Armenische Passion
- Ein Beitrag zum Gedenken an die Armeniermorde vor 90 Jahren -
von
Magdalena S. Gmehling
"Sie starben, ohne wirklich zu wissen warum
Männer, Frauen und Kinder, die nichts als leben wollten
Mit schweren Gesten, so als seien sie trunken
Verstümmelt, massakriert, die Augen vor Schrecken aufgerissen."
Varenagh Aznavourian alias Charles Aznavour
Am 24. April gedenken die armenischen Christen jährlich der furchtbaren
Verfolgung vor 90 Jahren. 1915/16 fielen 1,5 Millionen Armenier dem
Genozid und der kompromisslosen Türkisierungspolitik des Osmanischen
Reiches zum Opfer. Bereits 20 Jahre vorher war es 1895/96 unter
Abdül-Hamid zu grausamen Massakern gekommen und im Jahre 1909 wurden in
Kilikien 30000 Armenier bei einem Pogrom getötet.
Vor dem Hintergrund eines intendierten Beitritts der Türkei in die EU
kann nicht nachdrücklich genug an die erschütternden Ereignisse
erinnert werden. Der offizielle Plan der Jungtürken sah eine
Vernichtung der Armenier aus den sechs Provinzen: Sivas, Diyarbakir,
Erzurum, Bitlis, Van und Trapezunt vor. Die Gewaltmärsche ohne Essen
und Wasser, in extremer Hitze, endeten in der mesopotamischen Wüste.
Manche Gefangene wurden in Viehwaggons angeliefert. Der Transfer musste
bezahlt werden. Für Hunderttausende Deportierter ließ die Jungtürkische
Regierung entlang der neu gebauten Berlin-Bagdadbahn
Konzentrationslager errichten. Die beim Wegebau eingesetzten Männer
wurden nach vollbrachter Arbeit erschossen.
Der Augenzeuge August Bernau, Vertreter einer amerikanischen Ölfirma,
berichtet am 10. September 1916: "Es ist eine völlige Wüste. Auf einem
kleinen Hügel ungefähr 200 Meter vom Fluss entfernt sind 240 Armenier
unter der Beobachtung von zwei erbarmungslosen Gendarmen
zusammengepfercht, die sie unter grausamsten Leiden den Hungertod
sterben lassen. Die Szenen, deren Zeuge ich wurde, übersteigen alle
Schrecken. In der Nähe des Ortes, an dem die Kutsche hielt, suchten
Frauen, die meine Ankunft nicht bemerkten, in den Pferdeäpfeln nach
unverdauten Gerstenkörnern. Ich gab ihnen etwas Brot. Sie warfen sich
darauf wie verhungerte Hunde, nahmen es gierig in den Mund mit
Schluckauf und epileptischem Zittern. Informiert von einer der Frauen,
stürzten sofort 240 Menschen, oder eher hungrige Wölfe, die sieben Tage
lang nichts zu essen hatten, den Hügel hinunter auf mich zu. Streckten
mir ihre abgemagerten Arme entgegen, flehten unter Tränen und Schreien
um ein Stück Brot. Es waren hauptsächlich Frauen, Kinder und ungefähr
ein Dutzend alte Menschen." 1)
Der erste Weltkrieg sollte für die Armenier zum Verhängnis werden.
Bereits durch die Gebietsverluste im Balkankrieg 1912/13 hatte der
pantürkische Nationalismus Auftrieb erhalten. Eine rassistische
Homogenisierungspolitik setzte ein. Am 2. August 1914 schlossen der
kaiserlich deutsche Botschafter Wangenheim und der Großwesir Said Halim
in Gegenwart von Kriegsminister Enver und Innenminister Talaat einen
Beistandspakt und traten an der Seite der Mittelmächte in den 1.
Weltkrieg ein. Deutsche standen zu Hunderten als Militärausbilder in
türkischen Diensten. Sie spielten im Vernichtungskrieg gegen die
Armenier eine wichtige Rolle. Die Reichsregierung war über die
Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und Tötungsorgien genauestens
unterrichtet.
