VOM GEBET
von
Leon Bloy
(aus: "Das Heil und die Armut", S.123 u. 29o.)
Man muß beten. Alles übrige ist eitel und dumm. Man muß beten, um die
Schrecken dieser Welt aushalten zu können, man muß beten, um rein zu
bleiben, man muß beten, um die Kraft zu erlangen, warten zu können. Es
gibt keine Verzweiflung, keine traurige Bitterkeit für den Menschen
mehr, der viel betet, das sage ich euch. Wenn ihr wüßtet, wie sehr ich
das Recht dazu habe. (...) Glaube, Hoffnung, Liebe und der Schmerz, der
ihrer aller Grundlage ist, sind Diamanten, und Diamanten sind selten.
(...) Sie sind sehr teuer (...): Sie kosten eben das Gebet, das in sich
selbst ein unschätzbares Kleinod ist, das man erwerben muß. (...)
"Wenn ihr betet, dann betet so", hat der Herr gesagt. "Verkauft und
gebt weg, verzichtet auf alles, was ihr besitzt", das sind strenge und
unvergängliche Vorschriften, die von der christlichen Feigheit, welche
sie für allzu herrisch hält, in gotteslästerlicher Weise ausgestrichen
worden sind mit Hilfe der gemeinen, jesuitischen Unterscheidung von
Gebot und Rat, die das Evangelium seit dreihundert Jahren in den
Schmutz zieht.
Man hat oft danach gefragt, was wohl das Jota in der Bergpredigt
bedeuten könnte, welches Jota doch lebendig sein und sich erfüllen muß,
ehe Himmel und Erde vergehen. Ein Kind könnte diese Frage beantworten.
Das Jota ist streng genommen die Herrschaft des Armen, das Königreich
der freiwillig Armen aus Wahl und Liebe. Alles übrige ist Eitelkeit und
Lüge, Götzendienst und Gemeinheit.
Und jetzt mögen die abtrünnigen und dummen Christen mich des Aufruhrs
oder der Anarchie anklagen, so lange sie wollen. Diese unvergleichliche
Ehre, alle die Leiber, die oben sind, und alle die Herzen, die unten
sind, zu Feinden zu haben, habe ich voraus gesehen und gewünscht. Die
größten Explosionen des Hasses und des Zornes können für mich nicht die
schreckliche Klage übertönen:
"Ach, der Himmel ist ja nicht für arme Leute wie wir." Bis in die
Todesstunde werde ich mich daran erinnern, daß ich diese Klage gehört
habe. Das ist das Elend, das Bewußtsein des Elends, das verglichen
werden kann mit dem "Wurm, der nicht stirbt". |