LEO I. - DER GROSSE
PAPST AN DER SCHWELLE EINES NEUEN ZEITALTERS
von
Eugen Golla
Die Kirche ist gegenüber ihren Päpsten mit dem Beinamen "der Große"
nicht freigebig, obwohl sich unter ihnen über 70 Heilige befinden und
imponierende Herrschergestalten wie ein Innozenz III. oder Sixtus V.,
gingen nur zwei mit dieser Auszeichnung in die Geschichte ein: Leo I.
und Gregor I. Beide haben - abgesehen von ihrem heiligmäßigen Wandel -
dem Papsttum für alle Zeiten das ihm zustehende Ansehen gesichert. Auch
nicht auf dem Boden des katholischen Glaubens stehende Historiker
müssen die Männer, welche seit Leo dem Großen auf dem Stuhle Petri
saßen, als Päpste bezeichnen, und nicht mehr als bloße "Bischöfe von
Rom".
Es war eine unruhige Zeit, als 440 für die Kirche ein neues Oberhaupt
zu wählen war. Die Völkerwanderung ging ihrem Höhepunkt entgegen;
Hunnen, Goten und Vandalen überfluteten Europa, das nur e i n e n
Staat hatte, der wenigstens teilweise Widerstand leisten konnte: das
Imperium Romanum, dessen Westhälfte allerdings bald die Beute der
jungen, kraftvollen Völker werden sollte. Auch für die Kirche waren die
etwas mehr als hundert Jahre seit ihrem Aufstieg aus den Katakomben
eine harte Periode der Bewährung. Neben Licht- hatte es auch viele
Schattenseiten gegeben: aus der Kirche der Märtyrer war eine Kirche des
Staates geworden, und christliche Kaiser, die ihre eigene Meinung in
Glaubenssachen äußerten, konnten ihr ebenso gefährlich werden, ja
vielleicht sogar nach gefährlicher, als ihre heidnischen Vorgänger.
Dies zeigte sich schon in der Zeit des Arianismus und wiederum einige
Jahre vor Leos Amtsantritt, als der Patriarch von Konstantinopel,
Nestorius, lehrte, daß niemand die seligste Jungfrau Mutter Gottes
nennen dürfe. Es sei nämlich unmöglich, daß Gott von einem Weibe
geboren werde, sondern man müsse sie nur die Mutter Jesu nennen,
welcher nach seiner Geburt durch seine guten Werke verdient habe, mit
dem Worte vereinigt zu werden - nicht durch persönliche Vereinigung,
sondern durch eine Innewohnung der Gottheit in der Menschheit.
Es war ein Triumph für den wahren Glauben, als 431 das Konzil von
Ephesus diese falsche Lehre abwies und entschied, daß der Jungfrau
Maria der Titel "Mutter Gottes" gebühre. Nicht unerwähnt soll bleiben,
daß die Laien es waren, die durch ihre zeitweise sogar drohende
Stellungnahme gegen Nestorius den Kaiser zwangen, ihn fallen zu lassen.
Hier haben wir ein weiteres Beispiel für den während des Arianismus
einst so ausschlaggebenden "Consensus fidelium" (Übereinstimmung der
Gläubigen).
Gottes Vorsehung war es, daß nun 440 der etwa 50-jährige Archidiakon
Leo, der sich schon lange in wichtigen Missionen bewährt hatte, der
Stellvertreter Christi wurde - ein Mann, nicht nur stark im Glauben,
sondern auch gewandt als Kirchenfürst und Politiker. Von Anfang an sah
er seine Hauptaufgabe darin, gegen verschiedene, im weströmischen Reich
verbreitete Häresien energisch einzuschreiten. So ergriff er gegen den
Manichäismus, eine schon im 3. Jahrhundert entstandene gnostische
Religion, die schnell in der damals bekannten Welt Anhänger gefunden
hatte und vor allem vom hl. Augustinus bekämpft wurde, scharfe
Maßregeln, zumal sich die Anhänger dieser Sekte oft als Katholiken
tarnten. Auch gegen die Pelagianer, welche die Erbsünde und die
Notwendigkeit der Gnade zur Beobachtung des Sittengesetzes leugneten,
sowie die Priszillianer in Spanien, ging er kompromißlos vor.