Wie die Autorin dieses Artikels von einem hochbetagten Zeitzeugen
erfahren konnte, herrschte eine Art Gruppenzwang des Schweigens. Die
meisten Offiziere und Fachleute, welche zurück ins deutsche Reich
kamen, hüteten sich, ihre schauerlichen Erlebnisse preiszugeben.
Offiziell hatte eine Fünfergruppe der jüngtürkischen Ittihad 1912 einen
10 Punkte umfassenden Plan zur Ausrottung der Armenier ausgearbeitet.
An der Spitze stand Innenminister Talaat Pascha. Wichtigste Helfer
waren die Ärzte Behaeddin Schakir und Mehmed Nazim. Im Krankenhaus des
Roten Halbmondes zu Trapesunt verbrühten sie die Säuglinge mit
ultraheißem Wasserdampf, stopften die Leichen in Körbe und versenkten
sie im Meer. An den Grausamkeiten im ganzen Lande
beteiligten sich der Chef der
Gendarmerie Dschumbolat und der Leiter der Geheimdienstabteilun Oberst
Seyfi.
Während das Wissen um die Vernichtungspolitik im Volk durch die
Militärzensur unterdrückt wurde, berichteten darüber im Rahmen ihrer
beschränkten Möglichkeiten vor allem Einzelpersonen und Organisationen.
Zu nennen wären an erster Stelle die Missionsgesellschaften, ferner die
ausländischen und diplomatischen Vertretungen. Für immer werden mit den
Geschehnissen Namen wie jener des protestantischen deutschen Pastors
Lepsius, der mutigen und selbstlosen Dänin Karen Jeppe, der deutschen
Schwestern Laura Möhring und Paula Schäfer, des amerikanischen
Botschafters in Konstantinopel Henry Morgenthau und des amerikanischen
Konsuls in Aleppo, J.B. Jackson verbunden sein.
Im Frühling des Jahres 1916 begann die letzte Phase des Genozids an den
Armeniern, dem ältesten Christenvolk der Welt. Die Todesmärsche durch
die Wüste erreichten im Herbst ihren Höhepunkt. 250 000 Menschen,
welche die Qualen der Vertreibung überlebten, wurden von Soldaten in
Höhlen gepfercht, deren Eingänge bewacht waren und dort verbrannt. Dem
Tod in Deir-es-Sor, dem Konzentrationslager in der Wüste, entkamen nur
ein paar Kinder. Sie überlebten durch Kannibalismus.
Der Sanitäter und Schriftsteller Armin Theophil Wegner reiste mit dem
turkophilen Baron Freiherr von der Goltz, dem Befehlshaber der 6.
Osmanischen Armee durch Kleinasien auf der Route der Todesmärsche.
Trotz strengsten Verbotes und eines erheblichen persönlichen Risikos
gelang es ihm, Fotos, Briefe und Berichte über die geheime Ausrottung
der Armenier anzufertigen und dem amerikanischen Botschafter in
Konstantinopel zu übergeben. Sie stellen heute Zeitzeugnisse von
unschätzbarem dokumentarischem Wert dar. Armin Theophil Wegner lebte
später im italienischen Positano. Traumatisiert durch die furchtbaren
Erlebnisse arbeitete er bis zu seinem Lebensende an einem Fragment
gebliebenen Roman über die Armenier mit dem Titel "Die Austreibung". Er
berichtet am 26. 11. 1915 an Marga von Bonin:
"Denn die Ränder aller Straßen sind mit den jammernden und hungernden
Gestalten armenischer Flüchtlinge besetzt, durch deren wimmernde,
schreiende, bettelnde Hecke, aus der sich tausende flehende Hände
strecken, unsere Seelen ein schmerzliches Spießrutenlaufen beginnen.
Eben, da ich diese Zeilen schreibe, bin ich von einem Gang durch das
Lager zurückgekehrt. Von allen Seiten schrieen Hunger, Tod, Krankheit,
Verzweiflung auf mich ein. Geruch von Kot und Verwesung stieg auf. Aus
einem Zelt klang das Wimmern einer sterbenden Frau. Eine Mutter, die an
den dunkel-violetten Aufschlägen meiner Uniform meine Zugehörigkeit zur
Sanitätstruppe erkannte, eilte mit erhobenen Händen auf mich zu. Mich
für einen Arzt haltend, klammerte sie sich mit letzter Kraft an mich
Ärmsten, der ich weder Verbandmittel noch Arzneien bei mir trug, und
dem es verboten war, ihr zu helfen.
