I. Geschichte dieses Buches, angefangen 1879
Ich habe einst - es liegt nicht weit mehr als 3o Jahre zurück - die
Pilgerfahrt nach La Salette unternommen, als die Eisenbahn von Grenoble
nach La Mure nicht bestand. Eine mörderische Kutsche, bei gewissen
Steigungen von 12 Pferden gezogen, zerbrach an den längsten Tagen, von
der Morgen- bis zur Abenddämmerung, die Nieren der Reisenden. Man
schimpfte zehn Stunden lang, bevor man sich den Maultiertreibern
endlich überließ.
Das war übrigens sehr gut so. Das schreckte mehrere Touristen ab, und
die Landschaft war für den Pilger ansprechend und tröstlich. An
gewissen Orten stieg man aus, um die Tiere zu entlasten, und es war
eine köstliche Entspannung, langsam unter den großen Bäumen herzugehen,
beim Lärm der Wasserläufe, die zu den Abgründen hinflohen. Ich werde
mich immer an jene paar hundert Schritte in Begleitung eines Missionars
erinnern, der, wie ich glaube, Geist hatte und der mir in
außergewöhnlichen Worten die Majestät der heiligen Texte aufsagte. Er
starb drei Wochen später, nachdem er lange zuvor von der Gottesmutter
erbeten hatte, in La Salette zu sterben, wo man ihn auch begrub. Er
hatte genug von der Häßlichkeit dieser Welt und der zeitgenössischen
pharisäischen Frömmigkeit, die ihm als Abfall erschien.
Ich werde den Namen des Priesters nicht nennen. Seine Familie ist
seiner zu wenig wert; aber ich weiß, was er mir gab, als er auf dem
Wege sprach und mir die Schrift erschloß. Teurer Verstorbener! Ich sah
sein Grab im folgenden Jahr wieder, ein schlichtes Kreuz über einem
schlichten Rasenhügel: dann im letzten Jahr, sechsundzwanzig Jahre
später, aber verlassen. Seine Hülle war in eine Gruft übertragen
worden, die man kürzlich zwei Schritte von der Stelle erbaut hatte, wo
man seinen Namen lesen kann, der den Engeln und einigen Gottesfreunden
bekannt ist.
Dieser Missionar, ein besserer Redner als Schriftsteller, durchzog die
Welt und verkündete den Ruhm der Mutter Jesu Christi, und immer kam er
nach La Salette zurück, um zu Füßen jener, die weint, Begeisterung für
seinen apostolischen Eifer zu schöpfen.
Die unendlich außergewöhnliche Rede, die die Kinder auf jenem Berg
vernahmen, war der Mittelpunkt seiner Gedanken geworden, und das
Verständnis, das er darüber hatte, war wie eine jener unerklärlichen
Geistesgaben, die der verehrungswürdige Grignon von Monfort in
prophetischer Weise den Aposteln der letzten Zeiten beimaß.
Er würde sich den Ruf eines Exegeten verschaffen, - mit den Brosamen
des Festessens, das dieser demütige Mann täglich seinen Zuhörern anbot
-, wenn er von der Königin der Patriarchen und Märtyrer sprach. Die
geheimnisvolle Ungunst, die auf dem Denken einer großen Zahl von
Christen gegenüber La Salette lastete, ließ sein Herz überfließen. Das
gegenwärtige Buch, das unter seinen Augen in La Salette beschlossen und
begonnen wurde, ist ein Vierteljahrhundert unterbrochen worden, Gott
weiß wieso und warum. Dieses Werk der Gerechtigkeit war sein höchster
Wunsch, seine Hoffnung.
Er starb während der ersten Seiten, als ob die Trösterin, der er
diente, nicht gewollt hätte, daß diese wahrhaft priesterliche und
gekreuzigte Seele nicht auf eine Weise die Schmerzenskrone verliere,
die sie auf die Stirn ihrer Liebesopfer legt, wovon in der dritten
Seligpreisung gesprochen wird, und die auf Erden nicht getröstet werden
sollen.
Dieses Werk, das ich heute wieder aufnehme, erscheint mir noch
schwieriger und erschreckender als ehemals. Der Tod dessen, der mich
anregte, lastete auf mir mit einer Trauer, die ich für unüberwindlich
hielt, und das unglücklichste Leben, das man sich vorstellen kann,
lenkte mich dann endgültig davon ab.
Der Augenblick war nicht gekommen. Was hätte ich damals tun sollen,
wenn nicht höchstens eine exegetische und literarische Umschreibung der
Rede? Ich kannte nicht einmal Melanies Geheimnis,das erst im November
1879 veröffentlichtwurde, und so undurchdringlich vernebelt war durch
die priesterliche Panik, und von dem heute kaum ein Katholik etwas
weiß, und das er nur vermuten kann.
Mußten sich dann nicht die Verworfenheiten und geistesverwandten
Schändlichkeiten der Republik entwickeln, die jetzt an einem solchen
Punkt sind, daß man sich fragt, was der Tod sei? Hatten sich nicht alle
Dämonen schon wie ein einziger Dämon erhoben, um die vollkommene
Entfaltung der stinkenden demokratischen Blume zu fordern, die von
ihnen eifrig eingebürgert wurde in dem Königreich, das die
Geburtsstätte der christlichen Autorität war. Mußte nicht schließlich
und hauptsächlich die Gerechtigkeit des "schweren Arms" darauf warten,
daß die Botschafterin in Tränen, sechzigmal beleidigt, zu ihrem Sohne
sagte: - "Ich kenne dieses Volk nicht mehr, es ist zu furchtbar
geworden!"
Als mein Name nach so langer Zeit fast berühmt geworden war, haben
einige Freunde geglaubt, ich könnte wohl bestimmt sein, das Buch über
La Salette zu schreiben, das gewisse Seelen brauchten; ein frommes
Buch, das der göttlichen Herrlichkeit nicht feind wäre; ein Buch, das
nach Ablauf von 60 Jahren einige verständliche Worte sagen würde über
ein unerhörtes Ereignis, das von den sogenannten Missionaren oder
verweltlichten Priestern völlig mißverstanden oder sogar ignoriert
worden war, die auf dem Berg einander ablösten.
"Laß dies zu meinem Volk gelangen," hat die hohe Unaussprechliche
zweimal gesagt. Das ist es, was den, der mich anregte, untröstlich
machte, - "Wer denkt denn noch daran?" sagte er mir, "und wie könnte
man es zu allem Volk gelangen lassen, d.h. zu allen Menschen?" Wissen
denn die Leute hier überhaupt, was sich an diesem Ort ereignet hat, und
ist selbst der Stärkste fähig, auch nur ein Wort von dieser Botschaft
zu verstehen, die das Verbum novissimum (neueste Wort) des hl. Geistes
zu sein scheint?"
