Anhang III
Trauerrede für Schwester Marie de la Croix, geborene Marie Calvat, Hirtin von La Salette.
Gehalten in Messina und beim Jahresgottesdienst in der Kathedrale von Altamura,
von dem Domherrn Annibal-Marie de France,
veröffentlicht mit dem Imprimatur seiner Exzellenz Letterio, Erzbischof von Messina.
"Cantablis mihi erant justificationes tuae in loco peregrinationis meae." (Ps. 118,54)
"Ich habe Deine Gerechtigkeit besungen am Orte meiner Pilgerschaft." (Ps. 118,54)
Ein engelhaftes Geschöpf, ein reines Ideal von Unschuld und Tugend, ein
menschliches Leben ohne Makel, sehr mild, voll des heiligsten
Verlangens nach Gott, Seinem Ruhm und Seiner ewigen Liebe, ist durch
dieses Tränental geschritten.
Wenn eine geliebte Person im Tode von uns geht, bleibt eine Leere, die
man mit der Erinnerung an die Teure und mit den Tränen ausfüllen
möchte, die auf das Grab strömen, das die geliebte sterbliche Hülle
umschließt. Die Religion heiligt dieses Gefühl und erhebt es. Sie ruft
uns zusammen zu Trauergottesdiensten, legt auf unsere Lippen Gebete und
Gesänge für die Verstorbenen, läßt uns dem großen Sühnopfer beiwohnen
und schreibt auf das Grab derer, die nicht mehr sind: Wer an mich
glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist.
Aber wenn sich der außergewöhnliche Fall darbietet, daß die verstorbene
und betrauerte Person eine jener seltenen Seelen gewesen ist, die den
höchsten Vollkommenheiten geweiht waren, in denen sich ein - ich weiß
nicht welch - übernatürliches und göttliches Wesen findet, wenn ihre
Neigungen sich nicht eingeschlossen finden in die Grenzen der Natur,
sondern den Stempel der ewigen Liebe getragen haben, wenn die
Abschnitte ihres Lebens und ihres Todes begleitet sind von Ereignissen
und Umständen, die das Gewöhnliche übertreffen, oh, dann ist das Grab
dieses auserlesenen Wesens ein Altar, sein Andenken ein Segen; die
Trauerfeierlichkeiten selbst, die klagenden Töne der Orgel und die
düsteren Stimmen der Sänger verwandeln sich in einen Festhymnus oder
bilden wohl das Echo der himmlischen Gesänge, womit die Engel diese
Seele begleiten, die ihre Pilgerschaft der Herrlichkeit vollendet hat.
Und so verhält es sich mit dem feierlichen Begräbnis und den
Gottesdiensten, womit wir heute den Tribut unserer vielgeliebten
Verstorbenen anbieten, Melanie Calvat, der berühmten Hirtin von La
Salette.
Gefühle der Liebe und Treue, eine innige Dankbarkeit und eine fromme
Verehrung, das sind die Empfindungen, die wir hegen, wenn wir ihrer im
Angesicht Gottes und der Menschen erinnern. Sie hat uns gehört, es war
eine große Liebe, die sie für uns hatte, eine große Liebe auch, womit
wir sie geliebt haben. Nun suchen wir eine Linderung für unseren
Schmerz, wir wollen uns in Verbindung setzen mit dieser teuren,
schönen, unschuldigen Seele, die ganz durchdrungen war von der Liebe zu
Jesus und Maria, die nichts desto weniger voll Liebe zu uns pochte. Wir
wollen auf Erden sie anrufen, daß sie uns vom Himmel her hört, wir
wollen ihre Vermittlung erflehen, daß sie für uns bittet.
Ihr jungen Schwestern, die ihr sie mit euren Waisenkindern mehr als ein
Jahr als Mutter und Vorsteherin von hervorragender Tugend gehabt habt,
ihr empfindet sehr lebhaft das Bedürfnis, dieser heiligen Seele einmal
mehr zu bezeugen, wie stark eure Empfindungen der Verehrung, der
Zärtlichkeit und Liebe ihr gegenüber sind. Also Mut denn, betrachten
wir sie im Glauben, strahlend und lächelnd, obwohl unsichtbar für uns
in diesem heiligen Tempel (innixa dilecto suo), gestützt auf ihren
Vielgeliebten, und beginnen wir mit ihrem Lobpreis, nachdem wir den
Namen Jesu angerufen haben.
Melanie von La Salette wurde in Corps geboren, einem kleinen Flecken
Frankreichs, in der Diözese Grenoble, am 7. November 1831 von
achtungswerten Eltern. Ihr Vater war Maurer und Brettschneider und hieß
Peter Calvat. Ihre Mutter hieß Julie Bamand.
Die Geschichtsschreiber der berühmten Erscheinung der hochheiligen
Jungfrau in La Salette sagen, daß vor diesem großen Ereignis Melanie
nur. ein armseliges Hirtenmädchen, unscheinbar und unwissend, war,
unfähig, das "Vater unser" zu lernen. Aber wie sie sich täuschen! Seit
ihrer Kindheit hatten sich große Geheimnisse abgespielt zwischen Gott
und ihrer Seele. Ihr guter Vater zeigte ihr, als sie erst drei Jahre
alt war, ein Kruzifix und sagte: "Sieh, mein Töchterlein, wie unser
Herr Jesus Christus aus Liebe zu uns am Kreuze sterben wollte!" Das
kleine Mädchen heftete aufmerksame Blicke darauf, und wie von einem
höheren Licht erleuchtet, schien es schweigend in den innersten Sinn
dieses Wortes und dieses Bildes einzudringen. Seit damals stieß sie ein
innerer Drang zur Liebe des Gekreuzigten und des Kreuzes. Mit einem
Verständnis, das unvergleichlich über ihrem Alter lag, sagte sie: "Das
Kruzifix meines Vaters spricht nicht aber es betet schweigend, ich will
es nachahmen, ich werde schweigen, und ich werde im Stillen beten." So
bereitete sie sich auf die Betrachtung vor. Die Mutter des kleinen
Mädchens, eine nicht böse, aber zornige Frau, schalt es immerzu und
erteilte ihm den Befehl, das Haus zu verlassen. Die arme Kleine
lächelte trotzdem und zog sich in ein nahe gelegenes Wäldchen zurück;
und wie sie in irgendwelchen Erinnerungen schreibt, beklagte sie ihr
trauriges Los, setzte sich zum Fuße eines Baumes müde und
niedergeschlagen nieder und schlief ein. Ein geheimnisvoller Traum
zeigte sich ihr und er war wie ein Vorspiel für ihr ganzes Leben, für
ihre ganze irdische Pilgerschaft. Es schien ihr, sie sehe das
Jesuskind, im gleichen Alter wie sie, bekleidet mit einem rosa Gewand,
das sie anredete und sagte: "Kleine Schwester, meine liebe kleine
Schwester, wohin gehen wir?" Angetrieben durch einen göttlichen Drang
antwortete sie: "Nach Calvaria." Da nahm sie das himmlische Kind an der
Hand und führte sie auf den heiligen Berg. Während dieser Reise
bedeckte sich der Himmel mit Wolken und verdunkelte sich, und ein
großer Regen von Kreuzen aller Größe fiel ihr auf die Schultern. Eine
Menge Leute wandten sich an sie mit Beleidigungen und bezeugten ihr
ihre Verachtung. Erschreckt drückte sie die Hand ihres himmlischen
Führers, dessen angenehmer Anblick sie inmitten der Finsternisse nicht
verloren hatte. Plötzlich ließ sie die Hand los, die sie führte und
fiel in eine tiefe Verzweiflung. Nichtsdestoweniger ging die Reise zu
Ende und sie kam auf Calvaria an. Dort erlebte sie eine furchtbare
Szene. Unten öffnete sich" ein Abgrund von Feuer, in den sich
massenweis Menschen stürzten. In der Seele erschreckt und einem
göttlichen Impuls gehorchend, bietet sie sich als Opfer für jedes
Leiden an, für das ewige Heil der Seelen, für die Bekehrung der Sünder.