Dies alles aber wurde übertroffen durch den furchtbaren Anblick der
täglich wachsenden Schar verwaister Kinder. Am Rande der Zeltstadt
hatte man ihnen eine Reihe von Löchern in die Erde gegraben, die mit
alten Lappen bedeckt waren. Darunter saßen sie, Kopf an Kopf, Knaben
und Mädchen in jedem Alter, verwahrlost, vertiert, verhungert, ohne
Nahrung und Brot, der niedrigsten menschlichen Hilfe beraubt und vor
der Nachtkälte schauernd aneinandergedrängt, ein kleines Stückchen
glimmende Holzasche in der erstarrten Hand haltend, an dem sie
vergeblich versuchten, sich zu erwärmen. (...) Die Täler aller Berge,
die Ufer aller Flüsse sind von diesen Lagern des Elends erfüllt. Über
die Pässe des Taurus und Amanus, zieht sich dieser gewaltige Strom
eines vertriebenen Volkes, jener Hundert-tausende von Verfluchten." 2)
Während des Jahres 1915 und vor allem ab 1916, zu der Zeit, als Wegner
mit seiner Plattenkamera durch Mesopotamien gezogen war und auch
weitere Reporter und ausländische Soldaten - vor allem Amerikaner und
Deutsche - die Elendszüge beobachteten und darüber berichteten, trafen
in Aleppo verschiedene Depeschen von Innenminister Talaat ein, deren
Inhalt auf strengste Geheimhaltung des Mordens und auf Beseitigung der
unliebsamen Beobachter abzielte. Die Telegramme an die Präfektur Aleppo
lauteten:
22.9.1915
"Benachrichtigen sie die Beamten, dass sie ohne Furcht vor
Verantwortung darauf hinwirken müssen, den wirklichen Zweck zu
erreichen."
16.10.1915
"Die Exzesse, die von der Bevölkerung an den bekannten Personen verübt
worden sind, sollen nicht gerichtlich verfolgt werden. (...) Sagen sie
den Klägern, sie sollen ihre verlorenen Rechte an dem Ort ihrer
Verschickung einklagen."
11.1.1916
"Wir erfahren, dass ausländische Offiziere die Leichen der bekannten
Personen fotografieren. Ich empfehle Ihnen dringend, diese Leichen
sofort zu beseitigen. (...) Lassen Sie die Personen verhaften, die
solche Nachrichten übermitteln, und sie unter anderen Vorwänden an die
Kriegsgerichte ausliefern."
6.10.1915
"Rotten Sie mit geheimen Mitteln jeden Armenier der östlichen Provinzen aus, den Sie in ihrem Gebiet finden sollten."
Depesche an das Ittihad-Büro in Malatya: "Vernichten Sie die Armenier,
die in ihre Provinz geschickt und dort zusammengezogen wurden. Ich
trage die volle moralische und finanzielle Verantwortung."
Deutsche Soldaten und Offiziere, die gegen die Armemiermassaker
protestierten, wurden sofort heim ins Reich geschickt. Botschafter
Wangenheim verbot nicht nur Brotverteilung an die Verhungernden,
sondern jegliche Hilfsakte auf das Strengste.
Am 30. Oktober 1918 musste die osmanische Regierung erstmals in ihrer
600 jährigen Geschichte auf dem britischen Flaggschiff Agamemnon eine
bedingungslose Kapitulation unterzeichnen. Die türkische
Nachkriegsregierung unter Kemal Atatürk fand sich in der Folgezeit nur
schleppend und auf Drängen Englands zu Vergeltungsmaßnahmen gegen die
Schuldigen des Genozids bereit. Bereits am 31. März 1923 wurden alle
Armenienmörder amnestiert. Der jungtürkischen Fünfergruppe war die
Flucht gelungen. Ihnen hatte der deutsche Generaloberst Hans von Seeckt
Fluchthilfe zugesagt. Die meisten erreichten im Dezember über
verschlungene Wege Berlin. Eine Aufarbeitung des Genozids fand nicht
statt. Einige der Massenmörder funktionierte man sogar zu Märtyrern um.
