Anhang II
VI.
Die allerseligste Jungfrau war sehr groß und wohlgestaltet. Sie schien
so leicht zu sein, daß man sie mit einem Hauch hätte bewegen können.
Indessen blieb sie unbeweglich und fest stehen. Ihr schönes Gesicht war
hoheitsvoll, eindrucksvoll, aber nicht in der Weise eindrucksvoll, wie
es die Herren von hier unten sind. Sie verbreitete eine ehrfürchtige
Scheu. Zur gleichen Zeit, wo ihre Hoheit Ehrfurcht mit Liebe vermischt
einflößte, zog sie mich zu sich hin. Ihr Blick war mild und
durchdringend; ihre Augen schienen mit den meinigen zu sprechen, aber
das Gespräch kam aus einem tiefen und lebendigen Gefühl der Liebe
gegenüber dieser hinreißenden Schönheit, die mich schmelzen ließ. Die
Süßigkeit ihres Blickes, ihr Ausdruck unbegreiflicher Güte ließ mich
verstehen und fühlen, daß sie mich zu sich hinzog und daß man sich ihr
schenken wollte. Es war ein Ausdruck der Liebe, die nicht ausgedrückt
werden kann mit der leiblichen Zunge und den Buchstaben des Alphabets.
Das Kleid der hochheiligen Jungfrau war silberweiß und ganz glänzend:
es hatte nichts Stoffliches: es war zusammengesetzt aus Licht und
Glanz, wechselnd und Funken sprühend. Es gibt auf Erden weder einen
Ausdruck dafür noch einen passenden Vergleich.
Die heilige Jungfrau war ganz schön und ganz von Liebe gebildet:
während ich sie betrachtete, verlangte ich danaah, mit ihr zu
verschmelzen. In ihrer Umgebung wie in ihrer Person atmete alles
Majestät, Glanz und Pracht einer unvergleichlichen Königin. Sie
erschien schön, weiß, unbefleckt, leuchtend, blendend, himmlisch,
frisch, neu wie eine Jungfrau. Es schien, daß das Wort Liebe von ihren
silbrigen und reinen Lippen entwich. Sie erschien mir wie eine gute
Mutter voller Güte, Liebenswürdigkeit, Liebe zu uns, Mitleid und
Erbarmen.
Der Kranz aus Rosen, den sie auf dem Kopf trug, war so schön, so
glänzend, daß man sich keine Vorstellung davon machen kann. Die Rosen
von verschiedenen Farben waren nicht ïvon dieser Erde: das war eine
Verbindung von Blunen, die das Haupt der hochheiligen Jungfrau in Form
einer Krone umgaben. Aber die Rosen veränderten oder verwandelten sich;
denn aus dem Inneren einer jeden Rose kam anso schönes Licht hervor,
daß es mich hinriß und den Rosen eine leuchtende Schönheit verlieh. Aus
dem Rosenkranz erhoben sich wie Zweige aus Gold eine Menge anderer
kleiner Blunen, die mit Brillanten besetzt waren. Das Ganze bildete ein
sehr schönes Diadem, das allein schon mehr glänzte als unsere irdische
Sonne.
Die hochheilige Jungfrau hatte ein sehr hübsches Kreuz im den Hals
hängen. Dieses Kreuz schien vergoldet; ich sage vergoldet, um nicht von
purem Gold reden zu müssen. Denn ich habe manchmal vergoldete
Gegenstände gesehen in verschiedenen Farbnuancen, die in meinen Augen
eine viel schönere Wirkung ergaben als ein einfache Goldplatte. Auf
diesem schönen Kreuz war ganz leuchtend von Licht ein Christus, unser
Herr, die Arme auf dem Kreuz ausgespannt. Fast an den beiden äußersten
Enden des Kreuzes, war auf der einen Seite ein Hammer, auf der anderen
eine Zange. Christus war von der Farbe natürlichen Fleisches, welches
aber hell strahlte. Und das Licht, das aus seinem ganzen Körper
hervorschien wie sehr glänzende Spitzen, ließ mir das Herz mit dem
Wunsch brechen, mich in es hinein zu verschmelzen. Manchmal schien
Christus tot zu sein. Sein Haupt hing herab und der Körper war so
entkräftet, daß es schien, als ob er herabfallen würde, wenn er nicht
durch die Nägel gehalten würde, die ihn ans Kreuz hefteten.
