LIBERTINAGE FÜR DIE OBEREN, ASKESE FÜR DAS FUSSVOLK
- DER FALL MAMMA EBE -
von
Sylvia Strasser
(aus FAZ vom 6.10.84)
Vorbemerkung der Redaktion:
Der nachfolgende Bericht aus der FAZ richtet sich an all diejenigen
unter uns, die viel lieber (und all zu häufig) jeder als 'Offenbarung'
verkauften Parole nachlaufen als sich mit den Glaubenswahrheiten im
Katechismus auseinander zu setzen, die ihr Ohr eher dem abstrusesten
Gefasel zuwenden als sich um die Tatsachen zu kümmern, die sich all zu
gerne an den Rockschoß einer 'Mamma' hängen und die Nachfolge auf dem
Weg Christi durch die heutige Einsamkeit vergessen. Die
Veröffentlichung richtet sich nicht gegen die Möglichkeit
übernatürlichen Eingreifens in diese Welt und gegen die tatsächlich
erfolgten Mahnungen der Mutter Gottes - wir haben selbst die
Offenbarungen von La Salette publiziert -, sondern sie ist als Warnung
für die Leichtgläubigen gedacht, zunächst die als göttlichen Ursprungs
angepriesenen 'Offenbarungen' und der.en Träger einer gründlichen
Prüfung zu unterziehen. Viele, die noch der rechtgläubigen Tradition
angehörten, sind deswegen auf Abwege geraten (und geraten es immer
noch), d.h. konkret in den Verein der abgefallenen 'Kirche'
zurückgekehrt, weil sie all zu schnell den Unsinn z.B. vom gefangenen
'Märtyrer-Papst Paul VI.' (der angeblich noch leben soll), von der
"Frau aller Völker, die einst Maria war", vom Doppelgänger glaubten und
die Propaganda aus Bayside, Palmar d.Tj. von der Mamma Rosa etc. für
bare Münze nahmen. Christus befiehlt uns, wachsam zu sein.
Eberhard Heller
***
San Baronto, im Oktober. - Zehn Jahre und zwei Monate Gefängnis für
Mamma Ebe, Haftstrafen von insgesamt 44 Jahren für zwölf nahestehende
'Apostel', mehrere Millionen Lire Geldstrafen. Das Urteil, das ein
Gericht in der italienischen Stadt Vercelli in diesem Sommer nach
siebzehn Sitzungen und einer Prozeßdauer von fast einem Monat
gesprochen hatte, war hart. Umfangreich war aber auch die Liste der zur
Last gelegten Delikte: Personenraub, Drogenmißbrauch, Bildung einer
kriminellen Vereinigung, schwerer Betrug, Körperverletzung, Einrichtung
von Abhöranlagen, Mißbrauch des medizinischen Berufs. Eine Anzeige
wegen unterlassener Hilfeleistung im Altenheim "La Consolata" von Borgo
d'Ale, eigentlich mehr ein bürokratisches Mißgeschick denn ein
schwerwiegendes Fehlverhalten der Beschuldigten, hatte den Stein ins
Rollen gebracht. "Laßt euch von den Angeklagten nicht erweichen",
beschwor später Staatsanwalt Luciano Scalia die Richter, "die Taten,
die sie begangen haben, wiegen unter moralischen, kulturellen und
juristischen Gesichtspunkten schwer und widerstreben dem Gewissen des
Volkes."
Die fast unglaubliche Karriere von Gigliola Giorgini, alias Mamma Ebe -
die Geschichte einer Seelenheil predigenden und körperliche Genesung
versprechenden Verwalterin des 'Übernatürlichen' -, nahm in diesem
Sommer nach mehr als dreißig Jahren ein unrühmliches Ende. Der Tag, an
dem das Urteil gefällt wurde, war ein schwarzer Tag im Leben der
selbsternannten 'Heiligen' von San Baronto und der rund 7ooo
Gefolgsleute der 'Frommen Union des Barmherzigen Jesu', wie sich die
national weitverzweigte, pseudoreligiöse Organisation der Ebe nennt.
Ein schwarzer Tag war es auch für die beiden kirchlichen Würdenträger
und nächsten Handlanger, Don Pier Giovanni Moneta, Pfarrer der Kirche
zum Kostbarsten Blut in Rom, und Egidio Tognacca, den franziskanischen
Beichtvater. Bedauerlicherweise, so faßte ein italienischer
Prozeßbeobachter die Vorwürfe des Anklägers zusammen, hätten weder
Staat noch Kirche irgendwelche Schritte unternommen, um die Existenz
derartig zwielichtiger Gruppen unter Kontrolle zu halten und
gegebenenfalls zu verbieten. Im "Falle Giorgini" habe man sich trotz
besseren Wissens seit 1953 mit Wankelmut, Nachsicht und Stillschweigen
der Verantwortung entzogen.