Am großartigsten zeigte sich sein Kampf für die Erhaltung des wahren
Glaubens in den sich weiter fortsetzenden christologischen
Streitigkeiten im Byzantinischen Reiche. Für den griechischen Geist war
die so schwierig zu fassende Einheit von Gott und Mensch, kraft deren
Gott Mensch wurde und dieser Mensch zugleich Gott ist, eine ständige
Herausforderung zur Spekulation. Kein Wunder, daß man daher bei der
Widerlegung der Nestorianer bald in das entgegengesetzte Extrem
verfiel. Hauptvertreter dieser neuen Häresie wurde der am Kaiserhofe
sehr angesehene Archimandrit (d.i. Abt) Eutyches. Die von ihm
vertretene Lehre des Monophysitismus erkennt zwar an, daß Christus aus
zwei Naturen gebildet wurde; aber nach seiner Menschwerdung könne nur
noch von e i n e r Natur die Rede sein, denn der Leib Christi sei nicht
mehr dem unseren wesensgleich, sondern er sei ein vergotteter geworden.
Eutyches wurde deshalb auf einer vom Patriarchen von Konstantinopel,
Flavian, einberufenen Synode aus der Kirche ausgeschlossen und wandte
sich klagend an Papst Leo. Dieser, vom Kaiser Theodosius parteiisch
vorab unterrichtet, tadelte zunächst Flavian wegen der seiner Meinung
nach vorschnell erfolgten Exkommunikation des Eutyches. Sobald ihm aber
der wahre Sachverhalt bekannt wurde, erläuterte er in seinem berühmten
Brief an Flavian - unter Einbeziehung vieler Stellen aus den
Kirchenvätern - die katholische Lehre über die Menschwerdung und das
Erlösungswerk Christi und zögerte nicht, die Ansichten des Eutyches zu
verurteilen.
Inzwischen ließ Kaiser Theodosius ein Konzil nach Ephesus einberufen,
das der Papst für unnötig hielt, da er in seinem vorerwähnten Brief das
Mysterium der Menschwerdung bereits endgültig definiert habe. Und er
sollte recht behalten. Auf der Synode von Ephesus herrschte bald rohe
Gewalt gegen alle Gegner der Monophysiten, und die päpstlichen Legaten,
der Patriarch Flavian, sowie sämtliche Bischöfe, die nicht eine
Erklärung zugunsten dieser Irrlehre unterzeichnen wollten, wurden
mißhandelt. Deshalb erhielt diese Synode den Namen "Räubersynode".
Ein Umschwung trat ein, als der Kaiser 450 starb und Marcian, ein
Anhänger des wahren Glaubens, sein Nachfolger wurde. Alle auf der
"Räubersynode" gebannten Bischöfe und Priester wurden rehabilitiert und
ein neues Konzil nach Chalkedon ausgeschrieben. Obwohl auch dieses der
Kaiser einberufen hatte, waren seine Beamten nur noch für die Fragen
der Organisation zuständig. Den Vorsitz führten zum erstenmal die
päpstlichen Legaten, die es bald durchsetzten, daß der Patriarch
Dioskuros von Alexandrien, das Haupt der Monophysiten und der
Vorsitzende der "Räubersynode", nur noch als Angeklagter teilnehmen
durfte. Als das vorerwähnte Schreiben Leos an Flavian verlesen wurde,
antworteten die Konzilsväter: "Dies ist der Glaube der Väter, dies der
Glaube der Apostel! Wir alle glauben so! Anathem dem, der anders
glaubt. Durch Leo hat Petrus gesprochen!"
Ohne irgendwelche Kompromisse wurde schließlich verkündet: "Wir lehren
und bekennen ein- und denselben Christus in zwei Naturen - unvermischt
und unverwandelt, ungetrennt und ungesondert, da der Unterschied der
Naturen durch die Einigung keineswegs aufgehoben, vielmehr die
Eigentümlichkeit jeder Natur gewahrt ist und beide in e i n e r Person
und e i n e r Hypostase sich vereinigen." Man hat diese Erklärung,
welche die Grundlagen unserer Christologie legte, die erste unfehlbare
Ex-Cathedra-Entscheidung eines Papstes genannt.