In diesem Augenblick erwachte das kleine Mädchen: die Sonne erschien am Horizont. Dieser Traum hatte die ganze Nacht gedauert.
Nach Hause zurückgekehrt erzählte sie nichts von dem, was sich in der
Nacht ereignet hatte, sondern bewahrte Stillschweigen, um das Kruzifix
ihres Vaters nachzuahmen. Ein neues Leben des Leidens und der Sammlung
begann für sie. Das himmlische Kind, das sie im Traum gesehen hatte,
ist ihr im Denken immer gegenwärtig; sie spricht mit ihm in innersten
Geheimnis ihres Herzens, sie bietet ihm ihre Arbeiten und ihre Leiden
an, und es scheint ihr, daß er sie immer mit dem süßen Namen "kleine.
Schwester, meine liebe kleine Schwester" ruft, bis zu dem Punkt, daß
jedesmal, wenn man sie fragt, welches ihr Name sei, sie mit großer
Einfalt antwortet: "Kleine Schwester".
So verborgen und erfüllt von den frühen Betrachtungen eines von
unermeßlichen Gnaden erfüllten Lebens (unter denen die Erscheinung ohne
Zweifel eine große Überraschung in der religiösen Welt verursachen
wird) trank dieses auserwählte Geschöpf von früher Jugend an schweigend
den Kelch der Demütigungen und der Verachtung, mehrmals unmenschlich
aus dem Vaterhaus verjagt, da und dort im Dienst verschiedener
Bauernfamilien.
Eines Tages, als die erregte Mutter sich auf irgend eine Weise ihrer
entledigen wollte, brachte sie sie zur Strafe (sie hat es uns vor
einigen Jahren lächelnd gesagt), in Diensten unten auf den Alpenbergen
von La Salette in einer armen Bauernfamilie, die ihr die Sorge
übertrugen, die Kühe auf die Weide zu führen.
Diese Berge gehören zu der großen Kette der französischen Alpen, die
sich mehr als 2000 Meter über Meereshöhe erheben. Der Winter ist dort
sehr streng, aber wenn ein schöner Frühlings- oder Sommertag dort die
Sonnenstrahlen erglänzen läßt, bieten sie einen erhabenen und
zauberhaften Anblick. In der Ferne, ganz hoch, am Horizont ein Gürtel
schroffer Berge, hier tiefe Täler und rundum Hügel und Flächen mit
grünem Grasteppichen bekleidet, die mit kleinen wilden Blumen
unterbrochen sind. Dieser einsame Ort, wo man fast niemals ein
menschliches Wesen erblickte, wurde schnell die Wonne dieser
unschuldigen Seele, die versteckt, getrennt von der Welt - und wie
innig verbunden mit ihrem Schöpfer - war. Dann kostete sie die Worte
des Lehrers von Clairvaux: "O glückselige Einsamkeit, o einzige
Seligkeit!"
Aber welches waren die Geheimnisse der göttlichen Liebe, die sich an
diesen einsamen Orten zwischen dieser auserwählten Seele und ihrem Gott
enthüllten? Es ist gesagt worden: "Ich werde sie in die Einsamkeit
führen und werde zu ihrem Herzen sprechen." Sie fand Freude daran,
während ihre Kühe weideten, mit den Blümlein des lieben Gottes zu
sprechen, wie sie sagte, um sie einzuladen, den Schöpfer zu loben und
sie zu bedauern, daß sie ihn nicht lieben konnten.
Am 19. September 1846, einem Samstag, ereignete sich auf dem Berg von
La Salette diese berühmte Erscheinung der hochheiligen Jungfrau der
glücklichen Hirtin und dem kleinen Maximin, der für acht Tage ebenfalls
mit seinen Kühen auf den Berg kam. Die heilige Muttergottes erschien
mit den Zeichen der Passion, weinte während der ganzen Zeit, in der sie
zu den zwei Hirtenkindern sprach, drohte göttliche Züchtigungen an
wegen der Verachtung und der Entweihung des Sonntags und vertraute zwei
Geheimnisse an: das eine Melanie, das andere Maximin. Ehe sie
entschwand, hatte sie gesagt: "Meine kleinen Kinder, alles, was ich
euch gesagt habe, laßt esmein Volk wissen."
Dieser Auftrag der heiligen Jungfrau wurde der Ausgangspunkt einer
anderen Lebensweise für die Hirtin. Sie wurde ihrer geliebten
Einsamkeit entrissen, der Vergessenheit und ihrem geheimnisvoll
verborgenen Leben entrückt und mit einer Sendung beauftragt, die ihr
Leiden und Tränen, Verehrung und Verachtung, Lob und Verleumdung und
die lange Pilgerschaft von Land zu Land bringen sollte. "Deine
Gerechtigkeit will ich besingen im Lande meiner Pilgerschaft."
Nur dank einer besonderen, übernatürlichen Hilfe konnte sie bis zum Ende widerstehen und durchhalten.
Die Erscheinung von La Salette ist eine Bekundung der Schmerzensmutter.
Die heilige Jungfrau war während der Vesper erschienen, die dem Fest
Unserer lieben Frau von den sieben Schmerzen vorausgeht. Sie hatte ein
Kruzifix auf der Brust, wie der Hammer und die Zange beredtes Symbol
der niedergeschlagenen und verzweifelten Mutter. Von diesem Augenblick
an wurde Melanie aufgrufen, inniger an den Peinen Jesu und Maria
teilzunehmen. Aus Frankreich verjagt durch Napoleon III., ging sie nach
England, wo sie bei den Carmelitinnen von Darlington ihren Profeß
ablegte.
