ERNEST HELLO: "DU WIRST ZORNIG..." (SCHEIN UND WIRKLICHKEIT, S.210)
"Du wirst zornig, also hast du Unrecht", sagt ein alter Schriftsteller.
Dieses Wort ist ebenso falsch wie berühmt. Der Mensch, der zornig wird,
hat oft recht. Ich möchte viel lieber sagen: "Du wirst zornig, also
liebst du." Der Mensch, der sich hinreißen läßt, ist fast immer ein
Mensch, der viel liebt. Es ist der Zorn der Liebe, hat wiederum Joseph
de Maistre gesagt. Der Mensch, der heftig streitet, der den Gegner mit
seinen Anklagen verfolgt, der mit aller Gewalt die Stellung im Sturm
erobern, der bekehren, überzeugen will, dieser Mensch ist voller Liebe.
Die scheinbare Wut gegen dich, die er bekundet, ist nur der glühende
Wunsch, sich mit dir zu verbinden, dich mit fortzureißen in die Region
des Friedens und des Sieges. Wenn du ihn durchaus zurückstößt, so wird
er schließlich schweigen. Dann aber wird er nicht mehr lieben. Im Kampf
der Geister wirft man dem Menschen, der sich zu erhitzen droht, vor,
daß der Haß ihn treibt, aber er wird getrieben von der Liebe. Wer
vollkommene Mäßigung bewahrt, wer kein unvorsichtiges, kein übereiltes
Wort sich entschlüpfen läßt, wer untadelig bleibt in Sprache und
Haltung, ist oft ein Mensch, der nicht liebt. Der andere gab sich hin,
dieser hält sich zurück und der scheint milde, weil er gleichgültig
ist. Der Haß ist nicht Heftigkeit, der Haß verschweigt. Der Haß ist
nicht Hitze, sondern Kälte. Wer liebt, der spricht, wie auch der, der
glaubt. |