Gemäß Arius und Nestorius ist letztendlich ein Mensch für unser Heil
gestorben (gewisse Anklänge daran finden sich jetzt wieder im "Mann von
Nazareth", "Jesus war wie Gott" und "geboren von der Jungfrau Maria"),
während Eutyches nur die Gottheit Christi sich aufopfern läßt. Aber
unsere Entsühnung konnte Christus nur dann vollbringen, wenn er in e i
n e r Person Gott und Mensch zugleich war.
Allerdings bestanden trotz ihrer Verurteilung christologische Irrlehren
infolge einflußreicher und mächtiger Anhänger noch lange weiter.
Schwere Sorgen bereitete dem Papst der seit 457 regierende Kaiser Leo
I., der Thraker, der von Irrlehrern stark beeinflußt, eine Revision der
Beschlüsse von Chalkedon bzw. weitere Diskussionen hierüber verlangte.
Der Papst schärfte daher seinen nach Konstantinopel entsandten Legaten
ein, sich auf keine Erörterungen einzulassen, sondern nur sein neues
Lehrschreiben zu überreichen, das die kirchliche Lehre nochmals
bekräftigte.
Der hl. Leo sah seine Hauptaufgabe in der Reinhaltung des Glaubens. Wie
energisch er sich auch den Eingriffen des Staates in den kirchlichen
Bereich widersetzte, so stellte er sich doch auch bedingungslos dem
Staate in Notzeiten zur Verfügung. Im Vatikan befindet sich Raffaels
berühmtes Gemälde "Leo I. vor Attila". Die Renaissance sah den Zweck
der Historienmalerei nicht in der geschichtlichen korrekten
Darstellung; daher trägt der heilige Leo die Gesichtszüge von Raffaels
Mäzen, Leo X., für die Begleitung auf dem Bild standen Personen vom
Hofe des Medicäer-Papstes Modell und als Bildhintergrund erkennt man
die Mauern von Rom. In Wirklichkeit trafen sich der Papst und der
Hunnenkönig in der Nähe von Mantua. Und es gelang, die Gottesgeißel zum
Rückzug zu bewegen. Der weströmische Kaiser Valentian hatte sich der
ihm eigentlich zustehenden Aufgabe entzogen. Es tut der Bedeutung
dieser Zusammenkunft keinen Abbruch, wenn wir nicht entscheiden können,
ob Attilas Verzicht, nach Rom zu marschieren, dem Charisma unseres
Heiligen oder realpolitischen Erwägungen zu verdanken ist.
Aber nur drei Jahre sollte sich die Ewige Stadt der Ruhe erfreuen. Der
arianische Vandalenkönig Geiserich, der im nordwestlichen Afrika ein
mächtiges Reich errichtet hatte, landete mit einem Heere an der
Tibermündung und bedrohte die unkriegerische und schlecht gerüstete
Stadt. Wieder unterzog sich der Vater der Christenheit der Aufgabe, den
grausamen Herrscher durch Bitten zum Abzug zu bewegen. Zwar sollte ihm
diesmal nur ein Teilerfolg beschieden sein, denn 14 Tage wüteten die
Vandalen raubend und plündernd. Aber seinen priesterlichen Bitten
gelang es, wenigstens die Ermordung der Bevölkerung und die Zerstörung
der ganzen Stadt zu verhindern. Rückblickend können wir das damalige
Rom sogar glücklich preisen: durfte es doch unter diesem Papst seinen
wahren Glauben allen schweren Schicksalsschlägen zum Trotz ungemindert
behalten! Und machte sich schließlich nicht fast genau 15oo Jahre
später ein neuer "Vandalismus" an die Gotteshäuser nicht nur Roms,
sondern der gesamten katholischen Welt heran? Die Altäre wurden
entfernt oder zumindest gekappt, damit sie besser in die Landschaft des
Novus-Ordo-Tisches passen, Kommunionbänke, Kanzeln sowie den Gläubigen
an das Herz gewachsene Bilder und Statuen wurden zertrümmert und
weggeworfen.