Die armenische Partei der Daschnaken rief zur Selbstjustiz auf. Talaat
wurde 1921 in Berlin von dem Armenier Tehlirjan erschossen. Ex-Premier
Said Halim ereilte das Schicksal in Rom. Am 22. April 1922 fiel der
Mörder-Arzt Schakir einem Attentat zum Opfer. Ein ungewöhnliches Ende
fanden Mehmed Nazim und Ismail Dschumbolat. Atatürk ließ sie am
26.8.1926 erhängen. Allerdings waren nicht die Untaten gegen die
Armenier der Grund. Die beiden hatten versucht, ihn umzubringen.
Die Ausrottung der Armenier bietet gewissermaßen einen traurigen
Auftakt zu den Verbrechen des bluttriefenden 20. Jahrhunderts. Ehe
Wiesel sprach von einem Holocaust vor dem Holocaust. Die
Nationalsozialisten hatten ihre Lektion gelernt. Vielfach wurde bei der
Ausrottung der Juden analoge Taktiken angewendet. Die Überreste Talaats
ließen die braunen Machthaber 1943 auf dem türkischen Friedhof in
Berlin exhumieren. In Anwesenheit des damaligen Botschafters Franz von
Papen setzte man den vielfachen Massenmörder in einem Ehrengrab auf dem
Freiheitshügel in Istambul erneut bei.
Der Prozess gegen Tehlirjan endete mit Freispruch durch die Schöffen.
Die Begründung lautete: Unzurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt. Man
wollte damit eine Diskussion über die Hintergründe vermeiden. Als
Beobachter wohnte dem Verfahren der deutsch-jüdische damalige
Jurastudent M. W. Kempner bei. Er fungierte später, 1945 als
Hauptankläger der USA im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. 1980 bezog
er zu den Geschehnissen Stellung. Kempner schreibt:
"Die Ermordung von 1,4 Millionen christlicher Armenier auf Befehl der
türkischen Regierung war das erste Genozid-Programm dieses
Jahrhunderts. (...) Die Tat des armenischen Studenten Tehlirjan machte
die Welt auf eine besonders wichtige völkerrechtliche Entwicklung
aufmerksam: Nachdem die Armenier-Greuel während des ersten Weltkrieges
begonnen hatten, standen mutige Männer auf, die im Interesse der
Menschlichkeit offen gegen diesen Völkermord auftraten. Sie ließen sich
nicht von der unsinnigen These abschrecken, ein fremder Staat dürfe
nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates
eingreifen. (...)
Der Weg von diesem Holocaust, dem mindestens 1,4 Millionen christlicher
Armenier zum Opfer fielen, bis zum Holocaust (...) dauerte nur zwanzig
Jahre. (...) So spannt sich ein weiter Bogen von dem ersten Eingreifen
des Henry Morgenthau (sen.) während der Armenier-Greuel bis zum
Holocaust (...) Er spannt sich weiter bis zu dem heute allgemein
anerkannten Grundsatz, dass jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
auch wenn es staatlich sanktioniert wird, von jedem anderen Staat oder
dessen Staatsangehörigen bekämpft werden kann und sogar bekämpft werden
muss (...)."
Anmerkungen:
1) August Bernau, in Aleppo stationierter Vertreter der Vaccum Oil
Company of New York am 10.9.1916. Us State Departement Record Group 59,
867.4016/302
2) Wegner Armin T.: Das Zelt. Aufzeichnungen, Briefe, Erzählungen aus
der Türkei. In: DER WEG OHNHE UMKEHR, Berlin 1926. S. 85 f.
Verwendete Literatur:
Huberta von Voss: Porträt einer Hoffnung. Die Armenier. Verlag Hans Schiler. 2. Auflage 2005. ISBN3-89930-087-4
Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern, Carl Hanser Verlag 1993
Wolfgang Benz: Text des Vortrags vom 24. April 2004 in Frankfurt am Main
Ferner wurden private Erinnerungen von Dr. Dr. Fred Kurzer / London verwendet.
Die Adresse der Autorin:
Magdalena S. Gmehling, Nr. 7 Willmannsdorf, D - 92358 Seubersdorf, Tel.: 09497/902250 |