Als der Augenblick kam, das Geheimnis von La Salette zu
veröffentlichen, wurde sie von Pius IX. ihrer Gelübde entbunden, und
seit diesem Tag - wer könnte die vielfältigen Wechselfälle nennen, die
dieses einzigartige Wesen durchleben mußte?
Noch jung, mit 26 Jahren, findet sie sich allein in der Welt, flüchtig,
aufs Ungewisse umherirrend, ein wenig in diesem Land, ein wenig in
einem anderen. Aber ihr Geist wie ihr Herz finden sich immer auf einen
Punkt gerichtet: die Erfüllung des göttlichen Willens. Wohin sie sich
auch begab, schien es, daß sich um sie her die Atmosphäre reinigte und
daß bei ihrem Anblick jeder betroffen war von ihrer Bescheidenheit,
Freundlichkeit und selbst ihrem Schweigen. Wenn sie sich in einer
Kirche befand, ließen ihre Sammlung und ihre demütige Haltung etwas
ahnen von ihrer verborgenen Heiligkeit. Sie blieb überall unbekannt,
wohin sie sich begab. Aber wenn nach einiger Zeit sie bekannt und
Gegenstand der Verehrung wurde, nahm die reine Taube ihren Flug zu
anderen Gebieten.
Im Orden hatte sie den Namen Schwester Maria vom Kreuz angenommen, und
sie bewahrte ihn immer. Gott wollte sie unaufhörlich gekreuzigt.
Mild, von außerordentlicher Empfindsamkeit, von scharfsinnigem und
durchdringendem Geist, tief und innig in ihren Neigungen, sehr
teilnehmend in ihrem Mitleid mit menschlichem Elend, sehr großmütig im
Eifer für die göttliche Ehre und das Heil der Seelen, verbrachte sie
ihr ganzes Leben in einem geistigen Todeskampf, den man nur in Gott
begreifen kann. Ihre Tage und Nächte waren erfüllt von andauernden
Tränen und dem Seufzen der mystischen Taube. Die Klage der hochheiligen
Jungfrau auf dem Berg von La Salette war ihrem Geist immer gegenwärtig,
sie fügte ihre Tränen hinzu, die zum Schluß so weit gingen, ihr
Augenlicht zu schwächen. Aber die lebhaften und durchdringenden
Strahlen ihrer schwarzen Augen voll Klugheit wurden dadurch nicht
beeinträchtigt.
In der Schule des Leidens bildet sich die starke und kräftige Härte des
Geistes. Aber welcher Unterschied zwischen den Helden der Religion und
denen. Das Leiden der Heiligen ist die Nachfolge Christi, die reine
Liebe Gottes, die Liebe des Kreuzes, der Triumph der Gnade über die
menschliche Schwäche; es ist ein Leiden, das sich freut, einen Beweis
der Liebe gegenüber dem Geliebten zu geben, das sich am Leiden selbst
berauscht und ihn teilnehmen läßt an jenem geheimnisvollen Durst, der
den göttlichen Erlöser auf dem Berg des Opfers ausrufen läßt: "Mich
dürstet!"
Das Leiden der Seelen, die Gott lieben, hat sehr erhabene Gründe und
sehr hohe Ziele. Das Herz, die Seele, die Sinne sind wie in einem
Schmelzofen, weil Gott nicht geliebt wird, weil man fürchtet, ihn zu
beleidigen, oder oft, weil im Geheimnis des Geistes die lebendige Sonne
der Gottheit wie verdunkelt erscheint, weil die liebende Seele sich
vernichten möchte, damit Gott verherrlicht werde oder weil sie dem
Körper entweichen möchte und zu den göttlichen Liebkosungen flüchten
möchte, aber die Stunde und die Minute ist noch nicht gekommen. Das ist
es, was den Propheten ausrufen ließ: "Ach, meine Pilgerschaft hat noch
nicht lange genug gedauert!"
So war das Leiden dieses auserwählten Wesens. Welches die inneren
Bedrängnisse eines mehr als gewöhnlichen Geistes waren, dafür ist hier
nicht der Ort sie zu schildern. Sie hat einer Person anvertraut, daß
sie, noch sehr jung, zehn Jahre die Hölle in ihrem Geiste mitgemacht
hat. Damals glaubte man, sie sei verrückt oder geisteskrank. Damals
brachte man sie in die Grande Chatreuse. Nichtsdestoweniger eine
wunderbare Sache, der man nur im Leben einer Heiligen begegnet, war sie
niemals überdrüssig, für Jesus Christus zu leiden. Sie sagte in ihren
Entzückungen: "Ich bitte den Herrn, mich leiden zu lassen und mich zu
verbergen." Wahrhafter Charakter einer soliden Tugend und tiefer Demut.
Und hier darf ich ein langes und heiliges Martyrium nicht mit Schweigen
übergehen, das diese bevorzugte Heilige während ihres ganzen Lebens
erduldet hat. Wenn man auch einmal mit rein menschlichem Glauben die
Erscheinung der hochheiligen Jungfrau in La Salette zugibt, so können
wir gleichfalls aus Gründen verschiedener ausdrücklicher Erklärungen
Maria Calvats angeben, daß die heilige Jungfrau, nachdem sie ihr ein
Geheimnis anvertraut hatteª ihr dann enthüllte,es werde in der heiligen
Kirche ein bedeutender religiöser Orden entstehen, nämlich der der
neuen Apostel oder der Missionare von der Mutter Gottes, der über die
ganze Welt verbreitet würde und der Katholizität unermeßliches Wohl
zukommen lassen würde. Diese Kongregation werde einen zweiten und
dritten Orden umschließen. Sie würden entflammen für die Ehre Gottes
und das Heil der Seelen - von einer Glut, ähnlich der der ersten
Apostel. Die Worte Melanies (enthaltend ein Geheimnis), durch die die
heilige Jungfrau die Gründung dieses großen religiösen Ordens
ankündigt, haben in Wahrheit nichts von unserer Menschlichkeit, sie
haben einen göttlichen Hauch, sie sind Einfachheit,iiHarmonie mit dem
Erhabenen gebracht. Die hochheilige Jungfrau gab, nachdem sie dieses
zukünftige Ereignis angekündigt hatte, Melanie die Regel, welcher der
neue religiöse Orden folgen sollte. Diese Regel bewahrte Melanie zwölf
Jahre lang, ohne sie niedergeschrieben zu haben. "Es schien, als sei
sie in mir eingedruckt", sagte sie. Später, als der Zeitpunkt von der
heiligen Jungfrau für die Verbreitung des Geheimnisses bestimmt war,
schrieb Melanie diese Regel nieder; aber danach war es ihr unmöglich,
sie weiter im Gedächtnis zu bewahren.
