HOLOCAUST 1995: WIR HABEN ES ALLE GEWUSST
von
Claus P. Clausen
Zehn Jahre nach dem 3. Weltkrieg, der im August 1985 ausbrach, beginnt
vor dem Verfassungsgericht in der Bundeshauptstadt Berlin der erste
Prozeß gegen die Verantwortlichen für den Massenmord an Ungeborenen in
den 8oer Jahren. Die Hauptangeklagten sind Leiter von 15
Abtreibungs-Anstalten in der früheren Bundesrepublik, daneben Politiker
der damaligen Regierungskoalition, Ärzte, die die Einweisungen für die
Abtreibungs- Anstalten ausgestellt hatten und Eltern.
Die Anklage wurde erhoben vom Ältestenrat der Christlichen Volkspartei,
die 1995 die Regierung stellt. Der Bundesanwalt verliest die
Anklageschrift und stellt fest, daß in den Jahren von 1979 bis 1984 2
543 784 ungeborene Kinder vorsätzlich und systematisch in den
"Abtreibungskliniken" umgebracht worden sind. Zweihundert Rechtsanwälte
und hundert Sachverständige aus dem In- und Ausland nehmen an dem
Prozeß teil, über den täglich die Fernsehanstalten in Sondersendungen
berichten. Wenige Wochen vor Beginn des Verfahrens hatte das
Christliche Fernsehen eine fünfteilige Serie ausgestrahlt: Holocaust.
Die Fernseh-Dokumentation war von der ganzen deutschen Bevölkerung mit
wachsender Erregung verfolgt worden. In den Familien und Schulen wurde
nur noch über die Frage diskutiert, wie es geschehen konnte, daß mit
Hilfe eines staatlichen Gesetzes, das die Straffreiheit der Abtreibung
garantierte, in der Praxis eine Situation des unausgesprochenen Rechtes
auf Kindestötung entstanden war.
Viele Jugendliche, die sich zum christlichen Glauben bekennen,
verlassen das Elternhaus, nachdem sie erfahren hatten, daß ihre Mütter
und Väter an Abtreibungen beteiligt waren. Christliche Jugendverbände
fordern in Massendemonstrationen vor Beginn des Prozesses die
Verurteilung der Verantwortlichen.
Vergeblich versuchen die Anwälte in der ersten Prozeßphase die
alleinige Verantwortung auf die damalige Bundesregierung und die sie
tragenden Parteien zu schieben, die die gesetzliche Grundlage für die
Abtreibung geschaffen hätten. Das Gericht macht deutlich, daß nicht die
Politiker allein den Massenmord zu verantworten hätten, sondern die
Eltern und Ärzte, die jeweils die Entscheidung zur Tötung getroffen
hätten. Den Politikern wird allerdings der schwerwiegende Vorwurf
gemacht, daß sie die Errichtung von 15 "Abtreibungskliniken" toleriert
und die Gesetze nicht geändert haben.
In der Beweisaufnahme werden die Methoden in den Anstalten im Detail
dokumentiert. Zeugen schildern, daß Schwestern und Ärzte oft nur wenige
Wochen und Monate in diesen Häusern ausgehalten und dann gekündigt
haben, weil sie die psychische Belastung nicht mehr aushielten. Die
Anklagevertreter belegten durch Beweismaterial auch den Anklagepunkt
der unterlassenen Hilfeleistung. Aufgrund der sichergestellten
Aufzeichnungen und Aussagen muß man davon ausgehen, daß rund drei
Prozent der abgetriebenen Kinder lebensfähig waren und erst nach der
Entfernung aus dem Mutterleib gestorben sind. Prozesse Anfang der 8oer
Jahre hatten bereits ergeben, daß in den Anstalten keine medizinischen
Einrichtungen zur Versorgung überlebender Kinder vorhanden waren.
Ärzte räumten in ihren Aussagen ein, daß eine unbekannte Zahl von
Kindern nach der Abtreibung noch Stunden gelebt und in den Abfalleimern
der Anstalten umgekommen sind. Vor Gericht sprechen fünf Tage lang
weltbekannte Fachleute der Human-Embryologie über die unbestrittenen
Phasen der menschlichen Entwicklung im Mutterleib. Schon um 197o seien
diese Erkenntnisse anerkannt und auch allgemein bekannt gewesen. Jeder
Arzt hätte aus der Fachliteratur die Widerlegung des Irrtums wissen
können, der ungeborene Mensch durchlaufe in den ersten Wochen die
Entwicklungsstufen des Tieres. Neben anderen wurde auch der
international anerkannte Human-Embryologe Prof. Dr. Blechschmid von der
Universität Göttingen zitiert, der lange vor Beginn des Massenmordes
unwiderlegbar nachgewiesen hatte, daß der Mensch vom Augenblick der
Befruchtung an immer schon vollwertiger Mensch in seiner einmaligen
Ausprägung ist.
Immer wieder sprechen Nebenkläger und Zeugen die Frage an, wie ein
ganzes Volk tatenlos der systematischen Ausrottung von Ungeborenen
zusehen konnte. Ärzte und Eltern berufen sich zu ihrer Verteidigung
darauf, daß in der damaligen Gesellschaft die allgemeine Auffassung
geherrscht habe, der Mensch beginne erst mit seiner Geburt. Zu
lautstarken Demonstrationen des Publikums kommt es, als angeklagte
Frauen Informationsmaterial der Kirchen von 1978 vorlegen. Daraus geht
hervor, daß kirchliche Beratungsstellen die Abtreibung als "letztes
Mittel" in bestimmten Fällen bezeichnet hatten.
Immer wieder treten auch Geistliche beider Kirchen als Zeugen auf. Am
64. Verhandlungstag legt ein katholischer Priester dem Gericht eine
umfangreiche Akte über einen Fall vor, bei dem es um ein katholisches
Krankenhaus und einen katholischen Arzt geht, die ein Mitglied der
Caritas zur Abtreibung nach Holland geschickt hatten. Der Priester
schließt seinen Bericht mit einer scharfen Anklage gegen seine eigene
Kirche: "Unsere Bischöfe waren damals große Feiglinge und ich habe das
auch laut gesagt!" Die Rolle der Kirchen und die Haltung der Bischöfe
in der damaligen Zeit werden - das ist nicht mehr zu übersehen - in den
kommenden Wochen den Verlauf des Prozesses wesentlich beeinflussen.
Es fällt auch auf, wieviele Zeugen den Vergleich mit der Nazizeit und
dem Massenmord an den Juden ziehen. Im Gegensatz zu "Holocaust" könne
sich heute - so betonte der Bundesanwalt - niemand darauf berufen,
nichts von diesem Kindersterben gewußt zu haben. "Das Unbegreifliche an
diesem Prozeß ist, daß zwischen 1975 und 1985 alle Bundesbürger, die
lesen konnten, voll über den Massenmord in diesen Anstalten informiert
waren." Der Prozeß dauert an.
(aus: "Der schwarze Brief" Sonderblatt 5/79) |