Ach, die unwiederbringliche verlorene Erklärung, die dieser Mann hätte
geben können, wird von jetzt an eine erschreckende Vision der
gegenwärtigen Zeiten sein können, infolge der Versprechungen und
Drohungen der Gottesmutter, die gleicherweise verachtet wurden - eine
Vision des Schreckens, gewaltig verschlimmert durch die unbestrittene
Gewißheit bestimmter vorausgehender Erscheinungen. Was liegt nach allem
daran, wenn mein so verstümmeltes Werk doch noch genug von jenem
untergegangenen Wort enthält, um in La Salette einige jener herrlichen
Seelen anzuziehen, die fähig sind, die Schönheit der Botschaft zu
ahnen, selbst durch die Dunkelheit und Schwächen einer ungenügenden
Predigt hindurch?
Ich hätte sagen mögen wie ein Bossuet gegenüber der Perücke des Königs
von Frankreich: "Hört, glaubt, greift zu! Ich breche euch das Brot des
Lebens!" Aber würde eine so erhabene Redeweise nicht im Gegenteil eine
große Zahl von Herzen abstoßen, die bereits unbewußt dem prunkvollen
Fürsten mit dem zerschmetterten Haupt unterworfen sind, der nicht
aufhört, seinen Sklaven das unabhängige Reich zu versprechen, das er
selbst schon verloren hat. - Welch ein Triumpf schon, nur zu erreichen,
den Zeitgenossen des Automobils den Glanz jener Herrlichkeit wenigstens
ahnen zu lassen!
Der Priester aus Jerusalem, der Missionar, von dem ich gesprochen habe,
hieß Louis-Marie-René, und das ist schon viel mehr, als ich von ihm
hätte sagen wollen. So sei er also der Schutzherr dieses Buches, das
hauptsächlich ein Buch des Schmerzes sein wird. La Salette ist in
besonderer Weise der Ort der schmerzlichsten Tränen.
Man erinnert sich, daß die Erschienene, als sie zu den Kindern zu
sprechen aufhörte, ein außergewöhnliches Schauspiel darbot. Die
leuchtende Dame, deren Füße nach dem Zeugnis der kindlichen Zuschauer
den Boden nicht berührten, streifte nur die Spitzen des Grases und
entfernte sich von ihnen in einer Art von Gleiten, und nachdem sie den
Bach überquert hatte, der sie von dem steilen Abhang des Plateaus
trennte, begann sie jenen erstaunlichen schlängelnden Weg zu
beschreiben, der heute durch jene 14 Kreuze des Kreuzweges bezeichnet
ist, die in der durchscheinenden Betrachtung der blutigen Geheimnisse
sich zu überlagern scheinen.
Dieser einzigartige Kreuzweg war, wie alle diese Dinge, bei der
Erschaffung des Weltalls im voraus festgelegt worden. Er fügt sich in
das Ganze des göttlichen Planes ein, daß die Kniebeugen der letzten
christlichen Bewohner der Erde mit dieser Genauigkeit an diesem wüsten
Ort festgelegt wurden durch die Spur der leuchtenden Füße. Es ist nicht
gleichgültig, ob man sich hier oder sonstwo niederkniet. Die frommen
Seelen, die kommen, um in La Salette zu weinen, tun etwas, das sich
harmonisch in die Reiche der göttlichen Bestimmungen einschaltet, die
die Erlösung der Menschheit angehen. Ihre Tränen fallen auf diesen
auserwählten Boden wie eine Saat von vielen anderen Tränen, die, so
Gott will, eines Tages schließlich wie Wogen dort fluten.
"Der Abgrund der Tränen Mariens ruft den Abgrund unserer Tränen durch
die Stimme ihrer Fluten." Sie fordert uns heraus zu solchen Strömen,
wie ihr Sohn von der Höhe des Kreuzes herab sie selbst liebevoll zur
gänzlichen Verströmung ihres unvergleichlichen gebrochenen Herzens
herausforderte.
II. Der erhabene Sturzbach.
Ich komme auf meine Reise zurück. Also keine grausame Kutsche mehr, die
den ganzen Tag dahinrollte. Nur die Hälfte der vorigen Anstrengung, und
die andere Hälfte wie ein Traum. Oh, diese Eisenbahn am Rande der
Schlucht hin, während einer vollen Stunde. Welcher Rausch, so vor
Napoleon her zu reisen, der von Sisteron nach Grenoble marschierte über
Corps und La Mure: Corps vor allem, Erzpriester von La Salette!
Da es keinen Zufall gibt, kann man sich den "Adler" dieses Eroberers
vorstellen, der gegen Paris fliegt, von Kirchturm zu Kirchturm, aber
herabfliegend vor demjenigen von Corps, um 3o Jahre vor unserer Lieben
Frau zu rufen: "Meine Kinder, habt keine Angst, ich bin hier, um euch
eine große Botschaft zu verkünden!" Dann: "Ihr werdet sie zu meinem
Volk gelangen lassen!" Was tun, um nicht daran zu denken?
Der große Mann und seine treuen Begleiter schienen während zwanzig
Tagen ganz Frankreich zu sein, alles mögliche von Frankreich, alles
menschlich und göttlich Mögliche dieses himmlischen Vaterlands, dieser
ältesten Tochter des Gottessohnes und seiner Kirche, jener, die in
seiner Herzenswunde wohnt, die nicht tiefer fallen konnte, indem sie
die Magdalena der Nationen wurde.