Diese Regel wurde dem Urteil einer Kommission von Kardinalen der
heiligen Kirche unterworfen und ist von ihr als einwandfrei beurteilt
worden. Sie ist wie ein Kapitel des Evangeliums und enthält das
Wesentliche der christlichen Vollkommenheit, die mit der größten Milde
und mit Liebe in die Praxis umgesetzt wurde. Melanie litt während ihres
ganzen Lebens eine geistige Todesangst, in der Erwartung, die Erfüllung
des Wortes der hochheiligen Jungfrau und die Gründung der neuen Apostel
der heiligen Kirche zu sehen. Fern davon wurde sie Zeugin der
Verfolgungen, denen die Verehrung zur hl. Jungfrau von La Salette nach
dem Willen Gottes zu ertragen hatte, bis zu dem Punkt, daß diese
Verehrung nach jeder Verfolgung unterzugehen schien. Ihre Blicke waren
immer nach Rom gerichtet und warteten darauf, daß die höchste
kirchliche Autorität La Salette mit Ruhm und Ehre kröne, und daß daraus
endlich die Gründung hervorgehe, wonach sie seufzte. Aber die Klugheit
des heiligen Stuhles in solcher Angelegenheit und die göttliche
Vorsehung, die alles regelt und verfügt, hatten dieses heilige Wesen zu
einer dauernden und vollkommenen Hingabe an den göttlichen Willen
geführt. So wird sie mit Ezechias gesagt haben: "Ecce in pace amaritudo
mea amarissima!" Oft betrachtete sie sich selbst als Hindernis für die
Erfüllung des göttlichen Willens, und dann vernichtete sie sich vor
Gott, strafte sich auf verschiedene Weisen und wünschte sich den Tod,
seufzte nach ihm und erbat ihn in ihren Gebeten.
Auf diese Weise sang diese Arme, auf die Erde Verbannte das Lied ihrer
Bestimmung: "Deine Gerechtigkeit habe ich besungen am Orte meiner
Pilgerschaft."
Wenn diejenige, die auf dem Berg von La Salette erschien, die
hochheilige Jungfrau Maria war, die unbefleckte Mutter Gottes, wenn
dies die unvergleichliche Mutter war, die ihr Geheimnis Melanie und
Maximin anvertraute und eine sehr heilige Regel für einen neuen sehr
zahlreichen Orden der letzten Apostel gab, wer wird zweifeln können,
daß das Versprechen der Himmelskönigin seine volle Erfüllung finden
würde? In diesem Fall - freue dich, o unschuldige Hirtin von La
Salette! Freue dich in Gott, o du unter tausenden auserwählte Seele!
Dein langes Martyrium war nur eine Vorbereitung auf eine so
unaussprechliche Gnade! Das Opfer des einfachen Lebens, als Brandopfer
durch die Leiden und Abtötungen aller Art dargebracht, wird von Jesus
und Maria gesegnet sein, und seine Frucht wird eine Generation von
Auserwählten sein. Und wer wird sie nennen, wer die Geschlechter alle
aufführen können?
Wie wunderbar ist Gott in seinen Werken! Das demütige, verborgene,
büßende Leben Melanies wird im Angesicht der unendlichen Güte Gottes
ein Rechtstitel sein auf die Barmherzigkeit zu Gunsten der Menschheit;
das Leben Melanies, die anfing, bekannt und bewundert zu werden jetzt,
wo sie selbst getrennt ist von dieser Welt, wird vielleicht ein Anlaß
dafür sein, diese göttliche Regel zu beschleunigen, die von der
heiligen Jungfrau diktiert wurde und folglich die unermeßlichen Güter,
die sich daraus ergeben.
Gott kennt den Weg der Herzen. Es steht geschrieben, daß die Wege der
Weisheit schön sind: "Viae ejus viae pulchrae". Wenn sich im Leben
einer heiligen Person mit einer soliden Tugend eine Gesamtheit von
verschiedenen Situationen, Ereignissen und inneren und äußeren Früchten
findet, worin das Schöne, das Erhabene, das Rührende, das Herz und die
Vorstellungskraft sich bewegen, anziehen, einnehmen, dann ist der ganze
Mensch erobert und gewonnen für die Wahrheit.
Ich habe etwas Ähnliches zu entdecken geglaubt in diesem Leben und den
verschiedenen Schicksalsschlägen, die von dieser Auserwählten des Herrn
durchschritten wurden bis zu jenem Punkt, nicht zu wissen, ob es in
unserer Zeit in der Welt eine andere gäbe, die ihr zu vergleichen wäre.
Die verschiedenen Memoiren, die sie aus Gehorsam über sich selbst
schrieb, werden den Höhepunkt der Wunder bilden. Zuerst ist sie ein
kleines Mädchen, das in den Wäldern lebt, umgeben von wilden Tieren und
verschiedenen Vögeln, das mit diesen und jenen spricht; dann ist es
eine junge Hirtin, die einsam die Schafe und Kühe auf die steilen und
wilden Plätze führt, und dort im Schatten eines Baumes sitzend betet
oder mit den Blumen spricht.
O, wie viele haben sie um ihr Los beneidet! Wie viele haben sie zu
sehen gewünscht! Sie zu verehren! Wie viele haben versucht, wenigstens
den Saum ihres Kleides zu küssen! Aber da ist sie noch schöner geworden
durch die fortwährende Sorge voller Demut, die sie aufgewendet hat, um
sich zu verbergen. Die glückliche Hirtin wird sogleich eine geheiligte
Jungfrau, dem himmlischen Bräutigam geweiht!
Die Gewänder der Buße, die Stille der frommen Klöster geben der
himmlischen Schönheit einen neuen Glanz. Damals war sie in der Blüte
ihrer zwanzig Jahre. Wenige Jahre danach findet sich die Hirtin von La
Salette, die Bewohnerin der Wälder, der Pilgerschaft durch die Welt
ergeben. Sie tritt ein in eine neue Phase ihrer Existenz, die ihr
ganzes Leben lang dauern wird. Während ungefähr fünfzig Jahren erfüllt
Melanie eine Sendung oder ein Opfer, zu dem Gott sie durch seine
unergründliche Liebe bestimmt hat. Ein Wanderleben, ruhelos von Land zu
Land, immer in der Hoffnung, dabei eines zu finden, nämlich: wo sie
sich vor allen verbergen könnte und wo die Menschen Gott nicht
beleidigen würden. "Es gibt einige", sagte sie mir eines Tages, "die
glauben, es gefiele mir, zu reisen und da und dorthin zu gehen. Wie sie
sich irren!" Und wieviele Gründe hatte sie, um ihre Pilgerschaft zu
rechtfertigen!
