VOM LEID DER ANDEREN
(aus den Mitteilungen der IGFM - Frankfurt, Mai 1985, Nr.2.)
"DDR" - SOS - Kinder-in Not! -
Wo leben diese Kinder? In Äthiopien, Thailand, Südafrika? Nein, sie
leben in Deutschland von heute. Claudia, Beate, Enrico, Anja, Tine,
Anne und die anderen leiden keinen Hunger, aber die Fürsorge und
elterliche Liebe hat man ihnen geraubt. Der DDR-Staat nimmt keine
Rücksicht auf das seelische Leiden der Kinder, wenn die Eltern in
Gefängnisse gesteckt werden. Am Arbeitsplatz, manchmal auf der Straße
werden sie verhaftet - die Kinder warten zu Hause, der Vater oder die
Mutter müssen bald kommen! Aber sie kommen nicht - vielleicht in zwei
bis drei Jahren...
Was geschieht nun? Im Glücksfall dürfen die nahen Verwandten die Kinder
zu sich nehmen. Ansonsten - trostlose Jahre und harte Erziehung in
einem staatlichen Kinderheim im Sinne und für die Zwecke der Partei.
Das ist noch nicht alles. Mancher Vater und manche Mutter wird im
Gefängnis von einem DDR-'Rechtsanwalt' aufgesucht, der sie auffordert:
Geben Sie Ihre Tochter zur Adoption frei! Wer erschrickt und nachgibt,
sieht sein Kind nie wieder. Auch ein 'Volksgericht' kann entscheiden:
die Eltern sind nicht in der Lage, das Kind im sozialistischen Geiste
zu erziehen. Darum werden die Erziehungsrechte aberkannt.
Können die Eltern, die selbst zu Unrecht eingesperrt sind, sich dagegen
wehren, daß Kinder vor dem Zugriff des Staates geschützt werden? Kaum.
- Wer hilft ihnen? Niemand. - Laut neuesten Schätzungen gibt es in der
DDR 8000 bis 9ooo politische Gefangene, d.h. daß mindestens genauso
vielen Kindern die Eltern entrissen wurden. Ein schwerer
Schicksalsschlag traf die Kinder Enrico (15) und Anja (8) aus Halle /
Neustadt. Ende August 1984 hat die Polizei ihre Eltern Peter und Inge
Strache verhaftet. Unmittelbarer Anlaß war ein Besuch der Ständigen
Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Das Ehepaar wollte sich
über seine Rechte erkundigen, da es zwei Monate vorher einen
Ausreiseantrag gestellt hatte. Der Besuch wurde als schweres Verbrechen
eingestuft und nach § 100 StGB der DDR - "Landesverräterische
Agententätigkeit" - und ß214 - "Beeinträchtigung staatlicher oder
gesellschaftlicher Tätigkeit" - geahndet: für zwei Jahre und drei
Monate mußten die Eltern von Enrico und Anja ins Zuchthaus.
Verehrter Leser, Sie werden mit Recht betroffen ausrufen: Unsinn, so
etwas gibt es nicht. Leider doch. Dieses Unrecht geschieht heute in der
DDR. Hier noch ein Beispiel: Das junge Ehepaar Kerstin und Hans-Georg
Seifarth aus Jena-Ammerbach durfte sich von seinem eineinhalbjährigen
Sohn nicht verabschieden. Die Mutter konnte ihr Kind nicht zum letzten
Mal küssen. Die Staatspolizei griff zu, als die beiden die Ständige
Vertretung nach einem kurzen Informationsbesuch verließen und nach
Hause fahren wollten. Das war am 9. März 1984. Seitdem hat das Kind die
Eltern nicht gesehen; sie wurden zu je zwei Jahren Gefängnis
verurteilt. Vielleicht waren die beiden wichtige Geheimnisträger? Das
ist aber kaum möglich: er war Medizinstudent im sechsten Semester, sie
arbeitete als Kellnerin in einem Hotel. Nach neuesten Berichten ist
Berichten ist Kerstin Seifarth in dem berüchtigten Frauenzuchthaus
Hoheneck eingesperrt. Sie hat ihre Zähne verloren, der Körper ist
aufgeschwemmt, sie hat Wasser in den Beinen. Vor einem Jahr war sie
noch eine bildhübsche, 22-jährige junge Frau.