Der arme entflohne Caesar, der unverbesserliche Bettler der allgemeinen
Herrschaft, verhüllte nach Art des Urbilds, ohne es zu wissen, die
unenthüllte Zukunft der Fluren und der Dörfer, die keine geschichtliche
Existenz haben konnten, es sei denn durch den Willen eines solchen
Passanten. Ich habe ihn da und dort gesucht, und ich gestehe, daß sein
Andenken mir mehr war als die ewigen Berge. Hat er sie überhaupt
gesehen? Hat er den Drac gesehen, den gewaltigen Sturzbach, den Ruhm
der Dauphiné? Ich bezweifle es. Ein Sturzbach läßt nur die anderen
Sturzbäche betrachten, und selbst der Berg ist für ihn nur ein
Hindernis, worüber er in der Tiefe brüllt. Als Wallfahrer nach La
Salette, und nichts als das, die Erwartung der Ehre, und auf der
heiligen Stätte hinknien zu dürfen, habe ich ihn aus der Nähe
betrachtet, diesen wütenden Sturzbach, mit seiner Bewunderung, die mich
erstickte. Wieviel Jahrhunderte hat dieses Wasser gebraucht, um sich
ein so breites Bett in dieser großartigen Einsamkeit zu graben? Während
unzähliger Jahre hat er schäumend an den Felsen nagen und Schlünde
aushöhlen müssen. Während Geschlechter geboren wurden und starben, im
Maße, wie sich die Geschichte abrollte, unter den Allobrogen und
Romanen, unter den Burgundern, den Franken oder den Sarazenen, unter
den Herren von Albon und den ersten Valois, während der gräßlichen
Religionskriege, während der Revolution, während des erstaunlichen
Empires, und bis in unsere Tage, wo Désirée erscheinen sollte,
zerbröckelte dieses immer junge Wasser die harten Steinschichten,
beschloß sie mit seinen Kieseln, höhlte an ihrem Grund die riesenhaften
Säulen aus, bildete den ununterbrochenen Abgrund, der diese Provinz der
Hochdauphiné in zwei zerteilt; das Leibgedinge der Ältesten
Frankreichs: der Grésivaudanen, der Royannès, Baronnies, Gapençois,
Embrunois, Briançonnais, von der Durance bis zur Isère, riesenhafte
Herde grüner Bergrücken oder kahler Berggipfel, deren Namen Gott allein
kennt.
Der Zug von Grenoble nach La Mure rollt - ich weiß nicht wieviel
Kilometer - entlang dieses gewaltigen Spalts, der vom Drac geschaffen
wurde, über dem zu hängen man den Eindruck hat. Lärm von unten, der
niemals aufhört und der plötzlich ungeheuer werden kann zur Zeit von
Regenfällen oder bei Schneeschmelze.
Ein mißgelaunter und einfallsloser Romanschreiber wollte sich vor
einigen Jahren für die gemeine Angst, die dieser Schrei aus dem Abgrund
ihm eingeflößt hatte, rächen. Dumm und niederträchtig bemühte er sich,
ihn durch seine Adjektive und bösartigen Bilder verächtlich zu machen;
er verglich dieses erhabene Wasser mit "einem schwachen, verdammten,
verdorbenen Fluß"! Dieser arme Mann, der den Feinden von La Salette
wohl sehr gefallen hat, tadelt natürlich die Berge und zeigt sich weit
davon entfernt, die Umstände und Einzelheiten der Erscheinung, die,
hätte man seinen Geschmack befragt, in einer Ebene, in der Nähe eines
Bahnhofs oder noch viel einfacher hätte stattfinden müssen. Am Tage des
Gerichts, rette uns, o Herr!
Ich hoffe, daß mir meine erschütterte Bewunderung dieses prächtigen
Schauspiels angerechnet wird. Warum möchte man, daß Gott nicht wie ein
anderer Künstler eifersüchtig auf sein Werk sei und wünsche, daß man es
bewundert? Spricht er nicht in jedem Augenblick von Seinen "heiligen
Bergen", die er in Seiner Kraft errichtet hat und deren Gipfel Ihm
gehören. "Ich bin der Herr, der alles schafft, und keiner ist mit mir."
Es handelt sich nicht um Berge der andern, sondern die Seinigen, und er
fordert, daß man Ihn anbetet, weil Er sie gemacht hat.
Gibt es eine Wallfahrt die ebenso wunderbar begleitet ward von der
Bewunderung des Reisenden? Ich glaube nicht. Ehemals war das nicht so.
Der Weg der Kutsche führte nicht so dicht am Abgrund her. Es hat dieser
einzigartigen Eisenbahn, dieses menschlichen Meisterwerks bedurft,
damit uns das Meisterwerk Gottes enthüllt wurde, das damals nur einigen
Bauern bekannt war. Ich habe es auf dem Rückweg wiedergesehen, diesmal
erhellt vom Vollmond, der seine Silberstrahlen über die gewaltige
Landschaft streute, und ich glaubte im Paradies zu sein.
III. Das Paradies.
Im Paradies! Wäre es nicht angebracht, ehe ich fortfahre, auf
irgendeine Art, so weit es sein kann, dieses Land des Friedens und
Lichts, diese Wohnung, diese Stadt der Erfrischung und der seligen
Tröstung zu erforschen, dieses irdische Paradies in den Himmeln?
Hier ist die Unzulänglichkeit der menschlichen Worte zum Weinen. Alles,
was nicht Körper, Raum und Zeit ist, ist so sehr unaussprechlich, daß
das Wort Gottes selbst, unser Herr Jesus Christus, niemals anders als
in Gleichnissen und Bildern davon gesprochen hat. Es ist das Los des
Menschen, daß er sein Herz nicht losreißen kann von dem herrlichen Ort
der Wonne, aus dem er schimpflich vertrieben wurde zu Beginn der
Zeiten. Er hat es nötig, daß das Paradies ein Ort sei, ein sehr hoher
oder sehr tiefer Ort, und im ersten Fall müssen wir sagen, daß die hl.
Jungfrau von dort herabgestiegen ist, um in La Salette zu weinen.
Melanie hat erzählt, daß sie zusammen mit Maximin am 19. September kurz
vor der Erscheinung ein kindliches Paradies errichtete: einen großen
Stein, den sie mit Blumen bedeckten. Auf diesem Paradies ließ sich die
Königin des Paradieses nieder, die Königin des Paradieses Henochs und
des guten Schachers; der unbegreifliche Schoß Abrahams, wohin der
unübertroffene Lehrer der Nationen entrückt wurde, um die
unenthüllbaren Geheimnisse zu vernehmen! - diese Königin wird angezogen
von der äußersten Kindlichkeit dieses Paradieses der kleinen
Hirtenkinder. "Sie hat in der ganzen Welt geschaut, und hat nichts
Geringeres gefunden. So hat sie wohl mich wählen müssen."
Das Paradies ist so sehr und auf so viele Weisen an der Schwelle des
Wunders von La Salette, daß es ebenso unmöglich ist, nicht davon zu
sprechen, wie davon ein gültiges Wort zu sagen. Dieses Paradies ist
ohne Zweifel die schöne Dame selbst, aber das ist zu leicht, so als
wenn man das Wesen Gottes durch die eine oder andere seiner
Eigenschaften verkünden wollte. Der Grund des Paradieses oder die Idee
des Paradieses, das ist die Vereinigung mit Gott schon im gegenwärtigen
Leben, d.h. die unendliche Herzensnot des Menschen und die Einheit mit
Gott im zukünftigen Leben, d.h. die Seligkeit. Deren Art und Weise ist
unendlich unbekannt und nicht auszudenken, aber man kann bis zu einem
gewissen Punkt den Geist befriedigen mit der sehr verständlichen
Hypothese eines ewigen Aufstiegs, eines Aufstiegs ohne Ende im Glauben,
in der Hoffnung, in der Liebe.
