"WOHIN DIE SONNENFINSTERNIS
KEINEN SCHATTEN WERFEN KANN"
- AUS EINEM INTERVIEW MIT ALEXANDER SOLCHENIZYN -
(aus: DIE WELT vom 3.3.1984; übers. von Bernd Nielsen-Stockkeby; Interv. M. Muggeridge)
M.: "Ich bin ein alter Journalist, arbeite schon über 5o Jahre als
solcher und werde häufig gefragt: Welches ist das wichtigste Ereignis
unserer Zeit? Und ich antworte: Das allerbedeutungsvollste während
dieser 5o Jahre, in denen ich schreibe, ist die Wiedergeburt des
christlichen Glaubens gewesen - und das ausgerechnet dort, wo man ihn
für erloschen hielt. Kann man sagen, daß die Bemühungen der
kommunistischen Machthaber, jeden Glauben zu unterdrücken und zu
zerstören, faktisch zusammengebrochen sind?"
Solchenizyn: "Während der vergangenen 5 bis 6 Jahrzehnte haben wir in
vieler Hinsicht und vielerorts in der Welt nur Siege und immer wieder
Siege des Kommunismus erlebt. Gewiß, es waren nie Siege zum Wohl der
Menschen, zu ihrer Gesundung, auch keine wirtschaftlichen Siege,
sondern Siege ausschließlich militärischer Art. Das Signal zum Angriff
auf das Christentum gaben Lenin und Trotzki schon ganz am Anfang ihrer
Herrschaft. Seitdem sind 6o Jahre vergangen. Alle Kräfte des Apparates
der Tscheka, der politischen Geheimpolizei, wurden eingesetzt,
Millionen von Bauern, alle Träger der Religion, wurden ausgerottet.
Millionen von Propagandastunden wurden darauf verwandt, die Religion
aus dem Bewußtsein zu tilgen und Kindern den Zutritt zu ihr zu
versperren. Und dennoch sehen wir heute, daß der Kommunismus das
Christentum in unserem Lande nicht besiegt hat. Das Christentum hat
einen großen Niedergang hinnehmen müssen, doch jetzt beginnt es
tatsächlich sich zu festigen und stärker zu werden. Und das ist das
allerhoffnungsvollste Zeichen nicht nur für unser Land, sondern auch
für die gesamte Welt. Bislang sehen wir kein Ende der militärischen
Siege des Kommunismus; vielmehr haben wir den Eindruck, daß sich der
Schatten des Kommunismus immer mehr und mehr über die Erde schiebt. Ich
würde es mit einer Sonnenfinsternis vergleichen, doch bei einer
Sonnenfinsternis verdunkelt sich nur ein kleiner Teil der Erde. Der
Kommunismus aber hat bereits die Hälfte, wenn nicht gar drei Viertel
der Erde verdunkelt. Doch gerade darum, weil der Kommunismus sich als
zu schwach erwies, das Christentum zu vernichten, können wir darauf
hoffen, daß dieser Schatten schließlich nach und nach von der Erde
weichen wird und daß vielleicht sogar die Länder, die er als erste
bedeckte, zuerst von ihm frei werden." *) (...)
M.: "Ist es wahr, daß die sowjetischen Machthaber auf diese
Arbeitskräfte, die von ihnen im GULag ausgenutzt werden, nicht
verzichten können?"
Solchenizyn: "Sie haben darauf nie verzichten können, und das ist auch
heute so, und das besonders bei Arbeiten und an Orten, wo es fast
unmöglich ist, überhaupt jemanden zu bekommen. Beispielsweise für alle
Arbeiten mit radioaktiven Stoffen, bei denen keinerlei Schutzmaßnahmen
für den menschlichen Organismus vorgesehen sind. An vielen Orten wird
sowohl die Förderung radioaktiver Rohstoffe wie auch beispielsweise die
Säuberung radioaktiver Teile von Unterseebooten von Gefangenen
ausgeführt, die dann nach wenigen Monaten sterben. In diesen Fällen
wird so verfahren, daß sich die Wachmannschaften, die die Häftlinge zur
Arbeit bringen, hinter Schutzwände aus Beton oder auf eine größere
Entfernung zurückziehen."
M.: "Ist es vorstellbar, daß diese schreckliche Erscheinung, diese
Gewaltherrschaft des GULag aus dem sowjetischen Leben eliminiert werden
kann?"
Solchenizyn: "Sehen Sie, nicht nur der GULag ist Ausdruck der
gewaltsamen Natur des kommunistischen Totalitarismus. Der GULag ist
lediglich die äußerste Stufe dieser Gewaltanwendung. Es existiert aber
eine ganze Skala von Gewaltanwendungen. Ihre Frage muß wohl so
verstanden werden: Kann es einen kommunistischen Totalitarismus ohne
Gewaltanwendung geben? Nein, nicht einen Tag." **)
*) Anm.d.Red.: Die Kirche ist
noch nie von außen überwunden worden. Wenn sie das Kommunistenjoch
abgeschüttelt haben wird, wird sie in die viel schlimmeren Klauen des
Modernismus fallen, der die Blutzeugenschar von innen vergiften wird. -
Ein polnischer Priester, der mehrere Jahre in Dachau im KZ war, sagte
uns einmal, daß allein der westliche Materialismus wesentlich
gefährlich sei als die Nazis jemals sein konnten hinsichtlich der
geistig-moralischen Zerstörung.
**) Nach Solchenizyn leben heute noch zwischen 4 bis 6 Millionen im Arichpel GULag. |