In dem Prozeß war die Rechnung aufgemacht worden: Da blieben zum Schluß
nicht mildtätige Wunder, sondern betrogene Gläubige, verschwundene
Schwestern, ausgebeutete junge und vernachlässigte alte Menschen auf
der einen Seite; dagegen stand auf der anderen Seite ein
Millionenvermögen, der 'Schatz' der Mamma Ebe, Pelze, Schmuck,
Immobilien und teure Jachten.
In scharfen Kurven führt die schmale Landstraße von der Ebene um
Pistoia hinauf nach San Baronto, in die toskanischen Hügel, durch
Baumschulen und Gärtnereien, ausgedehnte Wein- und Olivenkulturen. Die
Gegend, so schrieb eine italienische Anthropologiestudentin 197o in
ihrer Doktorarbeit über den sonderbaren Weg der Mamma Ebe, sei
traditionell ländlich, allerdings im Umbruch. Unter dem Einfluß der
nahen Städte zeigten sich starke Auflösungserscheinungen in den
Strukturen des Dorflebens, kulturelle Konflikte sowie ein diffuser
Zustand von Leere und Frustration. Daran hat sich kaum etwas geändert.
Der Sport scheint gegenwärtig in diesem Gebiet eine Art Ausweg zu sein.
Ein Fahrradfahrer folgt dem anderen, keucht hinter dem Vorausfahrenden
her. Blitzende Gestelle, leuchtende Trikots, Väter, Großväter, Kinder
sind unterwegs. Ein begeistertes Mauer-Graffito "Grazie Francesco"
weist die Straße offensichtlich als Trainingsstrecke zu höheren Zielen
aus, nicht allein für die Bewunderer eines Franesco Moser. An zwei
Stellen auf der nur wenige Kilometer langen Fahrt staut sich der
Verkehr: In einer der vielen Kurven sprudelt kühles Trinkwasser aus dem
Berg, in einer anderen liegt zwischen Zypressen und Kastanienwäldern
das mehrstöckige Anwesen der Mamma Ebe.
Bis zu 200 'Patienten', Kranke, Pilger, hoffnungslose Jugendliche, nach
göttlicher Offenbarung oder nur nach Nähe dürstende Seelen standen in
den sechziger Jahren täglich vor dem Behandlungszimmer in San Baronto.
Sie wurden im Laufe der Jahre zwar weniger, doch der Zulauf aus ganz
Italien riß nicht ab.
In dieser Villa Gigliola, dem Hauptsitz der 'Pia Unione1, wurde die 51
Jahre alte Ebe im Morgengrauen des 9. April festgenommen, desgleichen
ihr Geliebter Gabriele Casotto, 29 Jahre alt. In den folgenden Monaten
fiel dann langsam Licht in das Dunkel einer ausgeklügelten Schwindelei.
Bilder eines mittelalterlichen, aber auch eines modernen Italiens
traten zutage; so etwa die unheilvolle Verbindung von Magie und
skrupellosem Geschäftsgebaren, von Intelligenz, Spekulation und
Hinterlist, von Charisma und Opferbereitschaft.
Er habe, so berichtet der mit der Verhaftung beauftragte
Polizeimarschall Antonio Scino während des Prozesses, Kisten mit
Champagner gefunden, Marke "Moet & Chandon", Mengen von
Psychopharmaka, kartonweise Medikamente, in fast allen Zimmern des
weitläufigen Gebäudes. Die Regeln des fiktiven Ordens, der seine
Anhänger im Glauben ließ, sie seien auch von der offiziellen Kirche
akzeptierte Priesteranwärter oder durch Gelübde gebundene Schwestern,
waren ebenso einfach wie ambivalent: Libertinage für die Oberen, Askese
für ein von der Außenwelt völlig isoliertes Fußvolk. Die einen
genehmigten sich sexuelle Ausschweifungen, die andern übten sich in
Keuschheit. In den Privatgemächern und Safes der Mamma Ebe und ihres
langjährigen zweiten Ehemanns, Umberto Battaglino, sammelten sich
Reichtümer an; Armut hieß dagegen das Gebot für die übrigen, die gleich
bei Eintritt in das vermeintliche Kloster ein Testament unterschreiben
mußten, in dem sie ihren ganzen Besitz der gütigen, allmächtigen Ebe
übereigneten.
