DER VERGESSENE MASSENMORD DES ROTEN ZAREN
von
Miron Delot
(aus MÜNCHNER MERKUR 23.6.1983:
Vor 50 Jahren geschah eines der größten Verbrechen der Geschichte - sieben Millionen Ukrainer starben)
In der Ukraine der dreißiger Jahre wurden keine Sterberegister geführt.
Die präzise Feststellung, wie viele Menschen in der Hungersnot 1932/33
starben, ist somit für immer unmöglich gemacht. Die Zahl der Opfer läßt
sich lediglich schätzen, und zwar anhand des Bevölkerungszuwachses in
normalen Jahren: Mehr als sieben Millionen - 20 Prozent der
ukrainischen Gesamtbevölkerung - dürften es gewesen sein.
Absolut fest steht hingegen, daß die Hunger-Katastrophe künstlich
erzeugt worden ist. Sie war keine Folge einer Dürre oder anderer
widriger Naturereignisse. Sie war nicht einmal eine direkte Folge der
Errichtung landwirtschaftlicher Kolchosen. Die ukrainische Ernte damals
fiel ganz besonders gut aus.
Die Vorgeschichte der ukrainischen Tragödie begann mit jenem 27.
Dezember 1929, an dem Josef Stalin die totale Kollektivierung befahl.
Dieser Beschluß bedeutete nicht nur eine Kriegserklärung an die Adresse
der freien Landwirte. Er richtete sich in erster Linie gegen die
nationale Bewegung in der Ukraine, die sich hauptsächlich auf die
Bauernschaft stützte. Die Ukrainer, so muß man wissen, waren zum Ärger
Moskaus nicht mürbe zu kriegen. Trotz der langen Zugehörigkeit zu
Rußland hielten sie hartnäckig an ihrer Sprache, ihrer Kunst und vor
allem an ihrer Hoffnung auf nationale Unabhängigkeit fest. Das hatte
sich während der Oktoberrevolution gezeigt, als die Ukrainer sofort
gegen die russische Herrschaft rebellierten und sich selbständig
erklärten. Die Sowjetrussen gingen damals nach durchaus zaristischer
Manier vor. Statt ihre eigenen, lauthals verkündeten Parolen der
völkischen Selbstbestimmung zu befolgen, eroberten sie das reiche Land
mit Waffengewalt zurück. Und das zeigte sich erst recht während der
zwanziger Jahre, in denen sich der russische Druck etwas lockerte.
Sofort schoß der ukrainische Nationalismus wieder ins Kraut. Die
Intellektuellen forcierten ihre traditionellen Bindungen an den Westen
bis hin zum Slogan "Weg von Moskau". Selbst die Parteipolitiker
ereiferten sich über den Kolonialstatus der Ukraine.
Nun endlich sahen die Sowjets ihre große Chance zur Revanche. Die
forcierte Kollektivierung des Jahres 1932 schien ihnen das richtige
Instrument, die aufmüpfigen Ukrainer ein für allemal zu disziplinieren.
Der harte Winter 32/33 dauerte für die Ukraine außergewöhnlich lang.
Der Frühling kam zu spät. Die Bauern hatten bereits das aller bißchen
Korn verbraucht, das ihnen nach den Beschlagnahmungen geblieben war.
Hunger breitete sich aus. Scharen verzweifelter Frauen und Kinder
durchwühlten die abgeernteten Kartoffelfelder, um vielleicht irgendwo
einen vergessenen, wenngleich gefrorenen Erdapfel aufzustöbern.
Abgezehrte, zerzauste Männer vom Land, Axt und Schaufel über der
Schulter, irrten durch die Städte und fragten nach Arbeit - vergeblich.
Niemand wagte es, sie als Gärtner oder Straßenkehrer zu beschäftigen.
Ein neuer Erlaß untersagte dies ausdrücklich.
Auf den Dorffriedhöfen herrschte Dauerbetrieb. Man sah merkwürdige
Begräbniszüge: Kinder, die auf hausgezimmerten Handwagen die Leichen
ihrer Eltern brachten; Väter und Mütter, die ihre toten Kinder in den
eigenen Armen trugen. Särge gab es nicht. Den Dorfbewohnern standen
weder genügend Bretter, noch genügend Nägel oder gar Kräfte zur
Verfügung, um auch nur die primitivsten Behälter zu zimmern. Sie
schichteten die Verhungerten einfach in große Massengräber, Körper über
Körper.
Die Partei tat nichts zur Linderung der Not. Im Gegenteil, sie
erinnerte nachdrücklich an die vorgeschriebenen Ablieferungsquoten und
schickte 112ooo ihrer gehorsamsten Mitglieder zur lückenlosen Kontrolle
aufs Land. Diese "Genossen Totengräber", wie sie bald genannt wurden,
durchschnüffelten Haus um Haus nach verstecktem Getreide. Wer sich
wehrte, riskierte Prügel, Gefängnisstrafen oder gar die Verbannung ins
Konzentrationslager. Sobald die nächste Ernte langsam heranwuchs,
organisierten die Genossen einen sog. "Kommunistischen Selbstschutz"
zur Bewachung der Kolchos-Felder. Ausgrüstet mit Schrotflinten saßen
sie Tag und Nacht auf eigens errichteten Wachtürmen und schössen auf
jeden Dorfbewohner, der etwas vom halbreifen Korn in den Mund steckte.
(...) Die Noch-Lebenden beneideten die Toten. Meist zu Skeletten
abgemagert, konnten sie sich kaum auf den Beinen halten. (...) Jetzt
kam ein wunderschöner Sommer, heiß und sonnig. Die Obstbäume bogen sich
unter der Last reifender Früchte. (...) Die ukrainischen Dörfer aber
lagen öd und verlassen da. In Dutzenden von ihnen regte sich überhaupt
nichts... Denn alle einstigen Bewohner waren tot. |