Unsagbarer Widerspruch! Man wird immer mehr glauben, und doch wissen,
daß man niemals verstehen wird; man wird immer mehr hoffen und dennoch
versichert sein, niemals zu erlangen; man wird immer mehr lieben, was
niemals besessen werden kann.
Es ist sicher, daß ich mich ausdrücke, wie ein Unvermögender. Ich rede
nach Menschenweise. Die Vereinigung mit Gott ist bei den Heiligen schon
im gegenwärtigen Leben verwirklicht und wird vollkommen erfüllt sofort
nach ihrer Geburt zum anderen Leben; aber das genügt ihnen nicht, und
das genügt auch Gott nich: Die innigste Vereinigung ist nicht genug,
die Einswerdung ist nötig, die auch niemals genug sein wird, so daß
Seligkeit nur begriffen oder vorgestellt werden kann als ein immer
lebhafterer, immer stürmischerer, entflammterer Aufstieg, nicht zu Gott
hin, sondern in Gott selbst, in das Wesen selbst des Unhßschreibbaren!
Ein göttlicher Sturmwind ohne Ende und Unterlaß, den die Kirche, wenn
sie zu Menschen spricht, gezwungen ist "ewige Ruhe" (requies aeterna!)
zu nennen!
Die entfesselte Schar des Heiligen ist vergleichbar einem Heer von
Stürmen, die sich auf Gott stürzen mit einer Heftigkeit, die fähig ist,
die Nebel zu zerreißen, und dies während der ganzen Ewigkeit ... Können
die astronomischen Träume hier brauchbar sein? Die unfaßbare Größe der
astronomischen Zahlen, die die erschreckende Riesenhaftigkeit von
Entfernung und Geschwindigkeit bezeichnen, könnten höchstens helfen,
die Unmöglichkeit ahnen zu lassen, zu verstehen, was Gott denen
bereitet hat, die ihn lieben. Man könnte sogar sagen, da es sich um
Unendliches und Ewiges handelt, daß es dort eine fortwährende
Beschleunigung jedes Sturmwindes geben muß, entsprechend der
betäubenden Vervielfältigung der Schwerkraft der fallenden Körper. Eine
verständliche Idee, und einfach, den Theoretikern die selige
Unbeweglichkeit darzustellen. Eine gelähmte Mystik, die eine sehr
widerliche Bilderfabrik ermutigt, zeigt die Heiligen in der feierlichen
Haltung, wie sie von den Instituten verbreitet wurde, unter dem
unbeweglichen Heiligenschein, den kein Windhauch jemals vom Platz
rücken wird, und zwischen dem Gold und Silber der Andachtsgegenstände,
die weder Rost noch Würmer verzehren. Denn das war die Auffassung vom
Paradies und dem Glück der Heiligen, wie sie die Katholiken im letzten
Jahrhundert sich bilden konnten, belehrt durch die Kopflosen, die der
Guillotine entgegangen waren.
Aber wie klar, beklagenswert schwach sind die literarischen Vergleiche
oder metaphysischen Vermutungen eines armen Schriftstellers, der über
das Unergründliche gebeugt ist und nicht einmal die Kraft der Intuition
erlangt, die er brauchte, um unter der Gefahr, vor Schreck zu sterben,
einen Augenblick den schwindelerregenden Abgrund der zeitgenössischen
Verständnislosigkeit zu erkennen. Gib ihnen die ewige Ruhe, Herr, d.h.
gib diesen Seelen, Herr, daß sie in den endlosen Kampf eintreten, wo
jeder von ihnen Dich wie ein umgekehrter Wasserfall ewig bestürmen
wird.
Eine liebe fromme Seele fragte dies: - Was wird bei diesem allgemeinen
Aufstieg aus den mittelmäßigen, den armen Menschen werden, die, da sie
nichts in dieser Welt für Gott getan haben, nichts destoweniger doch
durch die Wirkung einer unaussprechlichen Begegnung der Gerechtigkeit
und der Herrlichkeit gerettet wurden? Was wird aus ihnen werden, jenen,
die, nachdem sie die schönen Dinge der Erde geliebt haben, die
Dichtung, die Kunst, den Krieg, selbst die Sinnenlust, sich plötzlich,
von Angesicht zu Angesicht, dem Absoluten gegenüber befinden, die
nichts vorbereitet haben für diesen Übergang, und trotz ihrer leeren
Hände gerettet werden? Sie müssen dann unter Strafe ewiger Erschöpfung,
sofort und absolut verwirklichen, was ihnen fehlt; und die Weisheit hat
dafür vorgesorgt. Einem Geier gleich werden jene, die sie wahrhaft
geliebt haben, die Schönheit hinwegreißen, endlos, um sie für immer zu
verschlingen.
Sicherlich wird es so sein, und mehr als ein Dichter wird,ohne es zu
wissen erstaunt sein, so sehr ein Freund Gottes gewesen zu sein. Aber
wird er wegen der Übertretung der Gebote mit den Mittelmäßigen zusammen
kommen? Diese Strafe wäre gewaltig und der Gedanke daran ungeheuerlich.
Die sehr wahrscheinliche Wahrheit ist, daß die einen und die andern den
Platz einnehmen, der ihnen zukommt, mit bewundernswerter Abgrenzung.
Und also wird es einen Himmel unvorstellbar unterschiedlicher Pracht
geben. Die Heiligen werden zu Gott emporsteigen wie der Blitz, von dem
sie voraussetzen, daß er sich durch Jahrhunderte hindurch in jeder
Sekunde vervielfältigt und ihre Liebe immer noch vergrößert zugleich
mit ihrer Pracht. Unaussprechliche Sterne werden jenen nur in weiter
Ferne folgen, die nichts gekannt haben als das Angesicht Jesu Christi
und die von seinem Herzen nichts wissen: Was die anderen angeht, die
armen Christen, die man die praktizierenden nennt, die Beobachter des
einfachen Buchstabens, aber nicht verkehrt, sondern einer gewissen
Großmut fähig; sie werden, da sie nicht verloren sind, ihrerseits den
Mi Harden von Sternenheeren folgen, da sie im voraus ihren Platz mit
einem nicht auszusprechenden Preis bezahlt haben: froh trotzdem -,
unendlich froher als es die seltensten Verzeichnisse der
Glücksmöglichkeiten sagen könnten - froh gerade über die
unvergleichliche Herrlichkeit ihrer Ältesten, froh in der Tiefe und der
Weite, froh wie der Herr, als er die Schöpfung der Welt beendet hatte.
