EINIGES ZUR PERSON DES HERRN DR. ERICH VERMEHREN ALIAS FRIEDENAU ALIAS ERIC DE SAVENTHEM,
PRÄSIDENT DER INTERNATIONALEN FÖDERATION "UNA VOCE"
aus:
Höhne, Heinz: "Canaris Patriot im Zwielicht" München 1976, 1984, S.521-525.
Vorbemerkung:
Zu Anfang des Jahres 1944 versuchte das deutsche Außenministerium unter
Rippentrop den Chef der Abwehr, Admirai Canaris, dadurch in Mißkredit
zu bringen, daß es die durch Agenten der Abwehr provozierten Attentate
in neutralen Staaten an Hitler weitermeldete. Im Zusammenhang mit den
Aktionen des Außenministeriums gegen die Abwehr ist auch die Desertion
des Abwehrgefreiten Dr. Kurt Vermehren (alias Friedenau alias Eric de
Saventhem) aus Istanbul zu den Alliierten zu sehen, denn dadurch
erhielt das Mißtrauen gegen Mitglieder der Abwehr neue Nahrung.
Ribbentrop hatte seine Falle geschickt aufgestellt: Kam es noch einmal
zu einem Sabotageakt in Spanien, so mußte eine solche Tat Hitler
unmittelbar herausfordern - mit katastrophalen, existenzbedrohenden
Folgen für die Abwehrführung. Doch diesmal hatte der Außenminister
etwas zu schlau operiert. Auf Hitlers Schreibtisch lag schon ein
Bericht Kaltenbrunners, der einer neuen Panne der Abwehr galt: der
Flucht des Istambuler Abwehr-Gefreiten Vermehren zu den Alliierten.
Auf sieben Seiten hatte da der RSHA-Chef unter dem Datum des 7. Februar
seinem Führer gemeldet: "Der SD-Beauftragte in Istanbul berichtet über
eine deutsche Verratsquelle in der Türkei, der, soweit bisher bekannt,
folgende Personen angehören: 'Rechtsanwalt Dr. Kurt Vermehren jun. und
Frau, eine geborene Gräfin Plettenberg, Dr. Hamburger, Herr und Frau
Kletschowski, der Vertreter der Semperit-Werke Istanbul Herock, der
juristische Direktor der Deutschen Bank Dr. Barth und der Direktor der
Gummi-Werke Semperit Wien, Josef Ridiger. Dringend verdächtig sind
ferner der Gehilfe des Luftattaches Major Schenker-Angerer nebst Frau
und Tochter; Frau Henschel, ehem(alige) Gräfin Wurmbrand.1 Die
Genannten sind sämtlich Angehörige der AST Istanbul bzw. stehen zu ihr
in engen Beziehungen." (Vgl. Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei
und des SD, betr.: Deutsche Verratsquelle in der Türkei, 7. Februar
1944; NA, T-12o/784.)
Hitler glaubte in einen Abgrund von Landesverrat zu blicken, meldete
doch der SD-Beauftragte, SS-Obersturmbannführer Wolff, die Vermehrens
seien bereits zu den Briten übergelaufen und die anderen Verdächtigen
würden ihnen bald folgen. Und was konntensie nicht alles verraten!
Kaltenbrunner wußte es genau: "Vermehren hat bereits seit 3 Monaten
eine Verrätertätigkeit für Major Elliot und Major Gripp vom britischen
ND ausgeübt. Vermehren hat weiterhin die Absicht, im Londoner Rundfunk
aktive Propaganda gegen Deutschland zu treiben. Die Engländer wollen
aus diesem Fall eine Sensation machen, zumal die Gräfin Plettenberg mit
(dem Botschafter) von Papen verwandt ist." (ebd.)
Der Diktator stutzte, ein Name war ihm plötzlich aufgefallen. Er las
noch einmal: "Dr. Vermehren ist seit Dezember 1942 Mitarbeiter und
Vertrauter des Leiters der AST I in Istanbul Dr. Leverkuehn." (ebd.)
Der Name kam Hitler nur allzu bekannt vor. Haupmann Paul Leverkuehn,
Leiter der KO-Nebenstelle Istanbul - war das nicht der Canaris-Freund
und Papen-Vertraute, über den schon im Frühjahr 1943 das Gerücht
gegangen war, er stehe mit Amerikanern in geheimer Verbindung und wolle
einen Sonderfrieden mit den Westmächten in die Wege leiten? (Vgl.