Wer Zweifel äußerte, aufbegehrte oder eigenwillig war, wurde beruhigt
oder bestraft, bis hin zur Aufgabe der eigenen Identität. Kontakt zu
den Eltern, zu Freunden war nicht gestattet, es gab weder Fernsehen
noch Radio, dafür jeden Tag starke Dosen von Valium und ähnlichen
Beruhigunspillen. Wurde einer im Glauben unsicher, so hatte Don Moneta
die jeweils richtigen Worte bereit. "Ich, Jesus, möchte, daß die
Schwestern der Frommen Union williger gehorchen", ließ er seine
Schutzbefohlenen in einem Rundbrief wissen. Stellte jemand die
Auserwähltheit der göttlichen Mamma Ebe in Frage, dem predigte er mit
der Autorität seines kirchlichen Amtes vom wahren Glauben an die
'Erlöserin'. Wer Schlechtes getan oder gedacht hatte, es wurde
sorgfältig in einem persönlichen Schuldbuch eingetragen, fand bei
Beichtvater Tognacca zwar offene Ohren, aber auch einen geschwätzigen
Mund. Telefongespräche wurden abgehört, Tonband- und Abhöranlagen waren
installiert, unter den Seminaristen wurden Aufpasser ausgewählt: das
Informations- und Kontrollsystem funktionierte reibungslos.
Dichte, schwarze Locken, ein herbes Gesicht mit aufmerksamen Augen,
immer wieder ein Lächeln auf den Lippen: Nur einmal, während der
Urteilsverkündigung, schrieb die italienische Presse, habe Gigliola
Giogini die Fassung verloren und die Anwesenden beschimpft: "Ihr seid
alle Mörder". Es war kein Hexenprozeß; nicht Folter, nicht
Scheiterhaufen drohten, zur Diskussion stand nicht die Überzeugung.
Der Ausstrahlung Mamma Ebes auf die Brüder und Schwestern des 'Ordens'
konnte selbst die Aufdeckung krimineller Tatbestände augenscheinlich
nichts anhaben. Schon als Kind in Bolgna, so gab sie vor Gericht immer
wieder zu verstehen, habe sie die Stimme Gottes erreicht. Wundmale und
Kratzer an Stirn und Händen führte die Angeklagte zum Beweis an -
wenngleich diese Male, so ein ärztliches Gutachten damals, durch
Rasierklingen herbeigeführt worden waren. In den fünfziger Jahren hielt
sie sich kurze Zeit in den Sibillinischen Bergen auf, besuchte dort die
einsam gelegene Kirche von San Eutizio; dann folgte die Scheidung von
ihrem ersten Mann, einem einfachen Bauern. Schließlich gelang der
Sprung nach Pistoia, der Aufstieg nach San Baronto.
'Wunder' begleiten ihren Weg, aber auch die Skepsis einiger wachsamer
Polizisten, Ärzte und Männer der Kirche. Und doch wuchs das Imperium
der 'Frommen Union' weiter, bevorzugt in abgelegenen Ortschaften,
fernab jeder städtischen Aufgeklärtheit. Hier war es ein Altersheim,
dort eine Kinderkrippe, eine Schule, ein Hospital. Die fleißigen
Schwestern von Mamma Ebe, von San Baronto aus entsandt, waren überall
in den Dörfern, für vierzehn Stunden Mühen am Tag erhielten sie im
Durchschnitt 5oo Mark im Monat. Schweiß auf Erden, Lohn im Himmel. Nur
wenige sprangen im Laufe der Zeit ab; im Prozeß von Vercelli traten sie
als wichtige Zeugen oder als Klägerinnen auf.
Was denken die Leute in San Baronto von ihrer ehemaligen Mitbewohnerin?
Der Pfarrer ist erleichtert, die Geschäftsleute sind es weniger, aus
kommerziellen Gründen. Es sei eben schwer, sagt einer von dort, der
ebenfalls im Wartezimmer der Mamma Ebe auf Gottesbeweise am kranken
Körper gewartet hatte, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden.
Die Magier, schreibt Hans Magnus Enzensberger in einem Essay über
"Italienische Ausschweifungen", wurden dort auf loo ooo geschätzt,
"Exorzisten und Pendler, Sterndeuter und Chiromanten, Hellseher und
Pranotherapeuten, Magnetiseure und Parapsychologen ... Kartenleser und
Geisterseher nehmen Jahr für Jahr mehrere hundert Millionen Lire ein" -
mehr als der Fiat-Konzern. Die Zahl der scheinreligiösen Eiferer liegt
kaum darunter. Die Stärke von Mamma Ebe war die Schwäche ihrer Opfer
und das enorme und offenbar immer noch zunehmende Bedürfnis vieler
Leute nach übernatürlichen Erlebnissen. Der Fall Gigliola Giorgini ist
vorläufig beendet, das Phänomen "Mamma Ebe" aber damit noch lange nicht
erledigt.
Anm.d.Red.: Daß die FAZ mit der Veröffentlichung dieser Affaire andere Ziele verfolgt als wir, dürfte klar
sein. |