Leo der Große ist auch der erste Papst, der relativ viele Schriften
hinterlassen hat. In den fast loo, meist aus Anlaß eines kirchlichen
Festes verfaßten Predigten dringt er immer wieder auf den reinen
Glauben und strengen, sittlichen Lebenswandel. Die Themen seiner Briefe
kreisen immer um die Einheit der Kirche, die Reinheit der Lehre und
ganz besonders um die dem Stuhle Petri zustehenden besonderen
Vorrechte. "Er vertritt die vetustatis norma (Ep.129,c.3) und die
sanctorum patrum canones (Ep.14, c.2) und schließt die novitas aus
(Ep.119,c.3) und nimmt sich stets das Beispiel der Väter zum Muster
(Ep.5,c.2)".*)
Von ihm stammt auch der Spruch: "Petri dignitas etiam in indigno herede
non deficit". ("Die Würde des Petrus geht auch in einem unwürdigen
Erben nicht verloren".) - eine Wahrheit, die allerdings spätestens seit
1969 - als das hl. Meßopfer zerstört wurde - auf die Okkupanten des
päpstlichen Stuhles nicht angewendet werden darf; denn sie sind eben
Okkupanten und nicht Erben!
Das sog. Sacramentarium Leonianum - eine Sammlung der in der Kirche
gebräuchlichen Meßgebete - trägt, da erst später zusammengestellt, zu
Unrecht den Namen des Papstes Leo. Es steht aber fest, daß von ihm das
Kanongebet "Supra quae..." durch die Worte "sanctum sacrificium,
immaculatam hostiam" erweitert wurde. "Der römische Kanon erhielt, im
ganzen gesehen, seine jetzige, aus der Tradtion antik römischen
Gebetsstiles erwachsene Gestalt unter Papst Damasus (vielleicht unter
Mitwirkung des hl. Ambrosius), als in Rom der Übergang zur lateinischen
Liturgiesprache sich vollzog"**), also bereits im letzten Drittel des
4. Jahrhunderts, so daß um 6oo bereits alles vollendet ist und nur noch
einzelne Worte geändert werden.
Als der große Papst 461 - nach einer mehr als zwanzig-jährigen
Regierung - starb, neigte sich das alte kaiserliche Rom unwiderruflich
seinem Ende zu. Was es an Autorität und Weltgeltung vererben konnte,
übernahm der durch ihn so gestärkte apostolische Stuhl. Erfüllt von der
Idee des Primats wie keiner seiner Vorgänger, ist Papst Leo der Große
somit der eigentliche Begründer der geistlichen Weltherrschaft Roms
geworden, ohne die es auf die Dauer keine selbständige Kirche gegeben
hätte. Der beste Beweis hierfür ist die Kirche des Ostreiches, welche
in immer größere Abhängigkeit vom Kaiser geriet.
Anmerkungen:
*) Wetzers und Weites "Kirchenlexikon"; Artikel: "Leo der Große".
**) Lechner: "Liturgik des röm. Ritus" Freiburg 1953, S.240.
Benutzte Literatur:
Bihlmeyer-Tüchle: "Kirchengeschichte" l.Teil, Paderborn 1955.
Chronologische Reihenfolge der Römischen Päpste von Petrus bis auf Gregorius XVI., Würzburg 1831.
Eisenhofer: "Handbuch der katholischen Liturgik" Freiburg 1933, Bd.2.
Feuling, F.: "Der hl. Papst Leo der Große und das Konzil von Chalkedon
451 - Überlegungen zum Vergleich zwischen damals und heute" Beda-Kreis
vom 15.12.1975.
Lechner: "Liturgik des römischen Ritus" Freiburg 1953.
Lortz, Jos.: "Geschichte der Kirche" Bd.l, Münster 1962.
Seppelt, F. X.: "Geschichte der Päpste von den Anfängen bis zur Mitte des 2o. Jahrhunderts" München 1954.
Schuchert / Schütte: "Die Kirche in Geschichte und Gegenwart" Kempen o.J.
Wetzers und Weites "Kirchenlexikon" 1892; Artikel: "Leo der Große". |