Aber eine Rast der frommen Auserwählten auf ihren verschiedenen Reisen
bedeutet uns die milde, die süße Erinnerung an unsere Stadt Messina und
ihres frommen Heims christlicher Liebe. Es ist wohl billig, daß wir
diese fromme Erinnerung aufleben lassen und daß wir uns ein wenig
darüber unterhalten, weil wir ihretwegen hier am Fuße des heiligen
Altares versammelt sind und weil wir diesen Trauergottesdienst begehen.
Messina, die Stadt der heiligen Maria, hat zu allen Zeiten die
besonderen Zeichen der Liebe zu derjenigen erhalten, die ihr ihren
ewigen Schutz versprochen hat: Vor sieben Jahren kam Melanie hierher,
um ein Jahr und achtzehn Tage hier zu wohnen. Ihrer Ankunft gingen
einige Zeichen voraus, die etwas Wunderbares enthalten.
Der Anlaß zum Besuch eines so hohen Gastes war der Umstand, daß unser
Institut damals eine Periode der Schwierigkeiten durchmachte, derart,
daß es unterzugehen schien. Vor einiger Zeit hatte mich ein Aufenthalt
von wenigen Stunden in Castellamare di Stabia daran erinnert, was ich
von der Berühmten wußte, daß sich nämlich die Hirtin von La Salette
dort befand. Groß war mein Wunsch, sie kennenzulernen, aber es war
vergeblich, weil diese flüchtige Taube ihr Nest inzwischen anderswo
gebaut hatte. Sie befand sich in Galatina, in der Diözese Lecce. Es
blieb in meinem Herzen eine Leere.
Von Messina zurück schrieb ich an Exzellenz Zola seligen Andenkens,
damals Bischof von Lecce, der mir freundlicherweise die Adresse von
Melanie gab. Und bald trat ich mit der Dienerin des Herrn in
Briefwechsel. O, welcher Duft von Heiligkeit schien mir aus ihren
Briefen zu strömen! Ich fand mich wie ins Paradies versetzt. Eines
Tages schrieb sie mir, daß sie Galatina verlassen werde, aber daß sie
niemandem ihre neue Adresse werde wissen lassen. Das überraschte mich,
und ich beschloß, sie aufzusuchen, um sie einzuladen, nach Messina in
unser Heim zu kommen. Das war für mich wie eine Wallfahrt zur heiligen
Jungfrau; ich lächelte bei dem Gedanken, jenes glückliche Wesen zu
sehen und sprechen zu hören, das die heilige Mutter Gottes gesehen und
sprechen gehört hatte.
Ich habe Melanie in ihrer armseligen Bleibe gesehen, ich habe mit ihr
geredet, ich habe sie erzählen hören über die große Erscheinung von La
Salette, und meine Empfindungen waren fromm und tief. Ich lud sie ein,
nach Messina zu kommen, aber sie entschied sich nicht dafür. Ich sprach
zu ihr mit Liebe von Messina, sagt ihr, daß wir bei uns einen Brief der
heiligen Jungfrau *) an die Einwohner von Messina aufbewahren und
zeigte ihn ihr in französischer Übersetzung. Am Ende entschied sie sich
dennoch nicht für uns. Also erkühnte ich mich, ihr unsere Lage
darzustellen und erneuerte die Einladung, wobei ich bat, doch
wenigstens für ein Jahr zu kommen. Sofort antwortete sie, daß sie
annehme und daß sie kommen werde in der Absicht, unsere Gemeinschaft
der Töchter des Göttlichen Eifers vom Herzen Jesu zu organisieren und
aufzubauen, jener Gemeinschaft; die sich der Erziehung aufgefundener
Waisenkinder gewidmet und den heiligen Auftrag angenommen hat, durch
Gelübde der Vorschrift des Göttlichen Eifers des Herzens Jesu zu
gehorchen: "Bittet also den Herrn."
O, meine Töchter in Jesus Christus, welches Glück für mich! Melanie,
die Lieblingstochter der hochheiligen Maria, das kluge, edle und
liebenswürdige Wesen, ist die Erzieherin und in gewisser Weise die
Gründerin eures demütigen Institutes gewesen. Ihr werdet niemals
vergessen können, welch glücklicher Tag der ihrer Ankunft bei uns war.
Es war der 14. September 1897, der fünfte Tag der Novene zu unserer
lieben Frau von La Salette, jener geheiligte Tag der Erhöhung des
heiligen Kreuzes: wunderbares, aber unvermeidliches Zusammentreffen von
seiten jener, die auf dem Berg von La Salette die hochheilige Jungfrau
gesehen hatte und ihren Namen umwandeln sollte in den der Schwester
Maria vom Kreuz. Es war zehn Uhr morgens, als Schwester Maria vom Kreuz
auf dem Platz Santo Spirito eintraf; ich erwartete sie auf der Schwelle
des heiligen Tempels. Als ich sie erblickte, konnte ich nicht umhin
auszurufen: Woher kommt mir so viel Ehre zuteil, daß eine Bevorzugte
der Muttergottes mich besucht? Aber sie warf sich sofort auf die Knie,
bat um den Segen des Priesters, dann betrat sie das Haus des Herrn und
wohnte in tiefster Sammlung dem erhabenen Meßopfer bei. Ihr alle, meine
Schwestern, wie auch ihr, meine Waisenkinder erwartetet sie in dem
großen Sprechzimmer. Ihr wart in großer Erwartung, so, als ob ihr durch
ein irdisches Wesen hindurch die heiligste Jungfrau in Person sehen
solltet. Und nicht nur sie sehen, sie in eurer Mitte besitzen: welche
mütterliche Führerin und welche Herrin! Bei ihrem Eintritt seid ihr von
Hochachtung und Liebe ergriffen auf die Knie gefallen und habt ihren
Segen erbeten. Aber die demütige Dienerin des Herrn, verwirrt, warf
sich selbst auf den Boden und bat um den Segen des Dieners Gottes für
sich und für euch. So war die Ankunft in unserem armen Institut.
Ich will nicht weiter an die Wunder erinnern, die sie hier wirkte. Mein
Gott! Wir haben ungewöhnlichen Handlungsweisen beigewohnt! Alles an
diesem Wesen war neu und oft mystisch. Die Tugend, die ihr innewohnte,
ließ Erinnerungen an das Leben von Heiligen aufkommen. Zu allererst war
sie von einer reizenden Unschuld: sie war eine reine Taube, die über
allem irdischen Elend hinzuschweben schien, ohne im geringsten davon
berührt zu werden. Sie war eine Lilie mit dem Duft der
Jungfräulichkeit, sie war ein ganz kleines Kind, das aus dem
Taufbrunnen kam, aber indessen reich an Klugheit und Weisheit. Mehr als
einmal haben wir Vögel in das Kloster fliegen sehen ... bis zu ihrem
Zimmer, als ob sie versuchten, mit ihr zu spielen.