Und alle, ich habe es gesagt, werden zusammen emporsteigen wie ein
Sturm ohne Unterbrechung, der glückselige Sturm des endlosen Endes der
Enden, ein Anstieg von Liebesstürmen, und so wird der Garten der Wonne
sein, das unaussprechliche Paradies, wie es in der hl. Schrift genannt
wird.
Ich habe an das Paradies von Melanie und Maximin erinnert. Hier ist das
meinige, so wie es ist. Könnte es, wie das ihrige, die Jungfrau Maria
veranlassen, zu mir herniederzusteigen!
IV. Louis Philipp, den 19. September 1846
Es ist ungefähr halb 3 Uhr. Der König, die Königin, die Prinzessin
Adelaide, der Herzog und die Herzogin von Nemours, der Prinz Philipp
von Württemberg und der Graf von Eu, begleitet von dem Herrn Minister
des Öffentlichen Unterrichts, den Herrn Generälen von Chabannes, von
Lagrange, von Ressigny, dem Herrn Oberst Dumas und mehreren
Ordonanzoffizieren gehen aus, um einen Spaziergang im Park zu machen.
Nach dem Spaziergang kehren die Majestäten und ihre Hoheiten gegen 5
Uhr ins Schloß zurück, um zu speisen - in Erwartung des Feuerwerkes am
Abend.
So meldet ein Korrespondent voller Eifer in einer Depesche, datiert von
Ferté- Vidame, dem "Moniteur universel" das beachtenswerteste
Tagesereignis des 19. September 1846.
Ich bin zum Glück imstande, mich an dieses V/eltereignis' zu erinnern,
das vergessen zu sein scheint. Im Abstand von mehr als 6o Jahren ist es
nicht ohne Interesse, aus der Vorstellungskraft oder der Erinnerung
diesen Spaziergang des Julikönigs, begleitet von seiner Sippschaft, in
dem vornehmen Park nachzuvollziehen - unternommen in der Absicht, sich
Appetit fürs Abendessen zu verschaffen und sich beim einfachen Anblick
der Natur vorzubereiten auf die städtische Prachtentfaltung beim
Feuerwerk.
Dieses historische Vergnügen sei zum Vergleich jenem anderen
königlichen Spaziergang gegenüber gestellt, der im gleichen Augenblick
auf dem Berg von La Salette unternommen wurde: dieser Vergleich muß, so
glaube ich, Anlaß genug sein, darüber nachzudenken. Der wahrhaft
biblische Gegensatz eines solchen Vergleichs kann das bereits
mittelmäßige Ansehen jenes Herrschers ohne Ruhm nicht erhöhen, der aus
dem liberalen Morast von 1830 hervorgegangen war und dem vorherbestimmt
war, ohne Glanz im wirtschaftlichen Sumpf von 1848 zu enden. Es wäre
wert zu wissen, was sich in der Seele des 'Bürgerkönigs' abspielte - im
gleichen Augenblick, da die Herrin des Himmels ganz in Tränen an einem
unbekannten Ort dieses schönen, jedoch verkommenen und unter der
verworfenen Regierung dieses würdelosen Herrschers sterbenden
Frankreichs sich den Kindern offenbarte.
Er ging unter den Platanen oder Kastanienbäumen und träumte oder sprach
von den großen Dingen einer 16-jährigen Regierung und. den prächtigen
Ergebnissen einer Musterverwaltung, von jenem Ehrenfanatismus, der
früher das großzügige Streben des revolutionären Liberalismus lähmte.
Alles ging nach Wunsch, drinnen wie draußen. Durch eine Verbesserung,
die berühmt geblieben ist in den verschwenderischen Parlamenten,
behauptete der Graf von Morny, daß die Körperschaften des Staates
befriedigt seien. Gott und der Papst waren in passender Weise beteiligt
worden, der niederträchtige Jesuitismus war dabei, den letzten Atem zu
tun, und das brave Land hatte keinen anderen Wunsch mehr als zu sehen,
wie das nicht erhoffte Glück dieser bewunderungswürdigen Regierung -
unter einem so wohltuenden Herrscher! - ewig bestehen bleiben würde.
Man werde endlich Spanien heiraten und unermeßlich groß werden. Nach
dem Beispiel Karls V. und Napoleons konnte der Stammvater des Hauses
Orléans nach der Weltherrschaft greifen. Der Wurf der Jagdhündin war
entsprechend gewachsen, und ihre Hoheiten scharwenzelten vornehm um
seine Majestät in der herbstlichen Brise dieses heiteren
Septembertages. Der König der Franzosen konnte sagen wie der Prophet
des Landes Hus: "Ich werde in dem Bett sterben, das ich mir gemacht
habe, und ich werde meine Tage vervielfältigen wie der Palmbaum; ich
bin wie da: Baum, dessen Wurzeln sich längs der Wasser ausbreiten, und
der Tau wird auf meine Zweige herabfallen. Mein Ruhm wird 6Ãch von Tag
zu Tag mehren, und mein Bogen in meiner Hand wird immer mehr an Kraft
gewinnen." (Job XXIX,18-2o)
Zweihundert Meilen weiter weint die Mutter Gottes bitterlich über ihr
Volk. Wenn ihre Majestät und die Hoheiten sich nur einen Augenblick
darauf besonnen hätten, die Haltung einzunehmen, die ihnen gemäß
gewesen wäre, sich nämlich auf die Erde zu werfen und ihre - bis zu
diesem Tage - unaufmerksamen Ohren der Erde genähert hätten, dann hätte
ihnen vielleicht dieses demütige und treue Wesen etwas von den
Drohungen und dem Schluchzen von ferne zugraunt, das sie hätte
erbleichen lassen. Vielleicht wäre dann das Abendessen ohne Trunkenheit
und das Feuerwerk ohne Hoffnung verlaufen....
Während der Orléanismus sich am Abend alles Gute wünscht, haben sich
die beiden Hirtenkinder als auserwählt gesehen, alle Majestäten,
triumphierende oder abgesetzte, lebende oder verstorbene zu vertreten,
uri sich Ihrer Königin :genähert. In diesem Augenblick erhebt die
schmerzhafte Mutter ihre Stimme über den undeutlichen Gesang des
'Hymnus der Schwerter', der in zehntausend Kirchen Ihr zur Ehre
gesungen wird: Wenn mein Volk sich nicht unterwerfen will, muß ich den
Arm meines Sohnes fallen lassen.