Abshagen, S.367.) Seither konnte Hitler diesen Namen nicht mehr hören,
schon seine Nennung genügte, ihn in unbeherrschte Wut zu versetzen. Und
jetzt war ein Mitarbeiter dieses Canaris-Freundes zum Feind
übergelaufen, ja seine ganze Dienststelle offenbar ein einziges
Verräternest. Kaltenbrunner schrieb es selber: "Schwerstens belastet
werden durch diese Angelegenheiten die AST Istanbul, aber auch die
anderen militärischen Dienststellen in der Türkei. Die Geamtarbeit der
AST ist aufgedeckt, und eine Weiterarbeit erscheint unmöglich." (Vgl.
Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, 7.2.1944.)
Hitler war über die neue Abwehrpanne so ungehalten, daß er mit dem
Gedanken spielte, sich von Canaris zu trennen. Am 9. Februar sagte er
zum erstenmal bei einer Besprechung zu Himmler, so könne es mit Canaris
und der Abwehr nicht mehr weitergehen. (Vgl. Irving, S.558) Der SS-Chef
wird sofort gespürt haben, daß jetzt die Chance nahe war, auf die er
und vor allem Kaltenbrunner und Schellenberg so lange gewartet hatten:
die Abwehr in eigene Regie zu nehmen. Doch Himmler war zu vorsichtig,
um die Initiative zu ergreifen. Er überließ es dem Führer, sich
weiterhin über die Verräter in der Abwehr zu erregen.
Der Diktator wußte nicht, daß die Angabe des SD über den Umfang des
Verrats in Istanbul ebenso ungenau war wie die Personenbeschreibung des
angeblichen Leverkuehn-Vertrauten. Denn der Gefreite Dr. jur. Erich
Maria Vermehren, geboren am 23. Dezember 1919, Rechtsanwalt aus Lübeck,
ehemaliger Rhodes-Scholar (Cecil Rhodes, 1853- 19o2, war der
energischste und rücksichtsloseste Verfechter englischer Ideen in
Südafrika) und wegen einer Schußverletzung aus Kindertagen nur zu den
Landesschützen eingezogen, dann aufgrund seiner Sprachkenntnisse vom
OKW in der "geistigen Betreuung" britischamerikanischer
Kriegsgefangener eingesetzt und schließlich Schreiber im Büro
Leverkuehn, hatte schwerlich Sinn für das Spionagehandwerk. "Meine
Stellung in der KO-Nebenstelle Istanbul war viel zu unbedeutend, als
daß meine Desertion allein schwerwiegende Folgen hätte zeitigen
können", berichtet Eric M. de Saventhem, wie sich Vermehren heute
nennt, und ein ehemaliger Kollege von der KO bestätigt, es habe damals
"keinen harmloseren Menschen in untergeordneter Stellung in einer
ohnehin schon nicht mehr funktionierenden Geheimdienststelle gegeben"
als den jungen Vermehren. (Vgl. Rittlinger, S.246; schriftliche
Mitteilung von Herrn Dr. Eric de Saventhem, 17. Mai 1976.)
Nicht geheimdienstliche, sondern juristische Aufgaben hatten Leverkuehn
Ende 1942 veranlaßt, sich des Sohns seines alten Hamburger Kollegen
Vermehren zu erinnern und dessen Versetzung nach Istanbul an die
dortige KO zu betreiben. Der im internationalen Schiffahrtsrecht
bewanderte Erich Vermehren sollte Deutschlands Ansprüche auf die
Donauflott vertreten, deren Schiffe von den Türken beschlagnahmt worden
waren und nun in langwierigen Prozessen zurückerworben werden mußten.
Das füllte Vermehrens Alltag jedoch nicht völlig aus. Leverkuehn
beschäftigte ihn daher nebenbei mit allerlei Schreibarbeiten, die kaum
aufregend waren. (Mitteilung Dr. E. de Saventhems.)