Der Geist der Abtötung und Buße, der sie beherrschte, war
bemerkenswert. Sie nahm äußerst wenig Nahrung zu sich, kaum ein paar
Gramm, und die verspeiste sie in kleinen Bissen. In Galatina reichte
ihr ein Kilo Brot meist vierzehn Tage. Bei uns nahm sie kaum etwas zu
sich am Tag. Ebenso trank sie sehr wenig, und nie in großen Schlucken.
Bevor sie bei uns weilte, blieb sie drei Tage pro Woche ganz ohne etwas
zu trinken und sagte: "Es gibt so großen Durst in der Welt." Am
Ostertag haben wir sie bei Tisch dieses hohe Fest feiern sehen, indem
sie die Hälfte eines Eies zu sich nahm! Niemals eine Frucht, niemals
eine Süßigkeit. Ihre Schlafzeit überschritt drei Stunden nie! - und
immer auf dem nackten Boden, wie ihr selbst habt feststellen können,
meine Schwestern. Wieviele Male habt ihr sie in der Stille der Nacht
mit einem Licht in der Hand durch die Schlafräume gehen sehen! Was
sollen wir sagen über die Peinigungen ihres jungfräulichen Körpers? Was
zeigten jene Wäschestücke an, die an den Schultern mit frischem Blut
getränkt waren, die ihr Gelegenheit.hattet zu sehen, als ihr diese
Kleidungsstücke zur Wäsche brachtet? Was zeigt jenes Brett an, ganz
strotzend von Nägeln, in Kreuzform verteilt, das Schaudern erregt und
das wir mit Blutspuren aufbewahren?
Nichtsdestoweniger still, heiter, ruhig, in Tugend und Leiden
gesammelt, schien sie äußerlich nichts empfunden zu haben, anmutig und
zart in ihrem Gang, im Benehmen und Sprechen, und als ob sich in ihr
die Gegensätze aufgehoben hätten, war sie gesammelt und umgänglich,
demütig und eindrucksvoll, liebenswürdig und zurückhaltend, stark und
ergeben, und jene, die ein ganz kleines Kind geblieben war, schien
einer erwachsenen und reifen Person überlegen. Sie war in Wirklichkeit
einfach wie eine Taube und klug wie eine Schlange.
Ich möchte die Sprache eines Engels haben, um euch von unserer Melanie
zu sprechen, um euch einen Begriff von ihrer glühenden Liebe zu unserm
Herrn Jesus Christus und der heiligen Jungfrau Maria zu geben. In
Wirklichkeit war ihr Leben ein Leben der Liebe! Sie liebte Gott mit
reiner Liebe. Und die Flammen dieses mystischen Brandes verzehrten sie
bald mehr, bald weniger. Alle Sinne, alle Nerven, alle Fähigkeiten
dieses Geschöpfes Gottes zitterten von Liebe. Ihr erinnert euch, mit
welchem Übermaß an Liebe sie sich einen ganzen Tag lang von Jesus im
Sakrament ernährte! Das war ihr Ausspruch: "Den ich liebe, den möchte
ich verzehren!"
Ach, ich habe ihre Liebe zum heiligen Sakrament eines Tages auf die
Probe gestellt, und ohne daß sie.es erwartete, verbot ich ihr, sich der
heiligen Kommunion zu nähern. Sie zitterte, fand sich unwohl und fiel
wie tot zur Erde. !Lch habe mir damals eine Vorstellung davon machen
können, was wahrer Geist der Tugend ist, als sie, wie der zu sich
gekommen, während des ganzen übrigen Tages ebenso mild, ebenso demütig,
ebenso gütig und noch mehr erschien, und weniger als je habt ihr euch
eure gewöhnliche Bewunderung untersagen können. Aber die reine
Gottesliebe erzeugt den Eifer für seine Ehre und für das Heil der
Seelen. Der Eifer, hat der heilige Bischof von Genf gesagt, ist die
Flamme der-Liebe. Groß war der Eifer, der im jungfräulichen Herzen
Melanies brannte. Sie hätte sich jeden Augenblick aufopfern mögen,
damit Gott verherrlicht, Jesus an allen Orten bekannt und geliebt
würde, und alle Seelen geheiligt und gerettet würden.
Ihr lebendiger Glaube und ihr glühender Eifer ließen sie die Priester
als neue Christusse betrachten, und ließen sie wünschen, daß die Welt
erfüllt wäre von wahren Dienern des Heiligtums.
Ich zweifle nicht, daß sie aus diesem Grund unser einfaches Institut
lebhaft liebte, und daß sie, seitdem sie es kannte, es immer in ihrem
Herzen getragen hat, es zum Gegenstand ihrer heißen Gebete machte, weil
wir zum. Wahlspruch und zur Aufgabe jenes große Wort des Evangeliums
gemacht hatten, jene himmlische Vorschrift, die dem göttlichen Eifer
des Herzens Jesu entsprang: "Bittet also den Herrn der Ernte, daß er
Arbeiter in seinen Weinberg sende."
O, meine Schwestern, dieses Gebet, das ihr fromm alle Tage betet, wie
sehr hatte sie es im Herzen! Sie sah in diesem schlichten Institut, das
aus ihren Händen hervorgegangen war, und in diesem Gebetsgeist eine Art
Vorläufer für ihre teure Gründung der neuen Apostel" oder der
Missionare der Gottesmutter. Sie wollte sogar an ihr Gewand das
Skapulier des Herzens Jesu anheften und so den geheiligten Wahlspruch
tragen, der unser Kennwort bildet: "Bittet den Herrn der Ernte, daß er
Arbeiter in seinen Weinberg sende." Und weder Sie noch ich, meine
Schwestern, werden jener Überlegung widersprechen, die sie eines Tages
in französisch äußerte: "Ich gehöre zu eurer Gemeinschaft."
Ich verzichte darauf, die Wunder zu beschreiben, deren Zeugen ihr oder
ich waren, während der Zeit, in der Melanie bei uns weilte. Ich sage
nichts von ihren plötzlichen Entrückungen, in welchen sie außer Sinnen
wie in Ekstase war, nichts von jener Art von Herzenskenntnis, die sie
verborgene Gedanken lesen ließ, nichts von den zwei oder drei Heilungen
von Waisen, die durch ein Kreuzzeichen von ihr unmittelbar erfolgten,
nichts von ihrem außerordentlichen Vertrauen in die heiligste Jungfrau,
dank dem sie immer und zur gewünschten Zeit die Dinge, die Nahrung und
das Geld entsprechend den Bedürfnissen des Hauses in Händen hatte.