Ich hatte ein lebhaftes Mitleid, und ich hätte gern der ganzen Welt von
seiner unbekannten Liebe berichtet und in die Seelen der Sterblichen
die innigste Liebe und die lebhafteste Dankbarkeit gegen einen Gott
geflößt, der unser gar nicht bedurfte, um das zu sein, was er ist, was
er war und immer sein wird; und doch, o unbegreifliche Liebe zu den
Menschen, er ist Mensch geworden und er hat sterben wollen, ja sterben,
um besser in unsere Seelen und in unser Gedächtnis die törichte Liebe
schreiben zu können, die er für uns hat! 0 wie unglücklich bin ich, so
arm an Worten zu sein, um die Liebe, ja, die Liebe auszusprechen, die
unser Heiland für uns hat, aber andererseite, wie glücklich sind wir,
besser zu empfinden, was wir nicht aussprechen können!
Ein andermal erschien Christus lebend: er hatte das Haupt aufrecht, die
Augen geöffnet, und er schien aus eigenem Willen auf dem Kreuz zu sein.
Manchmal auch schien er zu sprechen: er schien zeigen zu wollen, daß er
am Kreuz hing für uns, aus Liebe zu uns, ua uns in seine Liebe zu
ziehen, daß er immer von neuem Liebe zu uns hat, daß seine Liebe von
Anfang an und dem Jahre 33 immer die von heute ist und daß sie immer
dauern wird.
Die heilige Jungfrau weinte fast die ganze Zeit, die sie zu mir sprach.
Ihre Tränen flössen langsam,eine nach der anderen, bis zu ihren Knien.
Dann verschwanden sie wie Funken von Licht. Sie waren glänzend und
voller Liebe. Ich hätte sie trösten wollen, daß sie nicht mehr länger
weine. Aber es schien mir, daß sie ihre Tränen zeigen mußte, un besser
ihre von den Menschen vergessene Liebe zu zeigen. Ich hätte mich in
ihre Arme werfen und ihr sagen mögen: "Meine gute Mutter, weine nicht!
Ich will dich lieben für alle Menschen der Erde." Aber es schien mir,
daß sie sagte: "Es gibt deren so viele, die mich nicht kennen."
Ich war zwischen Tod und Leben, da ich auf der einen Seite soviel
Liebe, soviel Verlangen, geliebt zu werden, sah, und auf der anderen
Seite soviel Kälte, soviel Gleichgültigkeit... O, meine Mutter, ganz
Mutter, ganz schön und ganz liebenswert, meine Liebe, Herz meines
Herzens!...
Die Tränen unserer zärtlichen Mutter, fern davon ihr Ansehen von
Hoheit, als Königin und als Herrin zu verringern, schienen sie im
Gegenteil zu verschönern, sie liebenswerter, hinreißender zu machen,
und ich hätte ihre Tränen getrunken, die mein Herz vor Mitleid und
Liebe springen ließen. Eine Mutter, und eine solche Mutter, weinen
sehen, ohne alle erdenklichen Mittel zu ergreifen, un sie zu trösten,
un ihren Kummer in Freude zu verwandeln, versteht man das? 0 Mutter,
mehr als gut! Du bist mit allen Vorrechten geschaffen worden, deren
Gott fähig ist; du hast sozusagen die Macht Gottes erschöpft: du bist
gut, und dann gut von der Güte Gottes selbst. Gott hat sich vergrößert,
indem er sein irdisches und himmlisches Meisterwerk bildete.
Die heilige Jungfrau hatte eine gelbe Schürze. Was sage ich: gelb? Sie
hatte eine Schürze, leuchtender als mehrere Sonnen zusammen. Das war
kein stofflicher Stern, das war eine Gesamtheit an Glanz. Dieser Glanz
war funkelnd und von hinreißender Schalheit. Alles in der hochheiligen
Jungfrau zog mich stark an und ließ mich hingleiten, um meinen Jesus in
allen Zuständen seines sterblichen Lebens anzubeten und zu lieben.
Die heilige Jungfrau hatte zwei Ketten, die eine ein wenig breiter als
die andere. An der schmaleren war das Kreuz aufgehängt, das ich weiter
oben erwähnte. Diese Ketten - weil ich ihnen den Namen "Kette" geben
muß - waren wie Strahlen aus Glanz von wechselnder und prächtiger
Pracht.
