DIE PASTORAL-REGELN DES HL. PAPSTES GREGOR D. GR.
(übers, v. Benedikt Sauter O.S.B., Freiburg / Brsg. 19o4)
III. Teil: WIE EIN GUTER UND FROMMER SEELSORGER SEINE UNTERGEBENEN LEHREN UND ERMAHNEN MUSS.
VORWORT:
Nachdem wir nun gezeigt haben, wie der Seelenhirte sein soll, wollen
wir jetzt darlegen, wie er lehren müsse. Denn, wie schon lange vor uns
Gregor von Nazianz, ehrwürdigen Angedenkens, gelehrt hat, paßt nicht
für alle eine und dieselbe Ermahnung, weil ja auch nicht alle ihren
Sitten nach gleich beschaffen sind. Oft schadet den einen, was den
anderen nützlich ist. Dieselben Kräuter, welche den einen Tieren zum
Futter dienen, sind oft für die anderen tödlich, und ein leises Zischen
besänftigt die Pferde, während es die jungen Hunde reizt. Eine Arznei
lindert die eine Krankheit, verstärkt hingegen eine andere, und das
Brot, welches das Leben der Starken kräftigt, tötet jenes der Kleinen.
Deshalb muß die Ansprache der Lehrer nach der Beschaffenheit der
Zuhörer sich richten, damit sie den Bedürfnissen der Einzelnen
entspreche und doch zugleich der Kunst gemeinschaftlicher Erbauung
Rechnung trage. Denn was sind die aufmerksamen Herzen der Zuhörer
anders als, um mich so auszudrücken, auf der Zither aufgezogene
Saitenstränge, welche der Zitherspieler nicht in gleicher Weise
anschlägt, damit sein Spiel nicht in sich selbst uneins werde? Deshalb
geben die Saiten einen harmonischen Klang, weil sie zwar mit demselben
Stäbchen (d.i. das plectrum), nicht aber mit dem gleichen Nachdruck
angeschlagen werden. So muß auch jeder Lehrer, um alle in der einen
Tugend der Liebe zu erbauen, zwar mit ein und derselben Lehre, aber
nicht mit ein und derselben Ermahnung die Herzen seiner Zuhörer
berühren.
1. WIE GROSSE VERSCHIEDENHEIT MAN BEI DER PREDIGTKUNST ANWENDEN MUSS.
Anders sind zu ermahnen die Männer und anders die Frauen; anders die
Jünglinge, anders die Greise; anders die Armen, anders die Reichen;
anders die Fröhlichen, anders die Traurigen; anders die Untergebenen,
anders die Vorgesetzten; anders die Diener, anders die Herren; anders
die Weisen dieser Welt, anders die Stumpfsinnigen; anders die
Unverschämten, anders die Schüchternen; anders die Kecken, anders die
Kleinmütigen, anders die Ungeduldigen, anders die Geduldigen; anders
die Wohlwollenden, anders die Mißgünstigen; anders die Herzensgeraden,
anders die Verschlagenen; anders die Gesunden, anders die Kranken;
anders diejenigen, welche aus Furcht vor der Strafe unschuldig leben,
anders diejenigen, welche so in der Bosheit verhärtet sind, daß sie
auch durch Strafen nicht gebessert werden; anders die zu Schweigsamen,
anders die der Geschwätzigkeit Ergebenen; anders die Trägen, anders die
Eilfertigen; anders die Sanftmütigen, anders die Zornigen; anders die
Demütigen, anders die Stolzen; anders die Hartnäckigen, anders die
Unbeständigen; anders die Schwelger, anders die Enthaltsamen; anders,
die das Ihrige barmherzig mitteilen, anders, die fremdes Gut an sich zu
reißen suchen; anders, die weder fremdes Gut an sich reißen, noch das
Ihrige hergeben; anders, die zwar von ihrem Eigentume mitteilen, aber
dabei doch nicht aufhören, fremdes Gut sich anzueignen; anders die
Zwistigen, anders die Versöhnten; anders die Händelstifter, ander die
Friedfertigen; anders, die, welche die Worte des göttlichen Gesetzes
nicht richtig verstehen, anders die, welche sie zwar wohl verstehen,
aber nicht demütig im Munde führen; anders die, welche auf würdige Art
zu predigen imstande wären, aber aus allzu großer Demut dies nicht zu
tun wagten, anders diejenigen, welche ihre Unvollkommenheit und ihre
Jugend vom Predigen abhalten sollte, die aber doch ihr voreiliger Eifer
dazu antreibt; anders diejenigen, die in zeitlichen Unternehmungen
Glück haben, anders jene, die zwar nach den Gütern dieser Welt
Verlangen tragen, aber an der Mühe der Widerwärtigkeiten ermüden;
anders die Verehelichten, anders die Ledigen; anders die mit der Sünde
des Fleisches bekannt Gewordenen, anders, die damit unbekannt sind;
anders diejenigen, welche Tatsünden, anders jene, welche Gedankensünden
zu beweinen haben; anders, die ihre Vergehen zwar beklagen, aber sie
doch nicht aufgeben, anders, die sie zwar aufgeben, aber nicht
beklagen; anders jene, welche sich ihrer bösen Werke noch rühmen,
anders, die sich zwar darüber anklagen, aber sie doch nicht aufgeben;
anders, die von einer plötzlichen Begierde überwältigt werden, anders,
die mit Überlegung von der Sünde sich fesseln lassen; anders solche,
die sehr oft, wenn auch nur ganz kleine Fehler begehen, anders jene,
die sich vor kleinen Fehlern in acht nehmen, aber bisweilen in größere
geraten; anders, die das Gute nicht einmal in Angriff nehmen, anders,
die das begonnene Gute nicht zu Ende führen; anders, die das Böse
heimlich tun, das Gute aber öffentlich; anders, die ihre guten Werke
geheim halten, aber doch durch gewisse Handlungen eine üble Meinung von
sich zulassen. Doch, was nützt es, dies alles zusammen aufzuzählen,
wenn wir nicht bei jedem einzelnen Punkte, so gut es in Kürze geschehen
kann, die Art und Weise auseinandersetzen, in welcher die Ermahnung zu
geschehen hat?