Ihm wäre schwerlich etwas so Dramatisches wie ein Übertritt zu den
Alliierten eingefallen, hätte er nicht an seiner Seite eine energische,
acht Jahre ältere Frau gehabt, die aus strenger Katholizität es nicht
länger sittlich für vertretbar hielt, dem braunen System zu dienen. Die
Gräfin Elisabeth Plettenberg, aus westfälischem Uradel, seit 1941 mit
Vermehren verheiratet, Mitarbeiterin des Hencke-Dienstes und seit
Jahren mit katholischen Widerstandskreisen in Verbindung, gab einer
Beseitigung des Hitler-Regimes aus innerdeutscher Kraft keine Chance
mehr. Auch Vermehren, dessen "zunächst mehr instinktive und nahezu
ererbte Gegnerschaft gegen das Regime" nach eigener Interpretation
durch die Konversion zum Katholizismus "eine weltanschauliche
Tiefendimension" erhalten hatte, sah nur noch die Möglichkeit, das
NS-System von außen zu überwinden.
Wer von den beiden Vermehren zuerst den Entschluß gefaßt hat, auf die
Seite der Alliierten zu wechseln, läßt sich nicht mehr rekonstruieren.
Erich Vermehren will der Gedanke im Sommer 1943 gekommen sein, seine
Kollegen und die Gestapo hingegen nahmen an, die Initiative sei von der
willensstärkeren Frau ausgegangen. Unbestritten ist zumindest, daß
Vermehren bei seinem ersten Heimaturlaub im November 1943 mit der
Ehefrau übereinkam, es gebe für sie als NS-Gegner keinen anderen Ausweg
als den Übertritt zu den Briten. "Ich war naiv genug zu glauben", so
Vermehren, "daß selbst meine bescheidenen Kenntnisse dazu beitragen
könnten, daß das politische Konzept der zukünftigen Besatzer der
innerdeutschen Wirklichkeit besser angepaßt... würde. (Auskunft de
Saventhem)
Elisabeth Vermehren ging nicht ohne Umsicht ans Werk. Sie verteilte ihr
Guthaben auf die Bankkonten jüngerer Geschwister und ließ sich von
Marschall von Bieberstein einen Auftrag für eine Erkundungsmission in
der Türkei geben, der sich später in der apologetischen Sprache des
AA-Staatssekretärs Gustav Adolf Baron Steengracht von Moyland,
Weizsäckers Nachfolger, so las: "Seit der Reise des Bischofs Spellmann
in die Türkei bezog der Amerikanische Präsident Informationen aus einem
gewissen, in der Türkei bekannten Kreis. Aus diesem Kreis etwa
bekanntgewordene Nachrichten über Wahlaussichten Roosevelts usw.
sollten gegebenenfalls zur Kenntnis des Auswärtigen Amts über Frau
Vermehren gelangen. Herr Vermehren hatte erklärt, daß bei ihm und
später auch bei seiner Frau Material anfallen würde, das für die Abwehr
kein Interesse habe, für die außenpolitische Information jedoch wichtig
sein könne. (Aufzeichnung Steengrachts für Ribbentrop, 6.5.1944; NA,
T-12o/784.) Mit diesem AA-Auftrag hoffte Frau Vermehren, die "Grenz-
und Sichtvermerkssperre" unterlaufen zu können, die im Oktober 1943 die
Gestapo gegen sie verhängt hatte und die einem Ausreiseverbot
gleichkam. Mitte Dezember reisten beide Vermehren ab. Kaum aber hatte
Leverkuehn von dem Reiseprojekt erfahren, da alarmierte er die
Abwehrstellen in Bulgarien mit der Order, Frau Vermehren anzuhalten und
ins Reich zurückzuschicken. Tatsächlich stoppte eine Streife der
Geheimen Feldpolizei die Frau an der bulgarisch-türkischen Grenzstation
Svilengrad; Hauptmann Hans Hußl, Leiter der zuständigen KO-Nebenstelle,
nahm Frau Vermehren den Paß ab und schickte sie zur KO Sofia zurück,
während Erich Vermehren weiterreiste.
Doch Frau Vermehren fand neue Helfer auf der Deutschen Gesandtschaft in
Sofia. Deren Kulturattache, Gesandtschaftsrat Garben, ließ sich
bewegen, im Auswärtigen Amt Marschall von Bieberstein anzurufen, und
der riet nun, sie solle mit einer Kuriermaschine des
Reichsluftfahrtministeriums, in der Plätze für diplomatisches Personal
reserviert seien, nach Istanbul fliegen, um sich so der lästigen
Grenzkontrolle zu entziehen. Die Gräfin befolgte den Rat, am 24.