Schweigen wir über das alles und greifen wir nicht den autorisierten
Urteilen vor, welche zu auszusprechen nur der Autorität zukommt.
Wie schnell verging die Zeit für uns, da wir Melanie von La Salette bei
uns hatten! Es kam der Tag ihres Abschiedes. Sie war darüber tief
traurig; ihr erinnert euch, mit welcher Demut sie sich hinstreckte und
uns mit lautem Weinen um Verzeihung bat. Und ihr, in Wehklagen, die
ach, verständlicher waren als die ihrigen, ihr tatet wie sie! "Mutter",
sagtet ihr zu ihr, unter eurem Schluchzen, "wirst du an uns denken?
Wirst du uns dem Herrn empfehlen?" Und sie: "Ja, meine Töchter, immer
werde ich euch in meinem Herzen tragen; immer werde ich für euch beten
... ich lasse euch als Oberin die heiligste Jungfrau." - Von Messina
ging sie nach Moncaliero, von Moncaliero nach Frankreich. Sie ging nach
Dion, sie ging nach Casset: "Ich will nicht bei den Freimaurern
sterben."
Damals entschloß sie sich, in ihr geliebtes Italien zurückzukehren,
irgendeine einsame Zuflucht zu suchen, wo niemand sie kannte, wo sie
sich in der Stille und der Einsamkeit auf den Tod vorbereiten konnte.
Von dem Augenblick an waren die Feuer der göttlichen Liebe
unwiderstehlich geworden; sie fühlte sich stark zum Himmel hingezogen.
Altamura, in der Provinz Bari - glückliche, gesegnete Stadt - wurde das
Endziel ihrer irdischen Pilgerschaft. Sie kam im Juni 19o4 dort an. Sie
war damals 72 Jahre alt und war am Ende ihrer Kräfte. Seine Exzellenz,
der Bischof Cecchini, der würdige Bischof der beiden Diözesen Altamura
und Acquaviva, bereitete ihr einen großen Empfang: er wußte, welch
großen Schatz man in seine Bischofsstadt sandte! Auf inständiges Bitten
der Dienerin des Herrn jedoch hielt er ihre Ankunft treulich geheim. Er
vertraute sie, ohne ihren Namen zu nennen, der edlen und frommen
Familie Giannuzzi an, die bald die außerordentliche Heiligkeit dieser
bewundernswerten Fremden feststellte und sie bald liebte und verehrte.
Aber sie, losgelöst von aller irdischen Anhänglichkeit, einst sogar aus
dem Haus ihrer Mutter verjagt, hatte in Schweigen und im Geheimnis die
ersten Jahre ihrer frühen Kindheit verbracht. Gott bestimmte ihr, in
einem engen Zimmer zu sterben, in völliger Verlassenheit, fern von der
Anwesenheit, der Hilfe irgendeines menschlichen Wesens.
Es ist Gottes Brauch, seinen geliebten Dienern den Tag und die Stunde
ihres Todes zu offenbaren. Hatte er diese Gnade dem Liebling der
hochheiligen Jungfrau vorbehalten? Wir wissen es nicht. Man muß jedoch
bemerken, daß Melanie Calvat drei Monate vor ihrem Tod die fromme
Familie Giannuzzi verließ, indem sie sich demütig bedankte für die
herzliche Gastfreundschaft, und sich in ein kleines Haus der Stadt
zurückzog, ganz abgelegen, wo sie sich am leichtesten vor allen Blicken
verbergen konnte. Jeden Morgen begab sie sich zur Kathedrale, um die
hl. Messe zu hören und sich mit ihrem treuen Freund in der Eucharistie
zu nähren. Sie nur zu sehen, versetzte die Gläibigen in Bewunderung ob
der tiefen Sammlung dieser Unbekannten.
Am 15. Dezember desselben Jahres 1904, dem Oktavtag des Weltfestes von
der Unbefleckten Empfängnis und dem Vorabend der vorbereitenden Novene
von Weihnachten sah man die Dienerin des Herrn nicht zur Kirche kommen.
Der Bischof sandte schnell seinen Diener zu ihr hin, um sich zu
erkundigen, ob sie etwas benötige. Man klopft an die Tür: keine
Antwort. Man klopft wieder und wieder mit Lärm: immer Stille. Man geht
schnell, um Exzellenz zu benachrichtigen, der, einen ernsten Unfall
befürchtend, die bürgerliche Autorität unterrichtet. Diese begibt sich
zu dem Ort, stellt fest, daß niemand antwortet, erbricht die Tür und
tritt ein. Die Dienerin des Herrn ruht auf der nackten Erde. Auf diese
Art sind große Heilige gestorben, denen die Kirche die Ehre der Altäre
gewährt hat: der hl. Paul, der Eremit, die hl. Maria, die Ägypterin in
der Wüste, der hl. Franz Xaver, auf einem Strand, und in einem Stall
die hl. Germaine Cousin, diese Hirtin von Frankreich, deren Leben viel
Ähnlichkeit hat mit dem Leben Melanies.
Bemerken wir indessen, daß die Barmherzigkeit Gottes, diese Vorsehung
voll Liebe für die, die Ihn lieben, schon im voraus Verfügungen
getroffen hatte für seine Dienerin. Vor ihrer Abreise nach Altamura,
noch in Frankreich war sie todkrank, und da sie wie auf ihrem
Sterbebett lag, hatte sie die heilige Wegzehrung und die letzte Ölung
empfangen. O glücklich jene, deren Leben in Jesus ist, deren Leben in
der Liebe zu Jesus erlischt! Selig die Toten, die im Herrn sterben! Sie
hatte arm, einsam, bußfertig gelebt, sie hatte nur das Vergessen
erstrebt: nur mit Gott! Sie wollte sterben, wie sie gelebt hatte!
Aber werden wir die zarten und liebevollen Absichten ihres
Vielgeliebten wissen, dessen, der treu und wahr ist, in jenen
feierlichen Augenblicken? Wer wird uns die Hilfen voll Zärtlichkeit
nennen, der Unbefleckten, jener, die auf dem Berg von La Salette sich
ihr gezeigt hatte, so schön und so majestätisch! Und jene stärkende
Hilfe der Engel, ihrer Brüder? Alles dies ist den Blicken der Menschen
entzogen gewesen. Der Tod Melanies ist wie das zusammengedrängte Bild
ihres Lebens gewesen. **) Aber es hieße sich täuschen, in diesem Tod
auf der nackten Erde nur die einfache unerwartete Folge einer Ohnmacht
zu sehen. Nein! ihr Bett benutzte die unschuldige, bußfertige Dienerin
nicht. Wir haben es schon gesagt, daß sie während einiger Stunden in
der Nacht Ruhe und Schlaf fand ... Ist das nicht Grund genug
auszurufen: "Moriatur anima mea morte justorum."