Die Schuhe, weil man sie Schuhe nennen muß *), waren weiß, aber von einem silbrigen, glänzenden Weiß; rundherum waren Rosen.
Diese Rosen waren von einer blendenden Schönheit, und aus dem Innern
jeder Rose kam ein Flamme von einem sehr schönen und angenehmen Licht
hervor. Auf den Schuhen war eine Spange aus Gold, nicht aus irdischem
Gold, sondern aus Gold des Paradieses.
Der Anblick der hochheiligen Jungfrau war selbst ein vollkommenes
Paradies. Sie hatte in sich alles, was genügen könnte, denn die Erde
war vergessen. Die heilige Jungfrau war von zwei Lichtern umgeben. Das
erste Licht, näher bei der heiligen Jungfrau, reichte bis zu uns; es
glänzte mit einem sehr schönen und sprühenden Schein. Das zweite Licht
breitete sich ein wenig mehr un die schöne Dame, und wir befanden uns
in ihm. Es war unbeweglich, d.h. es sprühte nicht, aber es war sehr
viel heller als unsere arme Sonne der Erde. Alle diese Lichter taten
den Augen nicht weh und ermüdeten den Blick nicht.
Außer diesen Lichtern, diesem ganzen Glanz, strahlten aus dem Körper
der heiligen Jungfrau, ihren Kleidern und überall noch Gruppen oder
Bündel von Lichtern oder Lichtstrahlen heraus. Die Stimme der schönen
Dame war süß, sie bezauberte, riß hin, tat dem Herzen wohl, sie
beruhigte, beseitigte alle Hindernisse, befriedete, besänftigte. Es
schien mir, daß ich immer von dieser schönen Stimme hätte kosten mögen,
und mein Herz schien zu hüpfen oder ihr entgegen gehen zu wollen, um in
ihr zu zergehen.
Die Augen der heiligen Jungfrau, unserer zärtlichen Mutter, kann man
nicht mit der menschlichen Sprache beschreiben. Um darüber zu sprechen,
müßte man ein Seraphim sein und noch mehr; es bedürfte der Sprache
Gottes selbst, jenes Gottes, der die unbefleckte Jungfrau geschaffen
hat, das Meisterwerk seiner Allmacht. Die Augen der Königin Maria
erschienen tausend und abertausendmal schöner als selbst die
auserlesensten Brillanten, Diamanten und Edelsteine; sie leuchteten wie
zwei Sonnen, sie waren mild wie die Milde selbst, klar wie ein Spiegel.
In diesen Augen sah man das Paradies. Sie zogen einen zu ihr hin. Es
schien, daß sie sich schenken und anziehen wollten. Je mehr ich sie
betrachtete, desto mehr wollte ich sie ansehen; je mehr ich sie ansah,
desto mehr liebte ich sie, und ich liebte sie mit all meinen Kräften.
Die Augen der schönen Unbefleckten waren wie die Pforte Gottes, von wo
aus man alles sah, was die Seele berauschen kann. Als meine Augen denen
der Mutter Gottes begegneten **), empfand ich in mir selbst einen
glücklichen Ausbruch von Liebe und von feierlicher Bezeugung zu lieben
und mich aus Liebe hinzugeben.
Indem wir uns ansahen, sprachen unsere Augen auf ihre Weise, und ich
liebte sie so sehr, daß ich sie hätte umarmen mögen in der Mitte ihrer
Augen, die meine Seele erreichten, die sie anzuziehen und mit den
ihrigen zu verschmelzen schienen. Ihre Augen senkten ein süßes Zittern
in mein ganzes Sein, und ich fürchtet, die geringste Bewegung könnte
ihr unangenehm sein, sei sie auch noch so gering. Dieser Anblick der
Augen der reinsten Jungfrau allein hätte genügt, der Himmel eines
Glückseligen zu sein; er hätte genügt, un eine Seele eingehen zu lassen
in die Fülle der Willenshingabe an den Allerhöchsten in allen
Ereignissen, die im Lauf des sterblichen Lebens auf einen zukommen; er
hätte genügt, um in dieser Seele beständige Akte des Lobes, des Dankes,
der Wiedergutmachung und der Sühne zu bewirken. Dieser Blick allein
sammelt die Seele in Gott und macht sie gleichsam zu einer lebendig
Toten, die alle Dinge dieser Erde, selbst diejenigen, die als die
ernstesten gelten, nur als Kinderspiele ansehen; sie möchte nur von
Gott reden hören und von dem, was Seinen Ruhm betrifft.