V. Absicht des Verfassers. Wunder der allgemeinen Gleichgültigkeit.
Die Absicht dieses Werkes, klar angegeben in der Einleitung, ist es
nicht, einen Bericht über das Wunder von La Salette zu geben. Der ist
so oft gemacht worden, daß die Christen unentschuldbar sind, wenn sie
ihn nicht kennen. Herangewachsen haben ihn die beiden Hirtenkinder
selbst geschrieben und veröffentlicht, und ihre Erzählungen, die
überall verbreitet werden sollten, decken sich hinsichtlich der
Umstände des Ereignisses und des Wortlautes der offenen Mitteilungen.
Was die Geheimnisse angeht, so hat nur Melanie das ihrige verbreitet,
aber dabei für den obersten Bischof (den hl. Vater!) die Regel eines
neuen religiösen Ordens, des Ordens der Apostel der letzten Zeiten,
zurückbehalten; die Regel dafür hatte ihr Maria gegeben. Diese
Ordensgründung war bereits im 17. Jahrhundert klar durch den
ehrwürdigen Grignan von Montfort prophezeit worden.
Da ich nicht für die Menge schreibe, wende ich mich ausschließlich an
jene, die die Tatsachen von La Salette kennen, überzeugt, daß die
anderen sich nicht dafür interessieren! Ich will hauptsächlich, so gut
ich das kann, auf das Wunder hinweisen, das dann folgte und das
vielleicht noch größer ist als das Wunder der Erscheinung^ selbst - das
sicherlich unglaubliche Wunder der allgemeinen Gleichgültigkeit oder
der Feindseligkeiten einer so großen Menge.
Diese kindlichen Stimmen, die von den Alpen herabkkmen, sollten
eigentlich anwachsen wie eine Lawine und die Erde erfüllen; aber was
man tun konnte, tat man, um sie zu ersticken: "Laßt dies zu meinem
Volke gelangen!" hatte die Herrin gesagt. Selbst die Juden hätten sich
gewundert über einen solch vollkommenen Ungehorsam. Die ersten
Seelenhirten sind nicht auf ihre Kanzeln gestiegen, um ihrmDiözesanen
die große Botschaft zu verkünden, die Prediger und Missionare von
keinem Institut haben sich mit Begeisterung daran gemacht, den
Unwissendsten die Versprechungen und Drohungen bekannt zu machen.
Mehrere taten das Gegenteil mit einer teuflischen Bosheit. Die fast
göttlichen Worte, die aus jenem Munde kamen, der das "Fiat" der
Menschwerdung sprach, diese so schrecklichen und mütterlichen Worte -
man hat sie nicht in den Schulen gelehrt, und die Kinder im gleichen
Alter wie die Hirtenkinder haben sie nicht gelernt. Man weiß ungefähr
überall, aber unbestimmt, daß La Salette existiert, daß die hl.
Jungfrau sich dort auf irgendeine Weise gezeigt hat. Einige Personen
wissen sogar, daß die Entweihung des Sonntags und das Fluchen von ihr
besonders verurteilt wurden. Aber den Wortlaut der Rede, den findet man
in keiner Erinnerung und in keiner Hand. Was die Geheimnisse betrifft,
von denen will man nicht einmal etwas hören.
Das würde Furcht bereiten! Jesus Christus duldet, daß man Ihn verachtet
und beleidigt. Man ist schon im 20. Jahrhundert der Faustschläge und
der Anspeiungen, die ohne Unterlaß seit über tausend Jahren auf Sein
unendlich heiliges Antlitz fallen und damit nur das begründen, was man
das christliche Zeitalter nennt. Aber er wird nicht dulden, daß Seine
Mutter verachtet wird, Seine Mutter in Tränen ... Jene, von der die
Kirche singt, daß sie "vor den Bergen und Abgründen und vor dem
Ausbruch der Quellen empfangen war", jene "mystische Stadt Gottes
voller Volk, in der Einsamkeit sitzend und weinend, ohne daß jemand da
wäre, der sie tröstet", diese seufzende "Taube in der Felsenhöhle
versteckt", sie, die Königin der Himmel, weinend wie eine Verlassene in
dieser Felsspalte, die sich fast nicht aufrecht halten kann vor
Schmerz, nachdem sie auf dem anderen Berg so stark gewesen ist ...
Allein auf diesem geheimnisvoll zubereiteten Felsen, der an den anderen
Felsen denken läßt, auf dem die Kirche erbaut ist; die Brust bedeckt
mit den Marterwerkzeugen ihres Kindes und weinend, wie man seit
zweitausend Jahren nicht mehr geweint hat: "Seither leide ich für euch,
für euch, die ihr euch nichts daraus macht" sagt sie. Man stelle sich
diese Schmerzensmutter vor, wie sie weinend auf jenem Stein sitzt,
immerfort schluchzt in dieser Schlucht und niemals mehr aufsteht bis
zum Ende der Welt! Auf diese Weise wird man vielleicht etwas verstehen
von dem, was ewig besteht unter dem Auge dessen, dessen Mutter sie ist
und für den nichts vergangen noch zukünftig ist. Dann versuche man, die
Macht dieses fortdauernden Wehklagens einer solchen Mutter gegenüber
einem solchen Sohn zu ermessen, und gleichzeitig die unaussprechliche
Empörung eines solchen Sohnes über diejenigen, die die Tränen einer
solchen Mutter verursachen! Alles, was man dazu sagen oder schreiben
kann, ist noch weniger als nichts ...
VI. Mißerfolg Gottes. Scheitern der Erlösung.
Der schmerzlichste Seufzer seit dem "Consummatum".
Soweit also sind wir schon! Die Tränen Mariens und ihre Worte sind
sechzig Jahre lang so vollkommen verheimlicht worden, daß die
Christenheit sie nicht mehr kennt. Den schrecklichen Zorn ihres Sohnes
ahnt man nicht, nicht einmal die, die Sein Fleisch essen und Sein Blut
trinken. Die Welt geht ihren Lauf. Indessen versichern zahlreiche und
seltsam übereinstimmende Prophezeiungen, daß unser Zeitalter zur
Befriedigung der Rache Gottes ausersehen ist, was in einer Flut von
Katastrophen geschehen wird. Dies nur zu ahnen oder zu erraten, könnte
die Köpfe und selbst Welten herumreißen.
Die Ungeheuerlichkeit der Situation brauchte die Kraft der Schau eines
Erzengels. Neunzehn volle Jahrhunderte Christentum, so zu sagen hundert
Generationen, besprengt mit dem Blute Christi! Und mit welchem
Ergebnis? Das 2o. Jahrhundert kann es sich mit Schaudern fragen. Der
wilde Optimismus, der vermutet, das Evangelium werde von nun an allen
Völkern verkündet werden, kann nur in einer einfältigen Presse genährt
werden oder in den untersten Grundschulklassen, bevor die Grundlagen
der armseligsten Geographie gelegt sind. Die nur allzu große Gewißheit
ist die, daß von den vierzehn- oder fünfzehnhundert Millionen
menschlichen Wesen, die den Erdball bevölkern, höchstens ein Drittel
den Namen Jesu Christi kennen, und wiederum neunundneunzig Prozent
davon kennen ihn umsonst! Was die Qualität der übrigen betrifft, das
ist eine unendlich geheimnisvolle Schande, vergleichbar nur der
unbegreiflichen Siebenzahl der Schmerzens des Mitleidens Mariens.