Diese Gerechte! - Könnten wir sterben, wie sie starb! Könnte das Ende unseres Lebens dem ihrigen gleichen!
Lebe wohl, schöne Seele! Lebe wohl, Wesen der Liebe, vollkommenes Werk
der Liebe, der reinsten und heiligen Liebe Jesu, des Herrn! Wohl! Lebe
wohl, wachsame und kluge Jungfrau! Wenn in der Stille der Nacht die
Stimme des Bräutigams dich rief, liefet du ohne Aufenthalt zu Ihm, mit
der mystischen Lampe, der Lampe mit Öl gefüllt und tropfend von
Herrlichkeit. Für Dich sind die Mühen beendet, die langen und
ermüdenden Reisen, die erschöpfenden Pilgerfahrten, die tiefen Ängste
der Liebe, der heiligen Liebe mit ihrem unersättlichen Hunger und ihrem
unauslöschlichen Durst nach Gerechtigkeit, die nicht auf dieser Erde
wohnt. Zu dieser Stunde ist der Allerhöchste dein Erbteil!...
Ja, dieser Gedanke ist uns süß: die sühnenden Flammen sind nicht für
dich gewesen, oder zum wenigsten ist dein Durchgang schnell gewesen und
du bist für die Ewigkeit eingetreten in die Freude deines Gottes! Ja,
sie sind verwirklicht worden im Glück, deinen heißen Wünschen nach
Vereinigung mit dem Herrn ohne Ende, die ihr so oft diesen Schrei
entlockten: "Wann wird die Stunde kommen? 0, wann wird sie kommen?" ...
Sei in der Freude, erfreue dein Herz in der beseligenden Schau jenes
Jesus, des Gegenstandes deiner Seufzer, des ewigen Strebens deiner
Seele voller Liebe, Ihm zu folgen auf dem schmerzhaften Weg, den du
nicht gefürchtet hast. Sein Kreuz war für dich Wonne, Lächeln und
Freude, "Blume, die niemals welkt" schriebst du oft. 0, wieviel mal,
ähnlich der Braut im Hohen Lied, hast du vor Liebe nach dem
Vielgeliebten verlangt! Es war ein Feuer, das aus der Brust strömte!
... Und als du, eingetreten in das Königreich der ewigen Herrlichkeit,
als du die Königin ohne Makel geschaut hast, jene, die dein Herz
verwirrt hat mit einer Kindesliebe, so zärtlich und voll Vertrauen,
dieser Schrei: "Meine Mutter, meine Mutter", mit dem du die große
Königin anriefst... all das, wie könnte ich es sagen?
O, Melanie, von diesem hohen Thron, auf den Gott dich im Himmel gesetzt
hat, senken sich deine Blicke noch auf diese Erde? Liebst du uns noch
mit diesem Herzen, das uns in diesem Ort der Verbannung geliebt hat?
Aber was sage ich? Vervollkommnet sich die Liebe von hier unten nicht
in Berührung mit Gott? Ist es möglich, daß die Glückseligen im Himmel
nicht diejenigen lieben, die sie lieben? Ja, in Gott liebt ihr uns....
Eines Tages, als du inmitten der armen Waisen warst, sagte man dir:
"Mutter", - man gab dir diesen süßen Namen -, "Mutter, wenn du einmal
weggegangen bist, wirst du nicht mehr an uns denken." - "Ach",
antwortetest du, "ihr kennt mein Herz nichtl"
In dieser Stunde, wo du im ewigen Königreich uns mit der vollkommenen
Liebe liebst, ach, höre nicht auf, für uns zu beten. Bete für alle, die
dich verehren wie ein himmlisches Wesen. Bitte für diese Jungfrauen,
"die Töchter des Göttlichen Eifers", für deren religiöse Bildung du ein
Jahr deines Lebens verwendet hast, mit mehr als mütterlicher Sorge, mit
weiser und erleuchteter Führung, mit ganz besonderem Eifer, um sie auf
den Weg des Herrn zu führen. Du weißt es, diese frommen Töchter, dem
heiligen Herzen Jesu geweiht und durch dich selbst Maria, der
Unbefleckten geweiht, betrachten dich als eine Abgesandte der
hochheiligen Jungfrau, die vor sieben Jahren in ihre Mitte gekommen ist
und die immer unter ihnen war.
Und auch auf mich, auf mich, der ich deinem Andenken diese schwache
Huldigung darbringe, auf mich, der von deinem edlen Herzen so viele
Beweise deiner reinen und heiligen Liebe erhalten hat, auch auf mich
geruhe die mächtige Hilfe deiner Gebete zum anbetungswürdigen Erlöser
Jesus Christus und zu Maria, der Unbefleckten, herabzurufen.
E n d e
Anmerkungen:
*) Die Stadt Messina rühmt sich, einen Brief zu besitzen, den die
heilige Jungfrau ihnen schrieb, als sie den christlichen Glauben
empfangen hatten.
**) Melanie wurde oft durch unseren Herrn selbst mit der hl. Kommunion
gespeist und erfreute sich des immerwährenden Anblicks ihres
Schutzengels. So haben zwei Bewohner von Altamura versichert, in der
Wohnung der "frommen französischen Dame" beim abendlichen Angelus, in
der Nacht, in der sie starb, engelhafte Gesänge über die Melodie des
Pange lingua gehört zu haben, ebenso das Läuten eines Glöckchens, wie
wenn man jemand die heilige Wegzehrung bringt.
Vor einer Zuhörerschaft, die dieses Zeugnis kannte, hat sich also der
Redner darauf beschränkt, es anzudeuten, und die Feier eines
Trauergottesdienstes erforderte eine gewisse Zurückhaltung. Jemand
schrieb ihm, er wolle die Darstellung dieser beiden Zeugen wohl
bestätigen oder sie förmlich widerrufen. Hier seine Antwort:
"Ich versichere Ihnen, daß es absolut wahr ist, daß Herr Pascal Massari
von Altamura, eine achtenswerte Persönlichkeit, glaubwürdig, und eine
Dame, die Nachbarin von Melanie, mir versichert haben (und sie sind
bereit, es zu beschwören!), zuerst den Gesang des Pange lingua, den
engelgleiche Stimmen begleiteten, mit dem Läuten des Glöckchens
zusammen, dann das andauernde Geläute des Glöckchens wie beim
Überbringen der heiligen Wegzehrung gehört zu haben." |