenden, daß
die Blätterkrone der großen Palme verwelkt war. "Wie kann das zugehen?"
sagte ein Wanderer. "Diese Palme sollte ja nicht sterben, bevor sie
einen König gesehen hätte, der größer wäre als Salomo." - "Vielleicht
hat sie ihn gesehen", antwortete ein anderer von den Wüstenfahrern.
(aus: Selma Lagerlöf "Das Kindlein von Bethlehem" Reutlingen o.J., S. 29-37)
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