Dezember traf sie in Istanbul ein. (Vgl. Hußl, Hans: Flucht des
Vermehren mit seiner Frau, Aufzeichnung vom 2.7.1965 - im Besitz von
Herrn Dr. Gert Buchheit; Stellungnahme des Chefs der Sicherheitspolizei
und des SD vom 2o.4.1944.) Leverkuehn war entsetzt und witterte
Schwierigkeiten mit der Gestapo; daraufhin bewog er Vermehren, sich in
einer schriftlichen Meldung formal von der Aktion seiner Frau zu
distanzieren. "Ich melde", schrieb Vermehren am 27. 12. an die Leitung
der KO Naher Osten, "daß meine Frau am 24.12.1943 ohne mein Vorwissen
auf ausdrückliche Anweisung des Auswärtigen Amtes, bei dem sie
angestellt ist, mit der Kuriermaschine in Istanbul eingetroffen ist.
Meine Frau teilt mir mit, daß sie hier Aufträge, die ihr das Auswärtige
Amt erteilt hat, zu erfüllen habe. Es sei vorgesehen gewesen, daß sie
alsbald von hier nach Ankara weiterfahren würde. Ihr Gesundheitszustand
nötige sie jedoch, sich hier in ärztliche Behandlung zu begeben,
notfalls müsse sie für einige Wochen ins Krankenhaus."
Wenige Tage später kontaktierte Vermehren die Istanbuler Station des
Secret Intelligence Service und bot seinen Übertritt zu den Alliierten
an - unter drei Bedingungen: Er und seine Frau würden nur kommen, wenn
sie nicht an Kampfmaßnahmen der Alliierten teilnehmen müßten, ihre
Flucht als Entführung getarnt und sie "bei den Planungsarbeiten für die
Nachkriegszeit eingesetzt" würden. Die Briten stimmten zu. "Der
wohldurchdachte Kidnapping-Plan der Engländer", berichtet Vermehren,
"ließ uns zuversichtlich hoffen, daß die Freiwilligkeit unseres
Übertritts bis Kriegsende geheim bleiben würde." Argloser konnte wohl
kaum ein Abwehrmann dem Geheimdienst einer feindlichen Weltmacht
gegenübertreten: Der Übertritt der beiden Vermehren hatte für die
Alliierten nur Sinn, wenn er sich propagandistisch ausschlachten ließ -
und zu dem Propagandamanöver benötigten die Briten gerade freiwillige
Überläufer, Gesinnungstäter, die sich in der Öffentlichkeit als Zeugen
für die Verderbnis und Hoffnungslosigkeit des Hitler-Regimes verwenden
ließen.
Kein Wunder, daß die Kidnapper-Version rasch zerbröckelte. Am 27.
Januar 1944 ließen sich Erich und Elisabeth Vermehren von britischen
Geheimdienstlern in Istanbul 'entführen' und nach Izmir bringen, wo sie
auf einem Transporter mit griechischen Flüchtlingen unterkamen und nach
Syrien, von dort mit einem Flugzeug nach Kairo gelangten. Knapp drei
Wochen später indes sahen sich die beiden Flüchtlinge der "entsetzlich
bitteren Wahrheit" (Vermehren) konfrontiert: Alle Welt kannte ihre
Desertion. Am 16. Februar brachte die Basler "Nationalzeitung" eine
erste Meldung über die Vermehren-Flucht, 13 Tage später wurde sie
gleichsam offiziell von dem BBC-Sprecher Frazer bestätigt, am 3. März
funkte Radio Kairo eine antinazistische Erklärung Vermehrens in den
Äther.
Der Fall erregte solches Aufsehen, daß später Historiker und
Canaris-Biographen einstimmig behaupteten, der Fall Vermehren sei Anlaß
und letzter Anstoß des Sturzes von Canaris gewesen. Goebbels soll dem
Fall sogar "kriegsentscheidende Bedeutung" beigemessen haben, und in
allen deutschen Zeitungen und im Rundfunk sei die Affäre "groß
angeprangert" worden. Nichts davon trifft zu. Bis zur Stunde des
Canaris-Sturzes war in der Öffentlichkeit nichts über den Fall bekannt,
und selbst nach den propagandistischen Breitseiten der Alliierten
beschlossen Auswärtiges Amt, OKW und Propagandaministerium, es "solle
auf dem Propagandawege vorläufig nichts veranlaßt werden, da man sonst
der Angelegenheit unnötig noch größere Resonanz geben würde". Auch für
Hitler war die RSHA-Meldung vom 7. Februar kein Anlaß, Canaris sofort
abzusetzen. Nur einer nutzte die Panne augenblicklich aus: der
Außenminister. |