Dieses schreiende Unrecht geschieht heute im KSZE-Staat DDR, zehn Jahre
nach Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki. Dort und später
während der KSZE- Folgekonferenz in Madrid 1983 wurde vereinbart, daß
Besuche ausländischer Botschaften und Missionen nicht bestraft werden
dürften. Müßten die anderen Unterzeichnerstaaten, z.B. Schweden,
Frankreich, Großbritannien, nicht gegen die Mißachtung dieser
gemeinsamen Vereinbarung protestieren? Sie sollten es schon, aber sie
tun es leider nicht. (...)
UdSSR - Eine mutige Frau klagt an -
Es gehört ungeheuer viel Mut dazu, um in der Sowjetunion offen gegen
die Mißhandlung der politischen Gefangenen zu protestieren. Das tat
Larissa Bogoras, die Ehefrau eines politischen Gefangenen und Mutter
eines zwölfjährigen Sohnes. Ihr Mann Anatolij Martschenko ist ein
Bürgerrechtler der ersten Stunde. Er veröffentlichte mehrere Bücher im
Samisdat und mußte dafür insgesamt 15 Jahre in Haft verbringen. 1981
stand er wieder vor Gericht, 10 Jahre Straflager und 5 Jahre Verbannung
lautete das Urteil. Als Folge zahlreicher Mißhandlungen und Haftjahre
ist Anatolij Martschenko nur noch ein Wrack. Er ist fast völlig taub.
Seinen Sohn sah er nur selten. Wir zitieren aus dem Brief von Larissa
Bogoras an die Staatsführung:
"Ich erachte es als meine Pflicht, Ihnen Fakten mitzuteilen, die mir
bekannt wurden und die Sie aus offiziellen Quellen wahrscheinlich nicht
erfahren. Es handelt sich um die Behandlung politischer Häftlinge in
Gefängnissen und Lagern. Iwan Kowoljow (Lager WS-389/35) befindet sich
seit ungefähr neun Monaten ohne Unterbrechung im Karzer. Nur jeden
zweiten Tag bekommt er etwas zu essen, so daß er regelrecht hungert. Es
versteht sich von selbst, daß er außerordentlich erschöpft ist, unter
ständigen Schwindelanfällen leidet und vor Hunger immer wieder
ohnmächtig wird. In der gleichen Lage wie Iwan Kowoljow befindet sich
Walerij Senderow (dasselbe Lager), er ist seit sieben Monaten
ununterbrochen im Karzer. In dem gleichen Lager WS-389/35 haben zwei
Wärter in Gegenwart von Unterleutnant Wolkow am 9. Dezember 1983 meinen
Mann, Anatolij Martschenko, zusammengeschlagen: Sie warfen ihn zu
Boden, und nachdem sie ihm Handschellen angelegt hatten, schlugen sie
ihn mit dem Kopf auf den Boden, bis er das Bewußtsein verlor. Mehrere
Tage konnte er nicht vom Boden aufstehen (wofür er wieder bestraft und
seine Haft im Karzer bis zum 6. Januar verlängert wurde, also fast um
einen Monat). Nach der gleichen Methode - mit dem Kopf auf den Boden
schlagen! - verfuhr man mit einer Frau(!), mit Irina Ratuschinskaja
(Lager ShCh 385/3-4).
Auch sie schleppten die Wärter bewußtlos in den Karzer. Im Lager
WS-389/37 wurde Jurij Orlow mißhandelt. Anderthalb Monate schlug man
Sergej Chodorowitsch in seiner Zelle in der Butyrka in Moskau. (...)
Ich bitte Sie, nutzen Sie Ihre Macht so, daß es unmöglich wird,
Menschen mit dem Kopf auf den Boden zu schlagen, sie durch Karzerhaft
so zu entkräften, daß sie vor Hunger ohnmächtig werden, damit Ihre
Gefängnisse und Lager nicht Folterkammern genannt werden und die
Gefängniswärter nicht Folterknechte." Larissa Iossifowna Bogoras,
Moskau, B-261, Leninskij Prospekt 85, kw.3.
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