Anders also sind Männer, anders Frauen zu ermahnen; denn jenen ist
Schweres, diesen Leichteres aufzuerlegen; jenen sollen große Dinge
Übung verschaffen, diesen leichte Dinge auf anziehende Art zur
Bekehrung verhelfen. Anders sind Jünglinge, anders Greise zu ermahnen;
denn jene bringt häufig eine strenge Ermahnung auf den rechten Weg,
diese aber macht eine freundliche Bitte zur Besserung aufgelegt. Es
steht ja geschrieben: "Einen alten Mann sollst du nicht hart anlassen,
sondern bitte ihn, wie einen Vater" (1 Tim. 5,1).
2. WIE MAN ARME UND WIE MAN REICHE ERMAHNEN SOLL.
Anders muß man Arme, anders Reiche ermahnen; jenen nämlich müssen wir
die Hilfe des Trostes gegen die Trübsal, diesen aber Furcht als
Gegenmittel gegen den Stolz beibringen. Der Gemeinde der Armen sagt ja
der Herr durch den Propheten: "Fürchte dich nicht, denn du wirst nicht
zuschanden werden" (Is 54,4). Gleich darauf ruft er ihr freundlich zu:
"Du Arme, vom Wetter bestürmte" (Is 54,11). Und wiederum tröstet er sie
mit den Worten: "Ich habe dich auserwählt im Ofen der Armut" (Is
48,lo). Dagegen sagt Paulus seinem Schüler von den Reichen: "Den
Reichen dieser Welt gebiete, nicht stolz zu sein und nicht zu vertrauen
auf unsicheren Reichtum" (1 Tim 6,17). Hierbei ist wohl zu beachten,
daß der Lehrer der Demut bei Erwähnung der Reichen nicht sagt "bitte",
sondern "gebiete"; denn so größerem Rechte anbefohlen, je mehr sie
selbst in vergänglichen Dingen zu stolzen Gedanken sich erheben. Von
diesen sagt der Herr im Evangelium: "Weh euch, ihr Reichen, denn ihr
habt eueren Trost dahin!"(Lk., 6,24) Denn da sie die ewigen Freuden
nicht kennen, trösten sie sich mit ihrem Überfluß im gegenwärtigen
Leben. Jenen also muß man Trost bieten, welche im Glüh-Ofen der Armut
geprüft und geläutert werden. Den andern aber muß man Furcht einflößen,
denen nämlich, welche der Trost zeitlicher Ehre aufbläht; denn jene
sollen erkennen, daß sie Reichtümer besitzen, die sie nicht sehen,
diese aber wissen, daß sie die Reichtümer, die sie vor Augen haben,
nicht behalten werden.
Häufig jedoch ändert die sittliche Beschaffenheit gleichsam den Stand
der Personen, so daß ein Reicher demütig, ein Armer aber hochmütig ist.
In diesem Fall muß die Sprache des Predigers sogleich nach dem Leben
des Zuhörers sich richten und an dem Armen den Hochmut um so strenger
strafen, als nicht einmal das Los der Armut denselben beugt; umso
freundlicher dagegen muß er die Demut des Reichen anerkennen, da nicht
einmal die Lockung des Überflusses sie erhebt.