Die Sünde ist das einzige Übel, das es auf der Erde gibt. Sie würde daran sterben, wenn Gott sie nicht stützte. Amen. ***)
Castellamare, den 21. September 1878
Marie de la Croix, Opfer für Jesus,
geborene Melanie Calvat, Hirtin von La Salette.
Nihil obstat: imprimatur.
Datum Lycii ex Curia Ep., die 15 Nov. 1879.
CARMELUS Arch. COSMA
Vicarius Generalis
Anmerkungen:
*) Wenn ich von der schönen Dame sprechen soll, die mir auf dem
heiligen Berg erschienen ist, empfinde ich die Verlegenheit, die der
heilige Paulus empfinden mußte, als er aus dem dritten Himmel herabkam.
Nein, das Auge des Menschen hat niemals gesehen, sein Ohr hat niemals
gehört, was zu sehen und zu hören geboten wurde.
"Wie hätten unwissende Kinder, die aufgefordert wurden, sich über solch
außerordentliche Dinge zu äußern, einen zutreffenden Ausdruck finden
sollen, den auserlesene Geister nicht immer trafen, un alltägliche
Gegenstände zu schildern?' Wundere man sich also nicht, wenn das, was
wir Mütze, Kranz, Halstuch, Ketten, Rosen, Schürze, Kleid, Strümpfe,
Schnalle und Schuhe genannt haben, kaun deren Form hatte. An diesem
schönen Kleid gab es nichts Irdisches; die Strahlen allein und die
verschiedenen Schattierungen, die sich überschnitten, brachten ein
prächtiges Gesamtbild hervor, welches wir verringert und verstofflicht
haben.
Ein Ausdruck hat nur Wert durch die Idee, die man mit ihm verbindet;
aber wo in unserer Sprache Ausdrücke finden, un Dinge zu bezeichnen,
von denen die Menschen keine Idee haben? Es war ein Licht, aber ein
Licht, sehr verschieden von allem anderen: es drang geradewegs in mein
Herz, ohne durch meine Organe zu dringen, und doch mit einer Harmonie,
wie sie die schönsten Konzerte nicht hervorbringen könnten. Was sage
ich? Mit dem Wohlgeschmack, den selbst die süßesten Getränke nicht
haben könnten.
Ich weiß nicht, welche Vergleiche ich anführen soll, weil die aus der
greifbaren Welt genommenen Vergleiche mit dem Mangel behaftet sind, den
ich den Worten unserer Sprache vorwerfe: sie bieten dem Geist nicht die
Idee, die ich wiedergeben will. Wenn am Ende eines Feuerwerkes die
Menge ausruft: "Das ist der Blumenstrauß!" besteht da eine große
Beziehung zwischen einer Verbindung von Blumen und einem Zusammenspiel
von knallenden Raketen? Nein, sicherlich. Nun also: der Abstand, den
die Vergleiche, die ich brachte, von der Idee trennen, die ich
wiedergeben möchte, ist noch unendlich viel größer."
**) Die heilige Jungfrau hat dem kleinen Hirten nicht erlaubt, ihre
Augen zu sehen. Er hat sie nicht weinen sehen. Er wußte nicht, was
diese Funken von Licht waren, die zu den Knien der schönen Dame hin
verschwanden. Sie hat ihm nicht einmal erlaubt, ihr Gesicht zu
betrachten: "Ich habe ihr Gesicht nicht sehen können, das leuchtete."
***) "Amen, so sei es." Unermeßliches Leiden und immerwährende Hingabe
an den göttlichen Willen. Wie bewundernswert stellt sich das heilige
Mädchen dar in diesem unpersönlichen Ausruf, der hier von einer
erhabenen Einfachheit ist. Die Erkenntnis, daß Gott ihr Sünden gab, die
auf Erden begangen werden, der "Gestank" der Sünde, ist das einzige
Leid, über das sie sich beklagt. Um zu sühnen, weinte sieso sehr, daß
sie während ihres Aufenthaltes in Darlington erblindete. Sie erhielt
durch ein Wunder ihr Augenlicht wieder, aber ihre Tränen hörten nicht
auf zu fließen, ihre Sehstärke wurde sehr schwach. |