Die augenscheinlichste Wirklichkeit ist die: Gottes Mißerfolg auf
Erden, das Scheitern der Erlösung. Die sichtbaren Ergebnisse sind von
solch erschreckender Bedeutungslosigkeit, und werden es jeden Tag mehr,
daß man sich als Tor fragt, ob der Herr abgedankt hat. "Que utilitas in
sanguine meo, dum descendo in corruptionem?" (Welcher Nutzen in meinem
Blut, da ich in das Verderben niedersteige?) Das ist die Todesangst des
Ölgartens, so wie die Ekstatiker sie gesehen haben. Ach, das war wohl
die Pein, so sehr zu bluten und zu seufzen, soviele Ohrfeigen und
Anspeiungen zu erhalten, so viele Peitschenhiebe, so schrecklich
gekreuzigt zu werden! Das war wohl die Pein, Gottes Sohn zu sein und
als Menschensohn zu sterben, um nach neunzehn Jahrhunderten im
gegenwärtigen Katholizismus von allen Dämonen mit Füßen getreten zu
werden.
Ich weiß, daß es Heilige gegeben hat, einen vielleicht auf zehn
Millionen Bewohner, ehedem vor allem, und es scheint, daß dies Gott
genügt, wenigstens einstweilen. Aber wie könnte dies uns genügen und
zufrieden stellen, unsj die die Gründe dieser anscheinenden
Genügsamkeit Gottes nicht kennen? Man sagt uns - und mit welcher
Strenge! -, daß jeder, der nicht zur Kirche gehört, verloren geht. Nun
werden jeden Tag weit mehr als looooo Menschen geboren, die niemals von
der Kirche noch von irgendeinem Gott hören, selbst in der angeblich
christlichen Welt, und die man von der Wiege an verderben läßt ... Ich
habe lange und schmerzliche Monate in einem der drei skandinavischen
Ländern unter Lutheranern gelebt und habe dort die Unmöglichkeit
erfahren, die Wahrheit kennen zu lernen; sie ist dort hundertmal größer
als bei den wirklichen Heiden. Gott weiß jedoch, daß Sein furchtbarer
Name dort ausgesprochen wird.
Was ist nach all dem von den zahllosen Götzendienern zu sagen? und es
wäre unfair, unter diese nicht auch all die traditionellen Katholiken
zu zählen, die sich hinter der unangreifbaren Gewißheit verschanzen,
sie seien schon gesiebt: auserlesenes Korn; Korn für Korn, wie der
eucharistische Weizen, und die Buße sei nichts für sie. Diese vor allem
sind es, die einen so erschrecken. Die einfachen Wilden Afrikas oder
Polynesiens, die menschlichen Früchte der häßlichen asiatischen Kultur,
die ungeheuren Vielförmigkeiten der heruntergekommenen Geistigkeit, der
entarteten Vernunft: all diese Unglücklichen haben ihre Götter aus Holz
oder Stein, von denen einige so teuflisch und so schwarz sind, daß man
nicht mehr lachen noch weinen kann, wenn man sie gesehen hat. Indessen
sollte Jesus auf seinem Kreuz gezeigt werden, so würden die Abgründe in
den meisten von ihnen sofort ausgefüllt werden.
Das Idol der ehrenwerten Katholiken, von denen ich sprechen muß, ist
genau dasselbe Kreuz, aber es wird von ihnen auf die Schultern und das
Herz des Armen gelegt. Sie würden sich weigern, wenn sie es selbst
tragen müßten. Auf diesem Platz jedoch beten sie es an, und "der
Schweiß Jesu fließt in Bluttrapfen zur Erde." So hat er nicht jeder
Nation getan! - Du hast es selbst gesagt, Herr. Wir sind die
auserwählte Nation, die bevorzugte Herde. Für uns bist Du gestorben,
und man muß uns nur leben lassen. Einst bedurfte es der Märtyrer und
Büßer, um uns diese geistliche und materielle Behaglichkeit
einzurichten, die wahrscheinlich der Spiegel der Engel ist. Was haben
wir besseres zu tun, als großzügig und mild gegen uns selbst zu sein
und uns Deiner Gaben zu erfreuen und dabei, wie es sich gehört,
Prophezeiungen und Drohungen zu verachten, die unsere Seelenhirten
zudem noch mißbilligen? Offensichtlich sagt Unsere liebe Frau von La
Salette nichts, und sie hat auch zu solchen Christen nichts zu sagen.
Muß also die Mutter Gottes vergeblich auf den Bergen einherschreiten?
Die Worte von La Salette sind der schmerzlichste Seufzer, der seit dem
"Consummatum" (es ist vollbracht) gehört wurde. Wer wagte zu sagen, daß
die Jungfrau "glückselig" ist, die das Blut ihres Sohnes vergeblich
fließen sieht seit so vielen Jahrhunderten, und wo ist der Seraphim,
der diese Betrübnis beendet?
VII. Allgemeine Verweigerung der Buße. -
Sieh, Melanie, was sie aus unserer Wüste gemacht haben! Ridebo et subsannabo ...
"Der Ort, auf dem du stehst, ist heiliges Land"... so wurde es Moses
auf dem Horeb, dem Berg Gottes, gesagt. Ich habe dieses Wort auf den
Mauern der Hotels von La Salette gefunden. Sicherlich ist es dort an
seinem Platz; aber es fehlt der volle Text: "Löse die Schuhe von deinen
Füßen!"