Bisweilen muß man aber auch einen stolzen Reichen durch freundliche
Ermahnung besänftigen; denn verhärtete Wunden werden meistens durch
Linderungsmittel weich, und die Raserei der Wahnsinnigen wird häufig
durch die Freundlichkeit des Arztes geheilt. Wenn man sich mit aller
Güte zu ihnen herabläßt, dann mildert sich das Übel der Raserei. Es
darf nicht übersehen werden, daß David, als den Saul ein böser Geist
ergriff, die Zither zur Hand nahm und durch sein Spiel die Tobsucht
Sauls beruhigte (1 Kn 18,lo). In Saul stellt sich uns der Stolz der
Mächtigen dar, in David aber das demütige Leben der Heiligen. Wie also
die Tobsucht des vom unreinen Geist ergriffenen Saul durch Davids
Saitenspiel besänftigt wurde, so ist's des Hirten würdig, das Herz der
Mächtigen, wenn es durch Stolz in Wut gerät, durch die Ruhe seiner
Ansprache wie durch den Wohllaut einer Zither wieder zur Besinnung zu
bringen.
Zuweilen aber muß man bei der Zurechtweisung der Mächtigsten dieser
Welt zuerst gleichnisweise verfahren, als wollte man sie in der Sache
eines anderen um ihre Meinung fragen. Wenn sie dann gegen diesen
vorgeschützten anderen das richtige Urteil gefällt haben, dann kann man
auf passende Weise ihnen ihre eigene Schuld vorhalten. So wird der auf
zeitliche Macht pochende Geist sich nicht gegen den Zurechtweisenden
erheben, sondern vor seinem eigenen Urteil den stolzen Nacken beugen
und auf alle Selbstbeschönigung verzichten, weil solche durch das mit
eigenem Munde gesprochene Urteil unmöglich gemacht ist. So kam der
Prophet Nathan, um den König anzuklagen, gab sich aber den Anschein,
als verlange er ein Urteil in der Sache eines Armen gegen einen
Reichen. So sollte der König zuerst das Urteil fällen und dann erst die
ihn betreffende Anklage vernehmen, damit er den gerechten
Urteilsspruch, den er selbst gefällt hatte, nicht mehr zurücknehmen
könnte (2 Kn 12,4). Der heilige Mann also zog sowohl den Sünder als
auch den König in Betracht und war bestrebt, auf kluge Weise zuerst den
kühnen Frevler in die Hand zu bekommen und dann erst durch offenen
Vorhalt ihn zu vernichten. Er gab eine Weile nicht zu erkennen, wen er
suche, aber auf einmal schlug er den nieder, den er schon in seinen
Händen hatte. Zu langsam hätte er vielleicht den Streich geführt, wenn
er gleich im Anfang der Unterredung die Schuld hätte strafen wollen;
indem er aber ein Gleichnis vorausschickte, verschärfte er den Vorwurf,
den er verborgen gehalten hatte. Der Arzt war zum Kranken gekommen; er
sah, daß die Wunde aufgeschnitten werden müsse, zweifelte aber, ob der
Kranke die notwendige Geduld besitze. Er verbarg daher das chirurgische
Messer unter dem Gewand; plötzlich aber zog er es heraus und stieß es
in die Wunde, so daß der Kranke eher den Schnitt fühlte, als er das
Messer sah, damit er sich nicht weigere, es zu fühlen, wenn er es schon
vorher gesehen hätte.
3. WIE MAN FRÖHLICHEN UND WIE MAN TRAURIGEN ZUSPRECHEN MUSS.
Anders muß man Fröhliche, anders Traurige ermahnen. Die Fröhlichen muß
man an die Trauer erinnern, welche aus der Strafe erfolgt; die
Trauernden aber muß man ermahnen, der Freuden zu gedenken, welche ihnen
der Verheißung gemäß aus dem Reiche erwachsen. Die Fröhlichen sollen
aus der Strenge der Drohungen erkennen, was sie zu fürchten haben - die
Trauernden die Seligpreisung und göttliche Belohnung vernehmen, auf die
sie hoffen dürfen. Jenen wird gesagt: "Wehe euch, die ihr jetzt lacht,
denn ihr werdet weinen" (Lk. 6,25). Diese aber vernehmen aus dem Munde
desselben göttlichen Meisters das Wort: "Ich werde euch wiedersehen und
euer Herz wird sich freuen und eure Freude wird niemand von euch
nehmen" (Joh. 16,22).
Es gibt aber auch solche, deren Fröhlichkeit oder Traurigkeit nicht von
äußeren Dingen herrührt, sondern in ihrer Naturanlage ihren Grund hat.
Diese muß man darauf aufmerksam machen, daß besonderen Naturanlagen
gewisse Fehler entspringen. So liegt den Fröhlichen die Wollust, den
Traurigen der Zorn nahe. Deswegen muß ein jeder nicht bloß erwägen, was
sein Temperament verursacht, sondern auch, zu welchem Laster es ihn
hindrängt, damit er nicht, weil er gegen das, was er darunter leidet,
nich kämpft, dem Übel unterliege, von dem er sich frei glaubt. |