Es würde niemand mehr kommen. Denn das wäre wirkliche Buße! Es handelt
sich nicht nur um die Füße! Es ist unerläßlich, den Geist und das Herz
freizumachen. Doch da sähe man die ganze Welt auf der Flucht. Die
angeblichen Missionare und nach ihnen die gegenwärtigen Kapläne haben
das vorausgesehen. Ne quid nimis! Keine Übertreibungen! Weit davon
entfernt, zuviel zu fordern, beschloß man, gar nichts zu fordern, und
das Ergebnis übertraf alle Erwartungen. "Drohungen im Munde Mariens,
die so gütig und mild ist?" sagte mir neulich eine junge Mutter,
"Drohungen gegen schwache, unschuldige und reine Kinder! und
Todesdrohungen, schreckliche Todesdrohungen! ... Nein, nein ... Maria
ist Mutter, sie hat sie nicht aussprechen können. Sie kann nur lieben,
Rache paßt nicht zu ihr, und ich möchte die Seite verbrennen, wo man es
wagt, ihr diese Sprache zu leihen: Die Kinder unter sieben Jahren
werden von einem Zittern befallen werden und in den Armen ihrer Mütter
sterben, die sie halten. - Ich an eine solche Erscheinung glauben?"
wiederholte sie und drückte dabei ihr Kind an ihr Herz. "Nein, nein,
mein armer Kleiner! Niemals wird eine solche Frömmigkeit die meinige
sein, denn es ist Schrecken, und nicht Liebe, was sie einflößt ..."
(Echo de la Sainte Montagne par Mlle. des Boulais, Nantes 1854)
Dieser Zucker wurde dem Essig und der Galle von Golgatha beigefügt, und
das Meer von Marias Tränen verlor seine Bitterkeit. Der Effekt war sehr
leicht zu erreichen. Es genügte, die Botschaft zu zergliedern, indem
man das, was bedingt war, trennte von dem, was es nicht war; z.B. die
öffentliche Rede von dem Geheimnis, das Melanie anvertraut wurde, um es
zwölf Jahre später au veröffentlicheh. Aber diese Trennung bedeut den
Tod. So lange das Geheimnis nicht veröffentlicht worden war, konnte man
noch annehmen, es sei vereinbar mit all den üblichen Sentimentalitäten.
Man gab zu, daß es existiere. Als es aber bekannt wurde, beschloß man,
es zu verschweigen. Da es die Seele der Botschaft von La Salétte war,
wurde auch diese ganze Botschaft so vollkommen getötet, wie etwas
getötet werden kann, was von Gott ist. Seine Annahme im 19. oder 20.
Jahrhundert - wäre es das der Mutter Gottes geworden! -, hätte die
Möglichkeit für eine Art genateoer Apokalypse, einer Erweiterung oder
Enthüllung des 24. Kapitels von Isaias gegeben: Ecce Dominus dissipabit
terram. (Siehe, der Herr wird die Erde zerstreuen.) Diese Dinge sind
nicht erlaubt, nicht einmal Gott, der sein Evangelium abgeschlossen
hat, nicht wahr? und der nicht ein Jota der Offenbarung hinzufügen
darf, deren Verwaltung die Kirche hat. Das würde die Seelen zu sehr
überfordern, und die zwei Zeugen der Königin der Märtyrer, die beiden
Hirtenkinder, haben es zu ihrem Schaden erfahren müssen.
"Dieser Ort, wo du stehst, ist heilige Erde" - lästiges Wort! Welcher
Art mußten Melanies Gefühle sein, als sie nach so vielen Jahren
schmerzlichen Wanderns im Alter von 71 Jahren am 19. September 1902,
dem 56. Jahrestag der Erscheinung, nach La Salette zurückkam! Es blieb
ihr nur noch kurze Zeit zu leiden, und gewisse Dinge, die die Menschen
nicht hören würden, mußten diesem außerordentlichen Mädchen noch gesagt
werden. Von allen Punkten ihres Berges, der kostbarer war als Diamant,
sollte eine Stimme erklingen für sie allein, eine unendlich milde und
klagende Stimme: "Sieh, Melanie, was man aus unserer Einöde gemacht
hat! Früher, du erinnerst dich, hörte man nur die Klage der Herden und
das Schluchzen der Wasser. Ich, die Mutter Gottes, gezeuget vor den
Hügeln und Quellen, ich erwartete dich schon immer. Ich erwartete auch
deinen kleinen Gefährten, Maximin, der seit 27 Jahren mein Gefährte im
Paradies geworden ist. Denn ihr, meine lieben Kinder, wart für mich die
ganze menschliche Familie. Ich hatte euch - und keine anderen -
erwählt, die Notare meines Testaments zu sein. Allein inmitten der
Berge, in der Nachbarschaft des guten Bergbachs hörte ich Tropfen für
Tropfen das Blut meines Sohnes auf die Nationen fallen. Ich habe dich
die Unermeßlichkeit dieser Pein sehen lassen, die die Heiligen die
ganze Ewigkeit hindurch in Erstaunen setzen wird. Ein solches Kind
geschenkt zu haben für so wenige! Wenn du wüßtest! ... Seit so vielen
Jahrhunderten habe ich von hier aus eine große Zahl von Reichen
zerfallen sehen, von denen sich mehrere christlich nannten und die im
Luxus oder im Gemetzel untergingen. Kaum jemals hatte ein Mensch aus
der ganzen Menge ein Gefühl des Mitleids mit seinem Retter. Von Osten
bis Westen besteht eine rote Mauer, die seit mehr als tausend Jahren
die Hälfte des Himmels verdeckt. Die Verfolgungen, die Kriege, die
Sklavereien, alle Plagen der Begierden und des Stolzes. Und das war die
Zeit der Heiligen! Heute ist die Zeit der lauen und matten Dämonen, die
Zeit der Christen ohne Glauben, der freundlichen Christen - mit einer
Synagoge im Kopf und einem Blutbad im Herzen. Es gibt ja noch solche,
die bereit sind, ihr Blut zu vergießen, die aber dennoch fest
entschlossen sind, das Elend und die Schande nicht anzunehmen. Das sind
noch die heroischsten, und "deren gibt es nur wenige. Ich sage dir, die
grausamsten Henker meines Sohnes sind immer seine sog. Freunde, seine
Brüder, seine kostbaren Vereinsmitglieder gewesen, und niemals wurde
Gott schlimmer beleidigt als durch die Christen; du hast es oft gesagt,
Melanie; jetzt sind es 56 Jahre her, daß ich nicht mehr den Arm meines
Sohnes zurückhalten kann. Ich habe ihn indessen zurückgehalten, weil
ich die eherne Frau bin, aber ich werde bald aufhören. Man muß es sich
schon merken: Ich muß doppelt stark sein, weij. Er auf mich zählt. Sein
zu mildes Herz rechnet mit dem meinigen. Er weiß, ich bin unerbittlich:
"Maledictio matris eradicai fundamenta - In intertiu vestro, ridebo et
subsannabo. Ich werde in Lachen ausbrechen und mich über euch lustig
machen, wenn ihr in den Schrecken des Todes seid." Diese Worte werden
sich genau erfüllen. Spott für Spott. Ich habe euch 1846 die letzte
Warnung gegeben. Es ist die Hoffnung und der Wille des Gottessohnes,
durch seine Mutter gerächt zu werden.
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